Buch zum Film zum Sachbuch zur Terrorgruppe


Katja Eichinger: Der Baader Meinhof Komplex. Das Buch zum Film. Hamburg: Hoffmann und Campe, 224 Seiten, € 14,95
ISBN 978-3455500967

Ja, wieder der Terz – was Bernd Eichingers und Uli Edels Film DER BAADER MEINHOF KOMPLEX für Haue bekam, erhält auch gleich das Buch mit. Ist ja schließlich von Katja Eichinger, der Frau des Produzenten und Drehbuchautoren. Da kann man natürlich prächtig seine Späße drauf machen. Überhaupt witzeln. „Das Buch zum Film zum Sachbuch“. Eine Wonne, ein Ulk.

Schon sitzt man wieder da und muss das Buch zum Film verteidigen wie zuvor schon den Film selbst, obwohl man es gar nicht will (und beide es nicht wirklich brauchen oder verdienen). Nur: Diese fast reflexartige Pauschal- und Vorweghäme ist so öde und ermüdend, dass man sich unversehens dem „BMK“-Film und -Buchzumfilm fünfzig Milliarden mehr begeisterte Zuschauer und Leser und Käufer und Eintrittbezahler und DVD-Ersteher wünscht und obendrein den Oscar hier und den Pulitzerpreis da, damit das Rumgezicke derer, die doch so viel besser wissen, wie „es“ gewesen ist, keine Luft mehr bekommen vor lauter Kammerflimmern.

Natürlich ist auch das Buch nicht wirklich die Wucht, um es mal so zu sagen. Teilweise putzig plaudert Frau Eichinger vor sich hin. Wobei ihr zugute zu halten ist, dass sie sich und ihr subjektive Position nicht zu kaschieren sucht. Von der Idee, der Produktion und Drehbucharbeit über die Dreharbeiten geht der Bericht, unterbrochen von Statements von – natürlich – Aust, Eichinger, Edel sowie Künstlern hinter und vor der Kamera.

In der zweiten Hälfte wiederum beinhaltet das Buch zum Film zur Terrortruppe Eichingers Drehbuch, was für die Auseinandersetzung mit dem Film und „seiner“ Geschichte durchaus eine nützliche Sache ist. Allein schon, weil zu (ob erfolgreichen oder deutschen) Filmen hierzulande nach wie vor noch zu wenig an Drehbuchmaterial publiziert wird.

Man kann sicherlich streiten, über Sinn, Nutzen und Tiefe von Informationen, wie die Schwierigkeit, die das Auffinden welcher Originalsonnenbrillen der Zeit bereiten oder dass Eichinger Martina Gedeck in einem Münchner Restaurant für die Rolle der Meinhof angesprochen hat. Einer Gedeck, die dann Sätze zu lesen gibt wie:

„Es gibt viele Fragezeichen, was die Person Ulrike Meinhoff betrifft. Auch ihre Zeitgenossen sehen sie aus unterschiedlichen Blickwinkeln.“ Ja. Hhm. Sowas.

Vieles verwirbelt so allzu schnell zu einem Gefühl von Boulevard-Ernsthaftigkeit, irgendwo zwischen Luftleere und Banalität, Besinnlichkeit und Besinnungslosigkeit – oder schlicht leicht zu Wissendem (so wenn die Darsteller über ihre Figuren sprechen). Das alles versaubeutelt das Buch aber nicht. Denn das ganze Angestrengte verleiht dem Buch auch das Gefühl, dass sich diverse Macher des fertigen Films – ob vor oder hinter der Kamera – sich doch schon ihre Mühe mit ihrem Stoff gemacht haben. Ob sie dabei sympathisch sind, ob die sowas dürfen, das ist eine andere Frage. Natürlich wird wie immer die Biographiekarte aus dem Hut gezaubert. Eichinger und Edel im München jener Zeit. Auch so ein Spaß. Und ebenfalls klar ist: Einem Herr Kraushaar beim Sichgedankenmachen zur RAF „zuzuschauen“ ist zig Mal gewinnbringender als dem ganzen suspekten Künstlerpack hier zusammen. Den hübschen Drehbericht-Infos zum Trotz.

Doch es wäre schon viel gewonnen, zuzugestehen, dass beide in unterschiedlichen Klassen spielen – und dieses Guido-Knopp-Promo-Begleitwerk hat dieselbe Güte und Berechtigung in der medialen Auswertung eines ohnehin schon zu Tode publizierten Lieblingsaufregers wie ein Was ist Was-Buch, über das man sich schließlich auch nicht beugt und mault, Einsteins Relativitätstheorie sei darin schon ziemlich lumpig behandelt.

Also nur ein belangloses aber ehrbares Werk für Kinder und Jugendliche und bildungsferne Filmfreunde?

Ha, so einfach auch nicht. Wahrlich spannend wird „Das Buch zum Film“ nämlich, wenn klar wird, wie viel letztlich doch nicht an Originalschauplätzen gedreht wurde. Oder wenn Kameramann Rainer Klausmann berichtet, wie er sein Authentizitätsideal wie ein Fußballtaktiker hochhält: Von der Optik nach vorne denken, nicht nach hinten. „Ich nehme die Kamera einfach auf die Schulter und folge dem Schauspieler. Wenn der Schauspieler gut ist, dann ist ab und zu mal eine Unschärfe auch in Ordnung.“ Wobei dieser lobenswerte Gedanke von Freiheit, Inspiration und Kreativität schon von der folgenden Bildunterschrift zumindest relativiert wird, die berichtet, wie in Stammheim mit drei Kameras gleichzeitig gedreht wurden; in manchen Szenen gar mit fünf.

Das Buch macht darüber hinaus quasi amtlich, was ja so richtig mies ist: Nämlich dass sich Eichinger und Edel einen feuchten Kehricht um die deutsche filmische „Aufarbeitung“ der RAF kümmerten. Verweise auf Schlöndorff, Hauff und Co. kann man suchen. Stattdessen erfährt man, dass im Zuge der Drehbucharbeit immer wieder Filme wie BLACK HAWK DOWN, FRENCH CONNECTION, SYRIANA, CHILDREN OF MEN und CITY OF GOD diskutiert wurden. Für Edel ist der „BMK“ der Abschlussteil über das Thema Gewalt – nach CHRISTIANE F. und LETZTE AUSFAHR BROOKLYN, und gedacht hat er dabei nicht an die deutschen 68er in den Feuilletons, sondern an seine Söhne Anfang zwanzig, die „in Amerika als schwarze Mischlinge aufgewachsen“ sind.

Dagegen müssen sich all diejenigen, die auf hohen Niveau wissen, warum es den filmischen „Baader Meinhof Komplex“ nicht braucht, erst noch was einfallen lassen. Zumindest jene, die reflexhaft gejubelt hätten, wenn der Film aus dem Ausland gekommen wäre und die „Weatherman“ oder die Japanische Rote Armee zum Gegenstand haben würde.

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Bernd Zywietz

Buch zum Film zum Sachbuch zur Terrorgruppe

Katja Eichinger: Der Baader Meinhof Komplex. Das Buch zum Film. Hamburg: Hoffmann und Campe, 224 Seiten, € 14,95
ISBN 978-3455500967


von Bernd Zywietz




Ja, wieder der Terz – was Bernd Eichingers und Uli Edels Film „Der Baader Meinhof Komplex“ für Haue bekam, erhält auch gleich das Buch mit. Ist ja schließlich von Katja Eichinger, der Frau des Produzenten und Drehbuchautoren. Da kann man natürlich prächtig seine Späße drauf machen. Überhaupt witzeln. „Das Buch zum Film zum Sachbuch“. Eine Wonne, ein Ulk.

Schon sitzt man wieder da und muss das Buch zum Film verteidigen wie zuvor schon den Film selbst, obwohl man es gar nicht will (und beide es nicht wirklich brauchen oder verdienen). Nur: Diese fast reflexartige Pauschal- und Vorweghäme ist so öde und ermüdend, dass man sich unversehens dem „Baader Meinhof Komplex“-Film und -Buchzumfilm fünfzig Milliarden mehr begeisterte Zuschauer und Leser und Käufer und Eintrittbezahler und DVD-Ersteher wünscht und obendrein den Oscar hier und den Pulitzerpreis da, damit das Rumgezicke derer, die doch so viel besser wissen, wie „es“ gewesen ist, keine Luft mehr bekommen vor lauter Kammerflimmern.

Natürlich ist auch das Buch nicht wirklich die Wucht, um es mal so zu sagen. Teilweise putzig plaudert Frau Eichinger vor sich hin. Wobei ihr zugute zu halten ist, dass sie sich und ihr subjektive Position nicht zu kaschieren sucht. Von der Idee, der Produktion und Drehbucharbeit über die Dreharbeiten geht der Bericht, unterbrochen von Statements von – natürlich – Aust, Eichinger, Edel sowie Künstlern hinter und vor der Kamera.

In der zweiten Hälfte wiederum beinhaltet das Buch zum Film zur Terrortruppe Eichingers Drehbuch, was für die Auseinandersetzung mit dem Film und „seiner“ Geschichte durchaus eine nützliche Sache ist. Allein schon, weil zu (ob erfolgreichen oder deutschen) Filmen hierzulande nach wie vor noch zu wenig an Drehbuchmaterial publiziert wird.

Man kann sicherlich streiten, über Sinn, Nutzen und Tiefe von Informationen, wie die Schwierigkeit, die das Auffinden welcher Originalsonnenbrillen der Zeit bereiten oder dass Eichinger Martina Gedeck in einem Münchner Restaurant für die Rolle der Meinhof angesprochen hat. Einer Gedeck, die dann Sätze zu lesen gibt wie:

„Es gibt viele Fragezeichen, was die Person Ulrike Meinhoff betrifft. Auch ihre Zeitgenossen sehen sie aus unterschiedlichen Blickwinkeln.“ Ja, hm, sowas.

Vieles verwirbelt so allzu schnell zu einem Gefühl von Boulevard-Ernsthaftigkeit, irgendwo zwischen Luftleere und Banalität, Besinnlichkeit und Besinnungslosigkeit – oder schlicht leicht zu Wissendem (so wenn die Darsteller über ihre Figuren sprechen). Das alles versaubeutelt das Buch aber nicht. Denn das ganze Angestrengte verleiht dem Buch auch das Gefühl, dass sich diverse Macher des fertigen Films – ob vor oder hinter der Kamera – sich doch schon ihre Mühe mit ihrem Stoff gemacht haben. Ob sie dabei sympathisch sind, ob die sowas dürfen, das ist eine andere Frage. Natürlich wird wie immer die Biographiekarte aus dem Hut gezaubert. Eichinger und Edel im München jener Zeit. Auch so ein Spaß. Und ebenfalls klar ist: Einem Herr Kraushaar beim Sichgedankenmachen zur RAF „zuzuschauen“ ist zig Mal gewinnbringender als dem ganzen suspekten Künstlerpack hier zusammen. Den hübschen Drehbericht-Infos zum Trotz.

Doch es wäre schon viel gewonnen, zuzugestehen, dass beide in unterschiedlichen Klassen spielen – und dieses Guido-Knopp-Promo-Begleitwerk hat dieselbe Güte und Berechtigung in der medialen Auswertung eines ohnehin schon zu Tode publizierten Lieblingsaufregers wie ein „Was ist Was“-Buch, über das man sich schließlich auch nicht beugt und mault, Einsteins Relativitätstheorie sei darin schon ziemlich lumpig behandelt.

Also nur ein belangloses aber ehrbares Werk für Kinder und Jugendliche und bildungsferne Filmfreunde?

Ha, so einfach auch nicht. Wahrlich spannend wird „Das Buch zum Film“ nämlich, wenn klar wird, wie viel letztlich doch nicht an Originalschauplätzen gedreht wurde. Oder wenn Kameramann Rainer Klausmann berichtet, wie er sein Authentizitätsideal wie ein Fußballtaktiker hochhält: Von der Optik nach vorne denken, nicht nach hinten. „Ich nehme die Kamera einfach auf die Schulter und folge dem Schauspieler. Wenn der Schauspieler gut ist, dann ist ab und zu mal eine Unschärfe auch in Ordnung.“ Wobei dieser lobenswerte Gedanke von Freiheit, Inspiration und Kreativität schon von der folgenden Bildunterschrift zumindest relativiert wird, die berichtet, wie in Stammheim mit drei Kameras gleichzeitig gedreht wurden; in manchen Szenen gar mit fünf.

Das Buch macht darüber hinaus quasi amtlich, was ja so richtig mies ist: Nämlich dass sich Eichinger und Edel einen feuchten Kehricht um die deutsche filmische „Aufarbeitung“ der RAF kümmerten. Verweise auf Schlöndorff, Hauff und Co. kann man suchen. Stattdessen erfährt man, dass im Zuge der Drehbucharbeit immer wieder Filme wie „Black Hawk Down“, „French Connection“, „Syriana“, „Children of Men“ und „City of God“ diskutiert wurden. Für Edel ist der „BMK“ der Abschlussteil über das Thema Gewalt – nach „Christiane F.“ und „Letzte Ausfahrt Brooklyn“, und gedacht hat er dabei nicht an die deutschen 68er in den Feuilletons, sondern an seine Söhne Anfang zwanzig, die „in Amerika als schwarze Mischlinge aufgewachsen“ sind.

Dagegen müssen sich all diejenigen, die auf hohen Niveau wissen, warum es den filmischen „Baader Meinhof Komplex“ nicht brauchen, erst noch was einfallen lassen. Zumindest jene, wenn der Film aus dem Ausland gekommen wäre und die „Weatherman“ oder die Japanische Rote Armee zum Gegenstand gehabt hätten.

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Hofer Filmtage 2008

Oxidation und Reduktion

von Harald Mühlbeyer

Wenn man ganz genau hinguckt, dann sieht man etwas im Kleinen. Das sind dann die Moleküle. Und solche Moleküle können sich miteinander verbinden. Man nennt das chemische Reaktion. Moleküle können sich aber auch aneinander anlagern, sich an ein Zentralatom anhängen; dies sind Bindungen, aber keine Verbindungen. Das sind dann Komplexe. Solche Komplexbildungen sind wichtig zum Beispiel in der Biochemie (der Sauerstofftransport der roten Blutkörperchen funktioniert so) – und man benötigt sie ebenso als nützliche Metapher in Festivalberichten.

- Der Blutfarbstoff Hämoglobin ist ein Eisenkomplex im Blut, dessen Struktur sich mit der Aufnahme (Oxidation) bzw. der Abgabe von Sauerstoff (Reduktion) ändert --- geklaut von Wikipedia...


Denn wenn man auf ein Filmfestival geht, dann gibt es vieles, bei dem man genau hingucken sollte. Das sind die Filme. Und mitunter, in der Masse von vier, fünf, sechs Filmen am Tag, bilden sich Bindungen, kleine thematische, personelle, motivische Verknüpfungen, da lagert sich dann ein Film an den anderen an, ohne wirklich etwas mit ihm zu tun zu haben.

Das Zentralatom eines dieser Film-Komplexe auf den diesjährigen Hofer Filmtagen war Herbert Achternbusch, der Ende November 70 Jahre alt wurde. (Wodurch sich wiederum Hof mit München verbindet, denn dort war im Sommer die Filmfest-Retrospektive Achternbusch gewidmet.)

In Hof kam der grotesk-komisch-klarsichtig-albern-realistische Filmemacher nicht in Person vor – so besteht das Zentrum des Hofer Achternbusch-Komplexes gleichsam aus einer Leerstelle, die von einem Dokumentarfilm gefüllt wird: Andi Niessner beschäftigt sich in „Achternbusch“ (gesendet am 22.11. im Bayrischen Fernsehen) eingehend mit Achternbusch, vor allem mit Achternbusch, dem Filmemacher, Achternbusch, dem Maler, Achternbusch, dem Theaterautor; weniger mit dem Schriftsteller, was vielleicht einfach der Diskrepanz zwischen visuellen und verbalen Medien geschuldet ist.

Lange Gespräche mit Achternbusch stehen im Mittelpunkt, in denen er ausführlich Auskunft gibt – ausführlich immer relativ gesehen, für Achternbusch-Verhältnisse eben. Dazu Interviews mit alten Weggefährten, Filmausschnitte, die stets passend Aussagen des porträtierten Achternbuschs oder des porträtierenden Films „Achternbusch“ unterstützen; und ein paar Einblicke in Achternbuschs Werke und Werden. Ein Besuch im Tierpark verleitet Achternbusch zu meditativen Betrachtungen über das Faultier, mit seiner jüngsten, vierzehnjährigen Tochter Naomi erklettert er den Turm des Alten Peter und sucht per Fernglas den Rasierpinsel, den er in seiner Wohnung verlegt hat. Und dazwischen immer wieder Erinnerungen, Anekdoten, aufschlussreiche Bemerkungen zu seinem familiären Hintergrund („Mei Vater war a Sau, mei Mutter war a Nazi'') und zu seinem künstlerischen Werk („I wollt meinen eigenen Mist machen, und do lass i mir net dreinreden'').

In der Tat gelingt hier Niessner eine Annäherung an einen Unnahbaren. Niessner selbst hat in den 90ern zweimal mit Achternbusch gearbeitet, war lange Zeit bei dessen Mitarbeiter-Stammtisch dabei, der das Team zusammenhielt, auch wenn gerade kein Film gedreht wurde. Ist also ein entfernter Verwandter in dieser Achternbusch-Familie, und von diesem Zugang profitiert sein Film. Der Achternbusch sowohl denjenigen nahe bringt, die bisher noch gar nichts von ihm wussten, als auch den Aficionados, die sich seinen absurden Zerrbildern der Welt, in der wir leben, hingegeben haben.

Mit Achternbusch (zumindest was die Filmarbeit angeht) verwandt ist Schlingensief, von dem Achternbusch noch keinen einzigen Film gesehen hat, den er verachtet, wie er ja vieles verachtet (doch das ist eine andere Geschichte und soll ein andermal erzählt werden).

„Christoph Schlingensief: Die Piloten“ heißt jedenfalls eine Dokumentation von Cordula Kablitz-Post; ein Film, der sowohl Making of als auch Teil des dokumentierten Projektes ist, nämlich die einzige filmische Aufzeichnung von Schlingensiefs Talkshow-Projekt „Die Piloten“, das er im Januar 2007 im Foyer der Akademie der Künste Berlin inszenierte.

Piloten: das sind die Sendungen, mit denen ein Konzept geprüft wird und die dann häufig genug nie ausgestrahlt werden. Schlingensief nun erklärte die Improvisation zum Konzept und den Prüfstand zur Permanenz und nahm in Kauf, dass alles, was hinten rauskommt, komisch riecht – und dennoch kamen die prominenten Gäste für diese Irrsinns-Talkshow, oder vielleicht gerade deshalb. Weil sie sich Ähnliches erhofften wie beim skandalumwitterten „Talk 2000“ (bei dem Kablitz-Post auch schon mitgearbeitet hat)? Schlingensief seinerseits hat sich vorgenommen, alles vollkommen zu manipulieren: die Gäste, die Zuschauer, sich selbst.

Da tauchen sie dann alle auf, Rolf Hochhuth und Gotthilf Fischer, Oskar Roehler und Jürgen Fliege, Lea Rosh und Sido, die über verschiedene Themen reden sollen, über Krankheit etwa oder über Religion. Und zu denen Schlingensief seine eigene Bagage mithineinmischt, die Behinderten, mit denen er schon seit Jahren zusammenarbeitet, oder die Schauspielerin Susanne Bredehöft, die sich als Pflegerin von Rolf Hochhuth gerieren soll – worauf der natürlich nicht vorbereitet wurde. Wieder mal also eine mediale Mediendekonstruktion Schlingensiefs, der auf vielen Ebenen spielt und unter anderem Theater, Fernsehen, Selbstentblößung und Nötigung vermischt. In dieser ersten Hälfte der Dokumentation geht es noch sehr beschwingt, sehr lustig zu – Schlingensief bepisst sich (ja, tatsächlich!), als Fliege mit einer penetranten Verehrerin konfrontiert wird, und Kerstin Grassmann (Motto: Lieber schizophren als ganz alleen) erzählt dem Suhrkamp-Verleger eine krude Story von Mobbing inklusive diversen Abtreibungen. Blicke hinter den Kulissen wechseln sich ab mit Primärmaterial der aufgezeichneten Shows – doch langsam bricht Düsternis ein.

Schlingensiefs Vater lag 2007 im Sterben, immer wieder thematisiert er im öffentlichen Raum diese private Betroffenheit – exploitiert sich also selbst, vor allem aber den todkranken Vater, für ein paar Lacher und für emotionale Zuschauerreaktionen. Genau das, was er an den Medien eigentlich kritisieren will. Oder andererseits: Ist dies wieder eine seiner Strategien der Überaffirmation, dass er sein aufgewühltes Inneres bloßstellt, so wie sich jeder, der in einer Talkshow auftritt, bloßstellt? Dies ist eine Ambivalenz, die sich nicht einfach auflösen lässt; und Schlingensief selbst hasste sich dafür, dass er seine familiären Geheimnisse öffentlich ausplauderte, um – ja, er weiß es selbst nicht.

Genau deshalb hat er ein halbes Jahr später – so lange lagen die „Piloten“ auf Eis – die Schraube noch weiter gedreht und zusammen mit Medienkritiker Boris Groys seine eigenen Shows analysiert. Deren dritte Folge geriet wirklich beklemmend, und Post-Kablitz’ Dokumentarkamera ist hautnah dabei: Claudia Roth war eingeladen und erklärt schon im Vorgespräch, dass sie trauert – ein enger Freund, der Journalist Hrant Dink, war an diesem Nachmittag in der Türkei erschossen worden. Schlingensief nun spendet einerseits Trost – und benutzt Roths Trauer zur grausamen Entblößung vor Live-Publikum und Kamera. Was er im Eifer des Gefechts wollte war wohl, eine geahnte Heuchelei zu offenbaren, denn Frau Roth muss ja nicht öffentlich auftreten, wenn sie nicht öffentlich getreten werden will. Andererseits drängt Schlingensief sie geradezu zum Ausverkauf der eigenen Gefühle, so wie er – aus freiem Willen – die eigene familiäre Situation öffentlich gemacht hat.

Schlingensief ist also als Totengräber der Privatheit ein ziemliches Arschloch; und auch eine Rückkopplung zur Medienkritik kann dieses Urteil nicht revidieren. Ein Urteil, das er übrigens über sich selbst spricht – er kommt nicht raus aus den Achtzehnfachkonnotierungen seiner Aktionen. „Eine große Waschmaschine“, wie Groys es nennt – die Diskussionsveranstaltung über die „Piloten“ ist ebenfalls mehrfach gebrochen, Schlingensief und Groys reden anhand der Filmaufzeichnungen hinter einer blickdichten Leinwand, auf die fürs Publikum wiederum ihr Live-Gespräch projiziert wird – und wiederum wird alles vom Dokumentarfilm eingefangen.

Cordula Kablitz-Posts Film ist weit entfernt von einer Verurteilung der schlingensiefschen Methode – und legt dabei ihre Funktionsweise bloß; er ist damit Teil der inflationären schlingensiefschen Sinn/Übersinn/Unsinn/Metasinn-Konstruktionen und ermöglicht zugleich Einblicke in die Zahnräder dieser Maschinerie, ohne Schlingensief selbst oder seine Gäste mehr zu entblößen, als ohnehin geschehen im Lauf des Projekts.
Vom Zentralachternbuschatom ausgehend kommen wir über die nächste personelle Verbindung zum Bierbichler Sepp. Er war der einzige Profischauspieler in Achterbuschs Laienbrigade, die die vom Autor-Regisseur vorgegebenen aphorismusartigen Blödsinnssätze (oder blödsinnsartige Aphorismen) mit holpriger Modulation und unbeholfenem Spiel vortragen: „I hab da auch nur neipasst, weil i so gut bin wie an Laie“, so Bierbichler in der Achternbusch-Doku.

Gleich drei Filme mit Bierbichler liefen in Hof; einer davon, der Kurzfilm „Ein flüchtiger Moment“ von Sophie Kluge, als Sondervorstellung außerhalb des offiziellen Programms. Bierbichler spielt darin einen Schauspieler, der unbedingt der Kinopremiere eines Kollegen entkommen will, um sich mit einer Frau zu treffen – das sind witzige Slapstickmomente, Bierbichler im Gang kriechend zur Tür. Und zugleich trifft der Film ein Wesensmerkmal der bierbichlerschen Figuren, die sich immer getrieben zu fühlen scheinen, die eine innere Unruhe im massigen Körper kaum verbergen können. Und sich dabei auch kaum um ihre Mitmenschen scheren. Wie sie ja auch stets nur in bayrischem Dialekt daherreden.

Sehr zurückgenommen und daher recht untypisch spielt Bierbichler dagegen in Caroline Links „Im Winter ein Jahr“, ihrem ersten Film seit dem Oscarerfolg; Kinostart war am 13. November 2008. Bierbichler spielt den Maler Max Hollander, der ein Doppelporträt malen soll von Lilli (Karoline Herfurth) und ihrem Bruder Alexander. Nur, dass Alex tot ist, gestorben bei einem Jagdunfall, wie Mutter Eliane (Corinna Harfouch) sagt; in Wirklichkeit hat er sich umgebracht, im Winter ist es ein Jahr her. Trauerverarbeitung durch die Kunst, die Eliane beim Maler für 20.000 Euro bestellt, die ihre Erinnerungen an den geliebten Sohn konservieren soll. Lilli ist widerwillig, sie leidet unter der Bevorzugung des Bruders über den Tod hinaus; und der Vater, Bioniker, ist immer ziemlich abwesend. Eine Familie, die, wie es mal heißt, einem Tretboot gleicht, das ruhig dahinzutreiben scheint, bei dem aber unter der Wasseroberfläche heftig gestrampelt werden muss. Maler Max nun gibt der Familie, die nicht erst seit dem Verlust von Alexander auseinanderdriftet, einen neuen Impuls.

Er muss sich annähern, muss fragen, um der Essenz nachzuspüren, die er in sein Bild legen will; und Lilli taut auf, öffnet sich, gibt Schwächen preis, eine Fragilität, die hinter ihrer Schönheit liegt. Und beginnt, ihr eigenes Leben umzukrempeln. Bierbichler scheint dabei ein ruhender Pol zu sein in all den umkreisenden Bewegungen zwischen Mutter, Tochter, Vater; und ein anderer Schauspieler hätte diesen Part sicherlich als konventionskonformen Stichwortgeber zur Familienzusammenführung gespielt. In Bierbichler aber brodelt es, auch wenn sich an der Oberfläche nichts tut. Hinter die Einfühlsamkeit, das Feingefühl von Max Hollander steckt Bierbichler eine zweite Ebene, etwas Geheimnisvolles; was nicht nur mit dem Tod seines Freundes ein paar Jahre zuvor zu tun hat; oder mit der Entfremdung vom eigenen Sohn; oder mit der Unsicherheit über die eigenen Gefühle: ist er nun schwul oder nicht? Der Mund, der immer etwas schief liegt, die Augen, tief in ihren Höhlen, in denen etwas wie Schalk flackert, die Behutsamkeit im Umgang mit seinen Kunden, die etwas Ironisches haben: da spannt sich eine zweite Ebene auf, latent vorhanden, die gleichwohl nie offen durchschlägt.

Wie Caroline Link ohnehin die leisen Töne bevorzugt, sich Zeit nimmt für ihre im Wandel begriffenen Figurenkonstellationen; zuviel Zeit manchmal, tatsächlich hat der Film ein paar Längen, vor allem am Schluss zieht sich die große Selbstfindungs-Montagesequenz hin. Das Zwischenmenschliche, das die Kunst generiert, die Kunst, die unser Leben verändert, die das Festgefahrene lockert, die Erstarrung löst: Dass Link hier nicht in den Kitsch, ins Klischee versinkt, das verdankt sie zu einem Großteil ihren Schauspielern.

Wirklich meisterhaft dagegen und noch dazu ein Debütfilm: „Der Architekt“ von Ina Weisse, in dem neben Bierbichler Matthias Schweighöfer, Sandra Hüller und Sophie Rois spielen, schauspielerisch erste Garde.



Bierbichler ist der Architekt Georg Winter in Hamburg, der mit seiner Familie zurück muss in die Berge Tirols, in seine Heimat: die Mutter ist gestorben, die Mutter, vor der er geflohen ist. Die Mutter, die ihm beim Hähnchenessen immer das Herz gab, wie sie sagte, damit er stark wird; bis er Jahre später herausfand, dass er immer den Bürzel, „also den Oasch“, gegessen hat. Der Vater wollte ihn nie aufklären, um der Mutter nicht das Vergnügen am bösen Schabernack zu nehmen.

Hier nun, in ihrem alten Haus, versammelt sich die Familie um Georg mit Frau Eva (Hilde van Mieghem), Sohn Jan (Schweighöfer) und Tochter Reh (Hüller) – und ist gefangen, eine Lawine versperrt den Rückweg in den sicheren Hafen im hohen Norden. Äußerlich geht die Familie sehr offen miteinander um, sehr direkt, sehr körperlich: ob Vater und Tochter nackt in den Schnee laufen, ob alle zusammen sich zur großen Dusch-Rasier-Pinkelsession im Badezimmer einfinden. Ob Reh mit entblößtem Unterleib ihrem Bruder auf der Violine vorspielt („Ich hab da nen Pilz, da muss Luft ran'') oder ob die beiden das seltsame, wohl aus Urgründen der Kindheit stammende Ritual des Fersentretens durchspielen – was aussieht wie inzestuöser Koitus.

Doch innerlich geht jeder dem anderen auf die Nerven. Georg lässt sich nicht von Eva verführen, die daraufhin trotzig masturbiert, die Kinder wissen nicht wohin im Leben, weil die Eltern ihnen so vieles vorgeschrieben haben; und die Eltern rechtfertigen ihren Druck damit, dass ihre Sprösslinge sonst ja gar nichts auf die Reihe bekommen.

Sophie Rois als Hannah ist die Jugendliebe des Architekten; ihr eröffnet er sein großes, innerkörperliches Geheimnis, und mit ihr hat er einen außerehelichen Sohn, seit 19 Jahren. Das bringt die Konflikte zum Überhitzungspunkt, mitten in der Kälte des tiefen Schnees; das mühevoll vom Architekten aufrechterhaltene Familiengerüst bricht zusammen.

Die Souveränität der Inszenierung erstaunt: Ina Weisse (von Haus aus selbst Schauspielerin) hat nicht nur die besten Darsteller gefunden, sie findet auch die großartigen Bilder von Berg und Schnee und Winter und kleinen, geduckten Räumen, in denen sich ihre Figuren zurechtfinden müssen. Sie weiß einen bizarren Humor ganz unterspielt einzuflechten, so dass der das Drama in seiner Fatalität noch unterstützt. Und sie unterfüttert ihren Film mit einer motivischen Kette des Auseinanderdriftens auf engstem Raum. „Architektur ist die einzige Kunst, in deren Gedanken man hinterher herumlaufen kann“, weiß Georg Winter, doch das Gebäude Familie ist statisch ganz, ganz wacklig aufgebaut. Lüge ist kein Fundament, so wie das einbrechende Grundwasser auf Georgs aktueller Bausteller den Untergrund instabil macht. Überhaupt fühlt er sich auf der Baustelle, wenn er anpacken kann, sichtlich wohler als bei einer Preisverleihung oder bei seiner Familie – vor allem, wenn er auch noch reden muss, mit den anderen. Bierbichlertypisch: er frisst in sich rein, ohne etwas rauszulassen; bis es nicht mehr geht.

Und damit wieder zurück in die Zentrale. Und von hier direkt weiter zu Marie Noëlle, in den 90ern bei einigen Achternbuschfilmen dabei: als Produktions- und Herstellungsleiterin, auch mal als Darstellerin. Bei „Die Frau des Anarchisten“ trat Marie Noëlle nun erstmals als Co-Regisseurin auf, zusammen mit ihrem Mann Peter Sehr, mit dem sie ohnehin schon lange künstlerisch zusammenarbeitet – schon den „Kaspar Hauser“ (1993) habe sie ungenannt mitinszeniert, erklärte Sehr in Hof.

„Die Frau des Anarchisten“ ist ein Historienmelodram aus der Zeit des spanischen Bürgerkriegs, der Franco-Diktatur, des Zweiten Weltkrieges – eine deutsch-spanisch-französische Koproduktion, die eine Familiengeschichte erzählt. Nämlich – so erklärte Noëlle bei der Hofer Vorführung – die wahre Geschichte von Noëlles spanischen Großeltern, von Justo und seiner jungen Frau Manuela und der Tochter Paloma – Marie Noëlles Mutter, deren Perspektive der Film immer wieder miterzählt. Justo ist glühender Republikaner, ein „Anarchist“ in den Augen der Franco-Anhänger, die Stimme der Revolution im Bürgerkrieg, der per Radio seinen Genossen Kampf- und Durchhalteparolen zusendet und auch selbst in den Schützengräben mitkämpft – ein Held in einer verlorenen Schlacht. Ein Held, der nach Francos Sieg vermisst wird. Seine Familie bleibt zurück – zum Kummer über Justos ungewisses Schicksal kommt die Trauer um den neugeborenen Sohn, der fiebernd stirbt, und um Manuelas Bruder, der von Francos Schergen ohne Gerichtsverfahren erschossen wird. Justos ehemaliger Sekretär lässt ihr Haus enteignen und kauft es billig auf, verlangt horrende Mieten von der Anarchistenfamilie. Verraten und verlassen vegetiert sie dahin – der Film, zuvor immer wieder dynamisch zwischen Kriegssituation draußen und dem Eingeschlossensein von Frau und Kindern innen wechselnd, wird nun ganz zum Kammerspiel; zum Kummerspiel. Manuela erblasst, entschwindet, wird immer weniger, während Paloma aufwächst – fast unbemerkt geht der Zweite Weltkrieg vorbei, und erst dann gibt es Neuigkeiten von Justo, der ein deutsches KZ überlebt hat und nun in Frankreich lebt. Wo sich die Familie schließlich wiedervereinigt, zusammenzieht und bemerken muss, dass die Zeit an der Liebe nicht spurlos vorübergegangen ist, dass verschiedene Leidenserfahrungen neue Anstrengungen für das Zusammenleben erfordern. Zumal Justo nach wie vor im Geheimen – auch gegenüber seiner Frau – operiert, er plant mit Komplizen ein Bombenattentat auf Franco. Und hat zudem einen sehr verdächtigen Husten, hält sich dabei stets ein weißes Tuch vor – das Signal in jedem Film für potentiell tödliche Lungenkrankheiten…

So ausufernd der Plot sich windet, so lange wird der Film; viel länger als die 128 Minuten, die er dauert. Ja, er ist gut gemacht (und nicht nur gut gemeint), erzählt von der historischen Situation in einem flächendeckend faschistischen Europa, erzählt auch viel vom Leid der Opfer, das mit dem Ende der Tyrannei noch lange nicht aufhört – kann aber dieses Leid nicht spürbar machen, kann keinen emotionalen Bogen spannen, weil er dann doch zu unentschlossen ist, wie er erzählen soll. Geht’s um den Anarchisten, seine Frau, deren Tochter, um die Gefährdung von Liebe und Zusammengehörigkeit in Zeiten des Krieges, oder um den Kampf gegen das Böse, für das Gute allgemein und darum, was man dafür alles erdulden muss? Ebenso wie in seiner Thematik schwankt der Film stets in seiner Erzählhaltung, die eben nicht etwa bei der Sichtweise von Paloma bleibt, die ja als Tochter die Familiengeschichte ins Heute herübergerettet hat; oder sich strikt auf die Entbehrungen von Manuela festlegt; oder die Wandlungen durch die verschiedenen Leidenswege plausibel macht. Justo, vor seinem Verschwinden ein humanistischer Idealist, ist bei seinem Wiederauftauchen ein verbohrter Kämpfer. Aus Enthusiasmus und Zukunftsglaube ist der verzweifelt strampelnde Kampf eines Gestrauchelten geworden --- eine Menge interessante Aspekte enthält dieser Film; zu viele allerdings, die sich gegenseitig überdecken. Viel hilft nicht immer viel.

Immer mehr freilich kommt zu unserem Achternbusch-Komplex dazu; nun gar noch filmische Anlagerungen zweiten Grades; lockerere Bindungen personeller wie thematischer und motivischer Natur an bereits an das Achternbusch-Komplex angelagerte Filme.

So spielt Nina Hoss, die die deutsche Helferin und vermutete Geliebte des Anarchisten spielt, eine Kommunistin namens Leni, genannt Lenin, auch in Christian Petzolds „Jerichow“ eine der drei Hauptrollen. Ihre Laura ist gefangen im Goldenen Käfig der Ehe mit Ali (Hilmi Sözer) – per Ehevertrag an ihn gebunden, an ihn, der all ihre Schulden übernommen hat. Sie will raus, egal wohin. Genauso wie Thomas (Benno Fürmann), der mittellos im halb verfallenen Haus seiner verstorbenen Mutter haust. Ihn holt Ali quasi direkt von der Saisonarbeit auf dem Gurkenflieger ab – als Fahrer, dann als Assistent und Stellvertreter in seiner Verwaltung und Belieferung diverser Imbissbuden in der ganzen Gegend.

Eine Gegend irgendwo im Osten der Republik, die flach ist, wo sich der Blick weit am Horizont verlieren kann – eine Gegend, die den Protagonisten keine Heimat bietet, ein Land, wo keiner verwurzelt sein kann: Ali aus der Türkei nicht, obwohl er es als Imbissbudenboss zu was gebracht hat, Thomas nicht, der in Afghanistan gekämpft hat und unehrenhaft entlassen wurde, Laura nicht, die finanziell gebunden ist ohne Hoffnung auf Besserung.

Christian Petzold seziert wie ein Chirurg die Beziehungen seiner Protagonisten zueinander, baut ein Gebilde von Annäherung und Abstoßung zusammen, fragil wie ein Mobile und explosiv wie Nitroglyzerin – die kleinste Erschütterung ist höchst gefährlich. Und er führt fort, was er in „Yella“ schon begonnen hat: die präzise Beschreibung und Analyse der Verbindung von Geld und Sex. Deren Verhältnis zueinander geradewegs in die Fatalität führen.

„Man kann sich nicht lieben, wenn man kein Geld hat“, bringt es Laura mal auf den Punkt; doch kann man sich lieben, wenn man Geld hat? Ali hat sich Laura gekauft; die hängt sich an Thomas, verbunden durch den Trieb zueinander, durch den Trieb weg von ihrem bisherigen Leben. Küsst ihn in der Kühlkammer, um dann, im nächsten Moment, für Ali wieder geschäftsmäßig mit der Inventur fortzufahren. Als Ali, der stets so misstrauisch ist, dass er ihr nachspioniert, sobald sie einmal nicht mit dem Handy erreichbar ist, sie tatsächlich erwischt mit einem Getränkegroßhändler – da ist die Versöhnung erst möglich, als sie ihm schwört, dass es gar kein sexueller, sondern nur ein finanzieller Betrug war.

Liebe und Geld, Triebe und Gier, das sind die motivischen Pole nicht nur in „Jerichow“, sondern auch im Film noir. Und Petzold ist klug genug, in seine distanzierte Inszenierungsweise, die oft fast kalt und gefühllos erscheint, kleine Elemente des Noir einzubauen, als Referenzen an das Genrekino ebenso wie als kleine ironische Seitenblicke – denn wirkliche Dramaturgie baut er nur auf, indem er Laura als klassische femme fatale charakterisiert, und indem er einem auffälligen Feuerzeug eine tragende Rolle zuweist… Darin steckt ein untergründiger Witz, ein auch selbstironisches und selbstreflexives Augenzwinkern: weil dies ein Film ist, muss die Handlung weitergetrieben werden – dafür benützt Petzold die Genreversatzstücke –, auch wenn eigentlich die Figuren ganz ziellos dahindriften und sich ihren Trieben ergeben.

Ein weiterer Film in der sekundären Komplex-Ebene ist mit der „Frau des Anarchisten“ verknüpft: Nach dem Krieg ist Justo in Frankreich weiterhin verbandelt mit einer Gruppierung radikaler Antifaschisten, die das spanische Franco-Regime bekämpfen. Als Tarnung dient unter anderem eine Schneiderei, wo – aus der Not der Nachkriegsjahre geboren – aus der Fallschirmseide italienischer Soldaten neue Kleider genäht werden.

Kleidung aus Fallschirmen – das ist auch eine Idee der Modedesignerin Katharina in Marko Doringers Biographie-Doku-Essay „Mein halbes Leben“. Darin geht Doringer seiner Quarterlife-Crisis nach, die ihn erfasste, als sich das 30. Lebensjahr näherte. Was hab ich eigentlich bisher erreicht? Hält’s keine Frau bei mir aus? Wie will ich weiterleben, wie sieht es in fünf Jahren mit mir aus? Doringer, Studienabbrecher und Dokumentarfilmer, schnappt seine Kamera und macht sich auf die Suche nach sich selbst. Zu seiner Ex-Freundin, zu seinen Eltern, zu seinen früheren Freunden in Wien, die er nach seinem Umzug nach Berlin aus den Augen verloren hat. Der Vater ist versessen darauf, dass Markos Altersvorsorge gesichert ist. Die Ex ist immer noch ein bisschen verliebt in ihn. Die Freunde scheinen alle etwas erreicht zu haben: Martin ist Redakteur bei einer Sportzeitschrift; Thomas ist Manager in einer Firma in Bulgarien; Katha ist mit ihren Modekreationen auf dem Sprung aufs internationale Parkett. Doch nach nur wenigem Nachfragen ergeben sich bei ihnen ähnliche Probleme. Martin will etwas Sinnvolles, Bedeutungsvolles machen, was er bei Sportreportagen nicht mehr gegeben sieht. Thomas pendelt jedes Wochenende zu seiner Familie in Österreich, lebt nur für die Arbeit und ist ganz vernarrt in sein Feierabendbier – zuerst kommt bei ihm die Karriere, dann die Heavy-Metal-Band, in der er spielt, dann erst Frau und Kind; ein egozentrisches, daher hohles Leben. Und Katha hat Angst davor, just in diesem Moment ihres Lebens schwanger zu werden, das würde all ihre Pläne durchkreuzen; und Pläne hat sie viele.

Dass der Film nun nicht didaktisch wird oder allzu selbstbezogen oder populistisch à la „Wir alle haben ja das gleiche Problem, hahaha“ – dafür sorgt die Kommentierung, die Doringer vornimmt, deren Ironie schon mal in Sarkasmus oder gar ins Zynische kippen kann; ebenso die assoziative Montage, die so entwaffnend sein kann. Tatsächlich ist der Film so etwas wie die Fortsetzung in Doku-Essay-Form von Woody Allens „Annie Hall“/„Der Stadtneurotiker“, der ja die Krise eines 40jährigen rekapituliert. Und dann ist da noch die spannende Dramaturgie, die Doringer seinem Film unterlegt; die – und das gibt es sonst nur im Fiktionalen – jeder ihrer Figuren eine innere wie eine äußere Entwicklung mitgibt, die eine Reise ist von tiefster Lebensdunkelheit zu einem Punkt, der wenigstens ein Licht am anderen Ende erkennen lässt.

Auf die Frage aus dem Publikum nach der Hofer Vorführung, ob Katha denn nun auch ohne den Film so unerwartet schwanger geworden wäre, verweigerte Doringer die Antwort. Wahrscheinlich hat hier mal, andersrum als in der Theorie, der Dokumentarfilm ins wirkliche Leben übergegriffen.


Ebenfalls mit dem Alter von 30 Jahren – und damit ein weiteres Glied unserer Komplex-Kette, diesmal dritten Grades – beschäftigt sich der Schweizer Film „Tag am Meer“ von Moritz Gerber. Untertiteltes Schwyzerdütsch: das ist schon mal höchst sympathisch – in Deutschland findet Dialekt in Kino oder TV ja überhaupt nicht mehr statt, höchstens bei Herrn Rosenmüllers bayrischen Volksschwänken, die als neue Heimatfilme hochgejubelt werden. Nein: Schweizer Filme sind selbst für den süddeutschen Normalzuschauer sprachlich unverständlich – und wenn dann mal ein Berliner oder eine Französin im Film auftauchen, ermahnt der eine den anderen: „Aachtung, bei dem muascht deutsch sprächn“.

Dave hängt rum, kurz vor seinem 30. Geburtstag. Und alles läuft im Kreise. Jetzt ist er sogar mit seiner Ex-Freundin Sarah wieder zusammengekommen. Immer noch hat er einen Plattenladen, immer noch macht er samstags als DJ einen drauf. Doch da ist das Wissen, vielleicht auch nur eine Ahnung, dass irgendwie jetzt ein neuer Schritt nach vorne ansteht. Immer nur CDs verkaufen? Immer nur mit dem Kumpel Matthias in ’ner WG rumhängen?

Andererseits drängt Sarah viel zu sehr. Will mit ihm zusammenziehen! Eine Zumutung. Also wählt Dave den Rückschritt als Fortschritt: und macht sich an die junge Französin Alice ran, die per Rucksack durch Europa reist.

Gerbers Film ist ein Film über das Zwischenstadium, in dem sich Dave befindet: Der die großen Geburtstagsraveparty gar nicht will, die Matthias groß angekündigt hat; der Sarah nicht verprellen will; der in Alice eine unverbindliche Chance sieht; der weiß, dass mit dem Älterwerden auch das Künstlerdasein als DJ aufhört; der auch weiß, dass irgendwann im Leben so etwas wie Verantwortung auf ihn zukommt. Für den es eine große Leistung ist, nicht über die (durchaus willige) Alice herzufallen, als sie einmal ziemlich betrunken allein in ihrer Wohnung sind. Was freilich Sarah ganz anders sieht weil der Verrat an ihrer Beziehung schon im Gedanken an Alice liegt. Dabei müsste Dave nur einmal, irgendwann, irgendwie zu irgendetwas wirklich stehen, was er tut, denkt oder sagt.

Eine Coming of Age hat Gerber inszeniert über einen, der schon zu alt ist für die Jugend, aber noch zu unreif für das Erwachsensein. Der im Schwebezustand steckt – und da gar nicht rauskommt, weil er nicht rauskommen will. Der an einem Anfang steckt und denkt, dies sein ein Ende.

Ein Ende wie die Komplex-Kette, die sich bei den Hofer Filmen bis in eine dritte Stufe fortgesetzt haben: ausgehend von Achternbusch gab es über die Zwischenstufe Marie Noëlle eine tertiäre Weiterbildung in die Quarterlife-Krisen der 30jährigen. Eine dreiwertige Komplexverbindung also, die durchaus in diesem Artikel erforscht zu haben durchaus nobelpreiswürdig ist. Vielleicht mag jemand ja diesen Text mal in Stockholm einreichen?