Screenshot Top 5 (Teil 1)

Was andere können, kann Screenshot erst Recht: Fröhliche Best-of-Listen erstellen.

Unsere Autoren und Redakteure haben für Sie in ihren Denkerkästen gekramt und ihre besten 5 Filme des Jahres 2009 herausgesucht. Der erste Schwung hier und jetzt.

Einen guten Rutsch und ein vorzügliches Jahr 2010 wünschen wir!



Alex Gajic:

"Inglourious Basterds"
Durch seinen Aufbau und seine breiten Pinselstriche ist Tarantinos neuestes Epos eins der gelungensten und der mutigsten filmischen Werke des Jahres. Dabei ist nicht nur der überall gefeierte Christoph Waltz ein Pluspunkt, sondern auch die Frechheit der Geschichtsumschreibung, der untergründige Humor und die Vielsprachigkeit.

"Coraline"
Henry Selick weiß, wie Animation funktioniert, er hat 3D durchschaut und versteht sich ausgezeichnet darauf, vor allem erwachsene Zuschauer das fürchten zu lehren. Aus Neil Gaimans bestem Roman hat er den bestmöglichen Film gezaubert, voller Magie und voller Nervenkitzel.

"Das weiße Band"
Michael Hanekes Film ist eine einzige große Frage ohne Antwort. Dennoch besticht er durch seinen stillen Grusel und die übliche Haneke’sche Gnadenlosigkeit in der Inszenierung.

"Star Trek"
Der gelungenste Franchise-Reboot seit Martin Luthers Reformation. JJ Abrams vermischt die politisch-persönliche Space Opera von Trek mit der Action und der Kinetik von Star Wars. Das clevere Drehbuch umgeht dabei nonchalant die Continuity-Frage und macht einfach ein Paralleluniversum auf.

Mehr zu guten und schlechten Reboots

"Avatar"
Er ist nicht die Revolution des Kinos, aber er rumst und kracht und bietet eine glaubwürdige CGI-Welt und darin einige schöne und eindrucksvolle Bilder und eine gute 3D-Inszenierung. Ab und zu erlaubt es einem ein Film, eine einfach gestrickte Story und schrecklich eindimensionale Charaktere zu ignorieren, Avatar ist einer davon.


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Claudia Bosch:

"Oben"
Beeindruckend tiefgehender Animationsfilm voller herzerwärmender Momente. Das kluge Drehbuch wurde meisterlich auf die Leinwand übertragen und sorgt dafür, dass den Zuschauern mehr als einmal sowohl Tränen der Rührung als auch Lachtränen in den Augen stehen.

"Der Vorleser"
Einfühlsam erzählte, spannend inszenierte und sehr ansprechend fotografierte Literaturverfilmung mit hervorragenden Darstellern.

"Der Junge im gestreiften Pyjama"
Ungewöhnliche, sensibel in Szene gesetzte Geschichte, in der die Holocaust-Thematik aus der Kinderperspektive gezeigt wird. Starke schauspielerische Leistungen der kindlichen Darsteller, die den Schluss umso schockierender wirken lassen.

"Slumdog Millionaire"

Ergreifende, sozialkritische Geschichte, die einen in eine fremde Welt eintauchen lässt. Kreative, ästhetisch reizvolle Inszenierung und geschickt angelegte Montage.

"The Wrestler"
Ein Film, der nahe geht, weil er einen geschundenen Körper und eine verletzte Seele ins Zentrum stellt. Mickey Rourkes hervorragendes Spiel und Darren Aronofskys feinfühlige Inszenierung machen die Einsamkeit des Helden und die Trostlosigkeit seines Daseins greifbar.



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Andreas Rauscher:

"Inglourious Basterds"
Tarantino versteht es nach wie vor sich nicht auf Aufgüsse des eigenen Oeuvres einzulassen. Mit einem ausgeprägten Gespür für die Inszenierung, gewohnt grandiosen Dialogen und einem talentierten internationalen Ensemble schafft er es, die Muster des Exploitation Films subversiv zu überhöhen und mit eigener Handschrift
fortzuschreiben.

"The Hurt Locker"
Nicht nur das Comeback des Jahres, sondern auch einer der besten Filme Kathryn Bigelows. Die unmittelbare und beklemmende Schilderung des Alltags eines Bombenentschärferkommandos im Irak erzielt gerade dadurch kritische Untertöne, indem auf plakative Statements verzichtet wird.

"Der Knochenmann"
Die dritte kongeniale Adaption der Privatdetektiv Brenner-Romane von Wolf Haas, Josef Hader und Wolfgang Murnberger vereint schwarzen Humor und eine absurde Kriminalgeschichte mit melancholischen Untertönen zu einem tragikomischen Austrian Noir. Das Dream Team des österreichischen Kriminalfilms vereint ein ausgeprägtes
Bewusstsein für Genreformen mit einem untrügbaren Gespür für eigenwillige Charaktere.

"Synecdoche, New York"

Charlie Kaufmans in Deutschland leider nur als DVD-Premiere veröffentlichtes Regiedebüt bildet die logische Fortsetzung der in "Adaptation" begonnenen Reflexionen über die Krise des Künstlers unter den Bedingungen der Postmoderne und landet darüber wieder bei den Fragen der Hochmoderne, die nicht zuletzt durch die
hervorragende Besetzung an neuer Aktualität gewinnen.



"Star Trek XI"
Ein Reboot, der Gefahr lief ein überflüssiges Remake zu werden, und sich dann doch als eine der positiven Überraschungen im diesjährigen Genrekino erwies. Das "Lost"-erprobte Team um Regisseur J.J. Abrams fand die richtige Mischung aus serieller Kontinuität und Neuanfang. Die eine oder andere Schwachstelle in der Handlungslogik ließ Serienurgestein Leonard Nimoy durch seine vulkanische Souveränität
schnell vergessen.

Vorschau auf die nächste Jahresbestenliste:

The Imaginarium of Dr. Parnassus - Terry Gilliams furiose
Abschiedsvorstellung für Heath Ledger mit Tom Waits als diabolischem
Trickster gehört auf alle Fälle auch unter die Top 5, da er aber erst im
Januar startet, reserviere ich ihm schon einmal einen Platz für die
Liste 2010.


Teil 2 der Top 5

Teil 3 der Top 5

Alle Jahre wieder: Filmische Dauerbrenner an Weihnachten

von Claudia Bosch

Denkt man an Weihnachten, schießen einem sofort die unterschiedlichsten Bilder durch den Kopf: gemütliches Faulenzen in den heimischen vier Wänden (aber erst nachdem noch schnell die letzten fehlenden Geschenke aufgetrieben wurden), das genau ausgeklügelte Umsetzen aufwendiger Rezepte (schließlich sollen die Weihnachtsgans oder der Karpfen ja besonders gut schmecken), ein gemeinsamer Kirchgang mit der Familie (wenn man schon das ganze Jahr über nicht dazu kommt, soll einen der Pfarrer wenigstens jetzt mal wieder in der Kirche sehen) oder aber die Auseinandersetzung mit so wichtigen Fragen wie „Sollen wir dieses Jahr Lametta an den Baum hängen oder nicht?“.

Schenkt man jedoch einer aktuellen Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Forsa Glauben, dann verbringt die Mehrheit der Deutschen (63 Prozent) die Feiertage am liebsten vor dem Fernseher. Das wissen auch die TV-Sender, was in einem regelrechten Wettrüsten um das 'interessanteste' Programm gipfelt. Vor allem Spielfilme stehen beim Publikum hoch im Kurs, und weil einige von ihnen mittlerweile zum Fest gehören wie die obligatorischen Geschenke unterm Baum, wird man von einer wahren Wiederholungsflut überschwemmt.
Ein fester Bestandteil sind – aus nahe liegenden Gründen – natürlich Kinderfilme. Die hibbelig durchs Haus tollenden Kleinen müssen ja irgendwie beschäftigt werden. Problematisch wird es allerdings, wenn sich das Fernsehgerät in der Kinder-Sperrzone – dem Bescherungszimmer – befindet. Um vorweihnachtliche Dramen zu vermeiden, schreckt so mancher Vater notgedrungen nicht einmal davor zurück, den Fernseher kurzfristig ins Kinderzimmer auszulagern. Ist dann die Welt wieder in Ordnung, steht einem unbeschwerten Filmgenuss nichts mehr im Wege.

Besonderer Beliebtheit erfreuen sich Astrid-Lindgren-Verfilmungen wie „Michel bringt die Welt in Ordnung“ (1973), die vier „Pippi Langstrumpf“-Streifen (zwischen 1968 und 1970 entstanden) und „Ronja Räubertochter“ (1984). Auch Erwachsene sehen immer wieder gerne zu, wenn Michel mit seinen Streichen das schwedische Dörfchen Lönneberga unsicher macht, sich das Mädchen Ronja in der rauen Räuberwelt zurechtfinden muss und die seltsame Göre Pippi mit ihren Freunden Annika und Tommy die wunderlichsten Abenteuer erlebt.
Michael Endes „Momo“ (1986), über das gleichnamige Waisenmädchen, das sich gegen Zeitdiebe zur Wehr setzen muss, um die kostbare Lebenszeit der Menschen zu retten, und diverse „Heidi“-Verfilmungen über die kleine Schweizerin, die aus ihrer idyllischen Bergheimat herausgerissen und in die Großstadt verfrachtet wird, beispielsweise die Schwarz-Weiß-Version von Luigi Comencini aus dem Jahr 1952, gelten ebenso als Dauerbrenner. Nicht zu vergessen die britische Jugendromanverfilmung „Der kleine Lord“ (1980), in der Alec Guinness einen hartherzigen Großvater mimt, der sich durch die Erziehung seines Enkels zu einem liebenden, gütigen Mann entwickelt.

Daneben findet man Trickfilme und eine Vielzahl an Märchenfilmen, von denen ein Großteil aus osteuropäischer Produktion stammt. Selbst wenn man in puncto Märchenfilm nicht sonderlich bewandert ist, fällt einem sofort ein Titel ein: „Drei Nüsse für Aschenbrödel“. 1973 als Koproduktion der DEFA mit dem Prager Barandov-Studio entstanden, gilt der Film als der Weihnachtsfilm-Klassiker schlechthin. Doch was macht den Jahrzehnte überdauernden Reiz des Films aus? Vielleicht liegt es an der erstaunlichen Leichtigkeit, mit der Regisseur Václav Vorlíček die märchenhafte Liebesgeschichte zwischen Aschenbrödel und dem Prinzen erzählt. Bei seiner Inszenierung legt er Wert auf Lebensnähe und verzichtet auf großartige Tricks. Aber auch das ungezwungene Spiel Libuse Safránkovás, in dem sich freche Lebenslust und Eleganz vereinen, und die natürlich-zarte Schönheit der damals einundzwanzigjährigen Hauptdarstellerin tragen zum Erfolg dieses Märchenfilms bei.

An US-amerikanischen Weihnachtskomödien kommt man an den Feiertagen auf keinen Fall vorbei. Ganz oben in der Hitliste die beiden 'Kevin'-Streifen „Kevin – Allein zu Haus“ (1991) und „Kevin – Allein in New York“ (1992) von Familienfilm-Routinier Chris Columbus. Die Komödien über den achtjährigen Jungen, der von seiner nach Europa reisenden Familie zuhause (im zweiten Teil in New York) vergessen wird und sich gegen trottelige Einbrecher zur Wehr setzen muss, bieten ungezwungene Unterhaltung für Jung und Alt.
Beim Überfliegen der Programmzeitschrift stolpert man ferner über Titel wie „Allein mit Onkel Buck“ (1989) – in der Besetzung nebenbei bemerkt „Kevin“-Darsteller Macaulay Culkin -, „Jack Frost“ (1998), oder „Verrückte Weihnachten“ (2004). In der Rolle des chaotischen Onkel Buck, der die drei Sprösslinge seines Bruders in Schach halten muss, findet man den 1994 früh verstorbenen Schauspieler John Candy. In „Jack Frost“ geht es um einen Vater, gespielt von Michael Keaton, der nach seinem Unfalltod noch eine letzte Chance erhält, ungeklärte Familienangelegenheiten zu regeln. Doch ungünstigerweise kehrt er nicht als er selbst, sondern als Schneemann auf die Erde zurück. Bei Joe Roths „Verrückte Weihnachten“ handelt es sich um eine Romanverfilmung – nämlich John Grishams „Skipping Christmas“. Das Ehepaar Krank will wegen dem Auszug der Tochter auf das Weihnachtsfest verzichten und stattdessen eine Kreuzfahrt unternehmen. Dumm nur, dass sich das Fräulein Tochter kurzfristig doch noch zum Heimatbesuch ankündigt und somit Panik ausbricht – kein Wunder angesichts der Tatsache, dass genau zwölf Stunden bleiben, um ein perfektes Weihnachtsfest zu organisieren. Für das Drehbuch dieser spritzigen, gagreichen Komödie zeichnet übrigens Chris Columbus verantwortlich.

Definitiv höher schlagen dürften die Herzen der Heimatfilmfreunde, die zusätzlich auf ein reichhaltiges Angebot an deutschen Komödien aus den Jahren 1940 bis 1970 zurückgreifen können. Alte Bekannte wie Heinz Rühmann und Heinz Erhardt verbreiten in Filmen wie „Die Feuerzangenbowle“ (1944), „Wenn der Vater mit dem Sohne“ (1955), „Das schwarze Schaf“ (1960) oder „Der Haustyrann“ (1959) gekonnt 'heile Welt'-Stimmung und sorgen dafür, dass die Lachmuskeln mal wieder zum Einsatz kommen.

Selbstredend offerieren die Sender daneben eine gehörige Portion Herzschmerz. Ganz oben in der Liste der häufigsten Ausstrahlungen: „Heidelberger Romanze“ (1951) über eine junge Amerikanerin, die sich in Heidelberg in einen Studenten verliebt von Paul Verhoeven mit Liselotte Pulver und O.W. Fischer und „Die Züricher Verlobung“ (1957) vom vielseitigen deutschen Meisterregisseur Helmut Käutner. Hier geht es um eine Autorin, die ihre eigene Liebesgeschichte als Drehbuch abfasst und dadurch allerlei Verwicklungen auslöst. Und wenn es einem bis hierhin noch gelang, standhaft die eine oder andere Träne zu unterdrücken, spätestens bei der „Sissi“-Trilogie gibt es endgültig kein Halten mehr. Wasser Marsch!
„Sissi“ (1955), „Sissi, die junge Kaiserin“ (1956) und „Sissi – Schicksalsjahre einer Kaiserin“ (1957), alle von Ernst Marischka rührselig inszeniert, stellen das Leben der österreichischen Kaiserin Elisabeth ins Zentrum der Erzählung und ließen die blutjunge, liebreizende Hauptdarstellerin Romy Schneider schlagartig zur Kultfigur avancieren. Obwohl Marischka historische Tatsachen ausklammerte und veränderte, wurde die Reihe ein riesiger Erfolg. Für Romy Schneider hingegen begann ein lebenslanger Kampf gegen das Image des süßen, zarten Mädchens, das ihr die Rolle eingebrachte.

Nun aber zu einem weiteren Bereich wichtiger Weihnachtsfilme, denn was wären die Feiertage ohne alte Hollywood-Klassiker wie „Ist das Leben nicht schön?“ (1946) von Frank Capra oder „Wir sind keine Engel“ (1955) von Michael Curtiz?
Der amerikanische Komödienspezialist Capra nahm sich in „Ist das Leben nicht schön?“ einer optimistischen Geschichte um 'kleine Leute' an, die in Krisenzeiten für einander da sind, und widersetzte sich damit den düsteren Filmen der Schwarzen Serie, die in den 1940er Jahren das Kinoprogramm dominierten. James Stewart spielt darin George Bailey, der zusammen mit seinem Onkel eine kleinstädtische Bausparkasse leitet. Kurz vor Weihnachten verliert der Onkel 8000 Dollar aus der Kasse, was nicht nur den Betrieb, sondern auch die Ersparnisse vieler Bürger gefährdet. Aus lauter Ratlosigkeit trägt sich Bailey mit Selbstmordgedanken, die jedoch durch das Auftauchen eines Engels ins Wanken geraten. Zu guter Letzt gibt es dann doch noch ein Happy End für alle.

Wesentlich grotesker geht es dagegen in Michael Curtiz’ Weihnachtskomödie „Wir sind keine Engel“ zu. Am Heiligen Abend flüchten drei Strafgefangene von der Teufelsinsel und landen bei Familie Ducotel, die die Ausbrecher irrtümlich für Handwerker hält. Statt die Kaufmannsfamilie, wie zunächst geplant, auszurauben und zu töten, keimt bei den Gaunern immer mehr Sympathie für die in finanzieller Not steckenden Ducotels auf, und sie beschließen ihnen zu helfen. Mit allerlei Ideen und nicht zuletzt der Hilfe ihres Haustieres, der Giftschlange Adolf, schaffen sie es, sämtliche Probleme zu beseitigen (im wahrsten Sinne des Wortes) und nebenbei noch die Tochter der Ducotels zu verkuppeln. Am Schluss kehren die drei Geflohenen aus Heimweh wieder ins Gefängnis zurück. Dank der hervorragenden Darsteller Humphrey Bogart, Peter Ustinov und Aldo Ray sprüht diese Komödie vor beißendem Witz und einer großen Portion Selbstironie.

Neben solchen Weihnachtsklassikern werden aufgrund ihrer Publikumswirksamkeit auch Filme ausgestrahlt, die nicht unmittelbar etwas mit dem Fest zu tun haben. So stößt man beim Zappen auf zahlreiche Abenteuerfilme (z.B. „Des Königs Admiral“, „Der rote Korsar“, „Die Jagd nach dem Juwel vom Nil“, der „Indiana Jones“-Reihe, etc.), Western („Red River“, „El Dorado“), Kriegsfilme („Duell im Atlantik“), Musicals („West Side Story“), Kriminalfilme (Miss Marple und Co.) u.v.m..

Bibelfilme haben nicht nur an Ostern, sondern selbstverständlich auch an Weihnachten Hochkonjunktur, insbesondere die monumentalen Werke „Ben-Hur“ (1959) von William Wyler und „Die größte Geschichte aller Zeiten“ (1965) von George Stevens. Prinz Judah Ben Hur fällt durch einen versehentlich ausgelösten Vorfall beim römischen Statthalter Jerusalems in Ungnade und wird zur Strafe auf die Galeeren verfrachtet. Seine Mutter und Schwester landen im Kerker. Jahre später gelingt Judah die Flucht und er begibt sich auf die Suche nach ihnen. Dabei trifft er seinen Erzrivalen Messala wieder, der für das Verschwinden der beiden verantwortlich ist. Die Auseinandersetzung zwischen den Männern gipfelt schließlich in einem dramatischen Wagenrennen, das (wie schon im gleichnamigen Stummfilm von Fred Niblo aus dem Jahr 1926) den Höhepunkt des Historienspektakels bildet. Der Film erhielt bei der Oscar-Verleihung 1960 elf Academy Awards und verteidigte diesen neuen Oscar-Rekord bis 1998, als James Camerons „Titanic“ ebenfalls elf Trophäen einheimste.

„Die größte Geschichte aller Zeiten“ ist, wie der Titel schon vermuten lässt, die Verfilmung der Lebensgeschichte Jesu. Durch den gesamten Film zieht sich eine bedächtige Stimmung, die durch einen langsamen Erzählrhythmus voller tableuhafter Bilder und das zurückhaltende Spiel Max von Sydows noch verstärkt wird.

Wenn man darüber nachdenkt, welche Filme aus der letzten Zeit das Potential dafür hätten, sich in Zukunft zu Weihnachtsklassikern zu entwickeln, dann fallen einem Titel wie „Das ewige Lied“ (1997), „Der Grinch“ (2000), „Tatsächlich…Liebe“ (2003), „Bergkristall“ (2004) oder „Der Polarexpress“ (2004) ein.

Die TV-Produktion „Das ewige Lied“ von Franz Xaver Bogner thematisiert die Entstehungsgeschichte des Weihnachtslieds „Stille Nacht“, das zwei Freunde, Pfarrer Joseph Mohr und der Dorflehrer komponierten, um endlich für Frieden in ihrem verfeindeten Bergdorf zu sorgen. „Der Grinch“ dagegen will alles andere als harmonische Verhältnisse. Dieses bitter-böse Wesen versucht alles, um den Bewohnern von Whoville das Weihnachtsfest madig zu machen. In der prächtig ausgestatteten schrillen Comic-Verfilmung von Ron Howard kann sich Jim Carey was das Grimassenschneiden und seine Hyperaktivität angeht genüsslich austoben. In „Tatsächlich…Liebe“ erzählt Romantic-Comedy-Spezialist Richard Curtis (Autor von „Vier Hochzeiten und ein Todesfall“ (1994) und „Notting Hill“ (1997)) zehn herzerwärmende vorweihnachtliche Geschichten rund um die Liebe, was diesen Film also förmlich dazu prädestiniert an den Weihnachtstagen gezeigt zu werden.
In „Bergkristall“, dem die gleichnamige Novelle Adalbert Stifters zu Grunde liegt, widmet sich Joseph Vilsmaier einmal mehr einem heimatlichen Stoff. Die beiden Kinder eines Schusters verirren sich während eines Unwetters in den verschneiten Bergen. Sie findet Unterschlupf in einer Höhle und hoffen dort auf den sagenumwobenen Bergkristall zu stoßen, dessen magische Kräfte ihre getrennt voneinander lebenden Eltern wieder zusammenbringen sollen.

In den USA enorm erfolgreich ist „Der Polarexpress“ von Robert Zemeckis, vor allem die 3D-Version in den IMAX-Kinos. Das mag wohl auch daran liegen, dass nur wenige echte Spielfilme in den IMAX-Filmtheatern laufen. In dem Animationsfilm zweifelt ein Junge an der Existenz des Weihnachtsmannes, als plötzlich mitten in der Nacht ein Zug vor dem Haus steht, dessen Schaffner den Kleinen zum Einsteigen drängt. Zusammen mit den anderen Passagieren – allesamt Kinder in Schlafanzügen – beginnt eine spannende Reise zum Nordpol – die Heimat des Weihnachtsmannes.

Abschließend muss man sich tatsächlich eingestehen, dass Filme mittlerweile definitiv zum Weihnachtsfest dazugehören. Deshalb verwundern die Ergebnisse der Forsa-Umfrage auch nicht sonderlich. Es ist einfach schön mit der Familie, den Kindern, dem Partner (oder im Notfall auch alleine) im gemütlichen Wohnzimmer zu sitzen, die Kälte hinauszusperren, sich ein Glas Glühwein oder heißen Tee zu gönnen, dazu ein paar selbst gebackene Plätzchen oder schmackhaften Christstollen zu naschen und dabei Filme zu genießen, die man sich immer wieder gerne anschaut und die auch Erinnerungen wecken – vielleicht sogar an vergangene Weihnachtsfeste…

In diesem Sinne: Frohe Weihnachten und viel Spaß beim Filmeansehen!

DVD DIL SE / VON GANZEM HERZEN


DIL SE (dt: VON GANZEM HERZEN) (IND 1996)

R + B: Mani Ratnam; (Dialoge: Sujatha, Tigmanshu Dhulia). P: Shekar Kapur, Mani Ratnam, Ram Gopal Varma. K: Santosh Sivan. M: A.R. Rahman. SCH: Suresh Urs
D: Shahrukh Khan (Amarkahnt „Amar“ Varma), Manisha Koirala (Meghna), Preity Zinta (Preeti Nair); Raghuvir Yadav (Shukla)

Format: Dolby, PAL, Surround Sound
Sprache: Deutsch / Tamil
Untertitel: Deutsch
Region: Region 2
Bildseitenformat: 16:9 - 1.77:1
Anzahl Disks: 1
FSK: ab 16 Jahren
Spieldauer: 159 Minuten

(Text von unserer Partnerseite Terrorismus & Film)

Die erste deutsche DVD-Veröffentlichung bot noch eine bescheidene Bildqualität und nur die Untertitelung der bereits in Hindi synchronisierten Fassung. Bei der Neuauflage von DIL SE hat Rapid Eye Movies nun diesem jungen Klassiker des indischen Films mehr Aufmerksamkeit gewidmet. Die tamilische Originalsprachfassung von UYIRE (so der Tamil-Titel) ist zu haben, dazu noch eine deutsche Synchro-Version. Dass und wie letztere trotz der Schmähung der Genießer, die auf die Originalstimmen setzen, eine ganz eigene, aufwändige Kunst für sich ist, zeigt das Bonus-Material der neuen DIL-SE-DVD, in der u.a. Shahrukh-Khan-Sprecher Pascal Breuer bei seiner Arbeit gezeigt wird.

Damit ist geschickt kaschiert, was ansonsten etwas traurig ist: dass ein eigenes Making of von DIL SE oder dergleichen nicht zu haben ist – sicher weil es ein solches Material schlicht nicht gibt. Eine kleine Entschädigung bietet das 15-Seiten-Booklet mit einem Text von Susanne Marschall, Dozentin der Mainzer Filmwissenschaft und Expertin des indischen Kinos, die Hintergrundinformationen zu DIL SE beisteuert und auf diverse Vorzüge und Aspekte des Films hinweist.

DIL SE ist der dritte Teil von Mani Ratnams Trilogie über politische und religiöse Gewalt. Mit ROJA (1992) widmet er sich dem kaschmirischen Separatismus: Der Gatte der frischvermählten Südinderin ROJA wird dort gekidnappt, auf dass sie sich für seine Befreiung einsetzt. BOMAY / BUMBAI (1995) macht den Zwist zwischen Hindus und Muslimen zum Gegenstand; erst auf dem Land, wo sich Mann und Frau über die Religionsgrenzen hinweg verlieben, dann in der (titelgebenden) Großstadt, wohin sich die Beiden flüchten und wo sie vor ethnischen Differenzen scheinbar sicher sind – bis zu den Ayodhya-Unruhen mit ihren Grausamkeiten (1992/1993), die Indien bis heute traumatisiert haben.

Aus BOMBAY „mitgebracht“ hat Ratnam für DIL SE Manisha Koirala als seine Hauptdarstellerin. Sie spielt Meghna, eine scheue, abweisende junge Frau, in die sich der All-India-Radio-Reporter „Amar“, Repräsentant des zentralistischen, urbanen Indiens, Hals über Kopf bei seiner Reise in den unruhigen Nordosten verliebt. Shahrukh Khan gibt hier den für ihn typischen fröhlichen Charmeur mit Hoppla-jetzt-komm-ich-Attitüde, doch an Meghna beißt er sich die Zähne aus: Immer wieder begegnet er ihr, reist ihr nach, kommt ihr näher – und gibt schließlich doch auf, als sie erneut verschwindet. Er kehrt nach Delhi zurück, verlobt sich wie von den Eltern erwünscht (und arrangiert), ohne freilich Meghna vergessen zu können.



Diese steht dann pünktlich zur Verlobungsfeier vor Amars Tür. Denn was der Held noch nicht weiß: Meghna ist nicht (nur) die schutzbedürftige Frau, die es in und aus einer Welt der Gewalt zu retten gilt (wie es Amar sich in einer Song-and-Dance-Szene „erträumt“), sondern selbst eine durch politisches Trauma, Mord und Vergewaltigung seelisch verwüstete Aktivistin und Terroristin, die mit einer Gruppe einen Anschlag auf die indischen Unabhängigkeitsfeierlichkeiten plant. Die Polizei auf den Fersen, sucht sie nun Unterschlupf bei Amar und über seine Stellung bei der Presse Zugang zu den Festivitäten.

******* Achtung Spoiler! Informationen zu Wendungen und Ausgang des Films werden im Folgenden angesprochen und damit „verraten“ ****************

Amar gerät nun zwischen Polizei und Terroristen und kann Meghna, die bereits ihre Mission zu bezweifeln begann, aber sich die Liebe zu Amar nicht erlaubt (oder erlauben „kann“), abfangen, als sie sich mit der Sprengstoffweste versehen auf den Weg zum Attentat macht. In der typischen Bollywood-Welt der großen Geste kann und will Amar ohne Meghna nicht sein; auch sie ist hin und her gerissen – und ergibt sich, so schein’s, in ihr Schicksal. In höchster tragödischer Schließung werden Amar und Meghna von Meghnas Bombe zerrissen.

Ratnam, der in Madras (dem heutigen Chennai) an der Ostküste geboren wurde, arbeitet stets ein wenig außerhalb der „industriellen“ Standards, die das Bollywoodkino Mumbais vorgibt. Mit DIL SE hat er die Gesetze des „Masala“-Films jedoch zu sehr verletzt: Nach den Erfolgen von ROJA und BOMBAY wurde DIL SE erwartungsvoll in Hindi synchronisiert (normalerweise läuft es eher andersherum), doch der Film – im Ausland gepriesen – floppte trotz diverser Filmfare-Awards an den Kinokassen (so zumindest Virdi 2003).



So steht Amar mit seinem Darsteller Shahrukh Khan nicht nur für die indische Einheit, das ideale Hindustan und den Wert und Fortschritt der Nation beschwörenden Zentral-Inder, sondern auch für Bollywood mit seiner Leichtigkeit und damit dem Ungenügen gegenüber der realen Probleme und der Zerrissenheit des Landes an den Grenze. Diese symbolisiert Meghna, als Vertreter des „Anderen“, der Peripherie, für die die „heile Welt“ keine Gültigkeit haben kann (vgl. dazu auch Chakravarty 2005). Es ist denn auch nur bedingt richtig, wenn Susanne Marschall im Begleittext DIL SE als eine Auseinandersetzung mit dem Kaschmirkonflikt darstellt: Tatsächlich stehen Meghna, ihre Kampfgenossen, ihr Unfrieden, ihre Unzufriedenheit mit der Zentralregierung und die traumatische Gewalt, die sie radikalisiert haben stellvertretend für alle geographisch peripheren Krisenherde der Nation. Ratnam verwischt die konkreten Konfliktgrenzen bzw. verbindet sie: So beginnt der Film in Assam, wohin Amar reist, um die Bevölkerung zu interviewen. Er zeichnet Beschwerden über die Nichtbeachtung durch Delhi auf, befragt einen Rebellen- / Terroristenführer, der wegen der Unterdrückung für Unabhängigkeit kämpft. Erst später reist er Meghna nach Kaschmir nach, die dort schließlich in einer Hütte in einem Bergdorf den Terroristen-Eid ablegt.



Woher Meghna genau stammt, lässt der Film offen. Ihr Heimatdorf wird zum einen als schneebedeckt und bergig (Kaschmir), gleich im Anschluss als schneefrei und im Wald gelegen präsentiert – eine weitere Verlinkung des unruhigen Nordostens (mit Assam, Tripura, Nagaland etc.) und dem Kaschmirgebiet. Die entsprechende Rückblende wird jedoch deutlich und eindringlich, wenn es um ihr Schicksal geht, wenn er zeigt, wie die Menschen in ihrem Dorf getötet, ihre Schwester vergewaltigt und ihr (angedeutet) dasselbe widerfährt – eine Traumatisierung, die sie, mit ersticktem, zum Schrei erstarrtem Gesicht, wieder einholt. Amars traditionell virile Annäherung und die entsprechende Rollenverteilung vom erobernden Mann und der zu erobernden Frau des Bollywood-Kinos versagt damit besonders bitter.

Wenn Amar Meghna schließlich zur Rede stellt, bietet DIL SE einen ebenfalls besonders tiefgreifenden Schlagabtausch zwischen den beiden und die von ihnen repräsentierenden Positionen. Er will alles für sie aufgeben, davonlaufen sollen sie, Meghna alles vergessen. Die schreckliche Vergangenheit: Fehler einzelner. Und, ein besonders hartes Argument, von ihm, dem Sohn eines verstorbenen Militärs (und das Militär behauptet in Indien wie im Hindi-Kino eine besondere Ehrenposition): Ohne die Sicherheitskräfte würden sich die einzelne Stämme doch nur gegenseitig massakrieren. (Der Film zeigt denn auch die Grausamkeit in Meghnas Dorf nicht klar als eine der Armee, nur Waffen, Schemen, Subjektive der Vergewaltiger.)

Meghna kontert. Wirft ihm die Ferne zu den Schrecklichkeiten vor, die auch von den Sicherheitskräften begangen werden: Mord, Vertreibung, Vergewaltigung. Der Wunsch nach Rache entwächst daraus; darauf wird der Anschlag hinweisen – und wie kann Indien seine Unabhängigkeit feiern, wenn es zugleich die Völker an seinen Grenzen unterdrückt.



Beide haben sie Recht und beide irren sie, genauer: stecken hoffnungslos fest in ihrer Weltsicht und deren „Lösungen“. Die spröde, traurige Meghna kommt aus ihrem Hass, ihrem Kampf und der formalisierten Opferbereitschaft nicht (mehr) heraus; Meghna, der der Freiheitskampf die einzige Heimat und Identität verleiht. Amar wiederum hat und kann nicht mehr bieten als die fadenscheinigen Bollywood-Weisheiten vom Vergeben und Vergessen, dass lediglich Einzelne schuldig sind und die Liebe alles richten wird. DIL SE präsentiert diesen Widerstreit in letzter Konsequenz, wenn er seine beiden Liebenden zuletzt an und in ihren Gegensätzen, gegen und miteinander „zerreißt“.

Hierin ist und bleibt DIL SE freilich doch Bollywood, gibt Amar eher Recht und lässt ihn „gewinnen“: Der Anschlag wird verhindert (und für die restlichen Terroristen interessiert sich der Ratnam gar nicht mehr), Amar, der ohne seine Meghna nicht leben will, muss dies auch nicht; beide sind sie im Tod vereint. Immerhin findet so auch Meghna einen – wenn auch bitteren – Frieden. Warum die Bombe schließlich explodiert, einfach so oder bewusst gezündet, lässt DIL SE offen.

Letztlich ist DIL SE denn auch kein Politthriller, sondern „nur“ eine Liebestragödie, die jedoch bestechend direkt und eindringlich das Tragödische des Terrorismus einbindet und zur Schau stellt, indem er traurige Besessenheit mit Gutmenschen-Hoffnung kollidieren und beide aneinander ausradieren lässt. Dass er keinen Lösungsverweis jenseits der Welt des persönlichen Leids und seiner Kinotraumwelt anbietet, ehrt ihn dabei.



Für die richtige Mischung zwischen Kintopp und Problemfilm bieten denn auch die vorzüglichen Namen, die Ratnam hierzu versammeln konnte. Die mitreißende Musik stammt von A.R. Rahman, der 2009 den Oscar für SLUMDOG MILLIONAIRE (2009) erhielt, derweil die Tanzszenen von Farah Khan choreographiert wurden, die mit OM SHANTI OM (2007) und MAIN HOON NA (2004) selbst zur Erfolgsregisseurin avancierte.

Zwischen gelackter und poetischer Schönheit, Konstatierung und farbsymbolischer Kommentierung bezieht die Kameraarbeit von Santosh Sivan die richtige Zwischenposition – Santosh Sivan, der selbst als Regisseur arbeitet und sich mit THEEVIRAVAATHI: THE TERRORIST (1999) und TAHAAN (2008) dem Terrorismus und seinen Zu- und Umständen auf eine bisweilen fast elegische, impressive oder naturschwelgerische poetische Distanz gewidmet hat.

Bernd Zywietz

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Literatur:

Chakravarty, Sumita (2005): Fragmenting the Nation: Images of Terrorism in Indian Popular Cinema. In: J. David Slocum (Hg.): Terrorism, Media, Liberation. New Brunswick NJ / London 2005: Rutgers University Press, S. 232–247.

Marschall, Susanne (2009): Von ganzem Herzen. Mani Ratnams Meisterwerk. DVD-Begleitbooklet. Rapid Eye Movies.

Virdi, Jyotika (2003): The Cinematic ImagiNation. Indian Popular Films as Social History. New Brunswick, NJ / London: Rutgers University Press.

Neues über Klassiker – Der Essayband „Schattenbilder – Lichtgestalten“ über Fritz Lang und F.W. Murnau

von Harald Mühlbeyer


Maik Bozza, Michael Herrmann (Hrsg.): Schattenbilder – Lichtgestalten. Das Kino von Fritz Lang und F. W. Murnau.
Bielefeld 2009. 208 Seiten. 25,80 Euro


Ein Ziel, das die Herausgeber im Vorwort benennen, wird der Band sicherlich nicht erreichen: „Anregung zu sein zur weiteren Beschäftigung eines breiteren Publikums mit dem Stummfilm.“ Denn der Leser muss sich schon im Vorhinein mit dem Stummfilm beschäftigt haben, auf jeden Fall mit den neun Filmen, die in diesem Essayband besprochen werden. So genau, so breit gefächert, so tiefschürfend die Analysen sind: Die Inhalte der Filme lassen sich oftmals nur schwer aus den Aufsätzen rekonstruieren, der Leser ist gefordert, sich zu erinnern.

Was bei mir nicht das Problem ist, ich kenne all diese Filme, es sind ja Klassiker: die „Nibelungen“ oder „Metropolis“, „Der letzte Mann“, „Tartüff“ oder „Tabu“; manche bewundere ich gar – Murnaus „Faust“ oder „Sunrise“, Langs „Der müde Tod“ oder „M“. Sie werden hier ausführlich besprochen. Andere großartige Werke wiederum fehlen, „Nosferatu“ und „Spione“ etwa – aber die Auswahl erfolgte nach den Interessen der Beiträger, und das ist völlig in Ordnung.

Die Autoren stammen aus dem Umfeld der Tübinger Germanistik, und mit Verlaub gesagt: den sprach- und literaturwissenschaftlichen Untergrund merkt man den Aufsätzen an. Ganz genau werden da einzelne Gesten angeschaut, ganz genau einzelne Schnitte analysiert, ein bestimmter Gesichtsausdruck, ein Lichteinfall: die Texte der Filme werden sehr exakt, Buchstabe für Buchstabe, gelesen, und sie werden in Bezug gesetzt mit der Sekundärliteratur über die Filme, die Regisseure, die Filmgeschichte. Kaum einer der Essayautoren, der nicht Kracauers „Von Caligari zu Hitler“ diskutiert! Dieser Blick durch die Leselupe auf die Filme ergibt oftmals neue Aspekte, ruft Einzelheiten in Erinnerung, die man vergessen, weist auf Details hin, die man nicht bemerkt hat. Wobei allerdings durch diesen Blick auf die einzelnen Mosaikteile der Filme mitunter auch versäumt wird, das Gesamtbild im Auge zu behalten – die Ästhetik der Filme etwa, auch die Wirkung auf den (heutigen wie damaligen) Zuschauer bleiben immer wieder außen vor.

Die Texte stehen dabei jeder für sich; die Autoren konnten gar die Gestaltung ihrer Aufsätze in neuer oder alter Rechtschreibung frei wählen. Zudem hat jeder Autor seine eigene Herangehensweise an „seinen“ Film, Manfred Koch geht beim „Müden Tod“ auf Deutschtum und Todesmystik ein, Rainer Schelkle begutachtet mit den „Nibelungen“ auch die Frage des faschistischen Filmbildes, Sascha Keilholz dekliniert verschiedene Ordnungssysteme durch, die in „Metropolis“ zum Tragen (und zum Brechen) kommen, Wolfgang Kasprzik behandelt „Tabu“ unter theologiewissenschaftlichen Aspekten.

Dabei erweckt diese Vereinzelung der Texte gar nicht den Eindruck der Beliebigkeit, obwohl keiner einen näheren Bezug zu den anderen hat außer Epoche und Regisseur, die eben je eigen be- und verhandelt werden. Vielmehr wird mit dieser Art der Annäherung an die Filme – persönlich, aber film- und gesellschaftshistorisch fundiert, mit eigenem Blick, aber in der Diskussion mit der Rezeptionsgeschichte – auf jeden Fall den zweien Anspruch des Essaybandes erfüllt, den er an sich selbst hatte: Die Texte bieten – alle zusammen und jeder für sich – einen Beitrag zum filmwissenschaftlichen Diskurs. Weniger über die Epoche – dafür gibt es hier zuwenig Übergreifendes –, aber über die einzelnen Filme.


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Der mit der CGI tanzt: "Avatar - Aufbruch nach Pandora"

von Sascha Koebner

"Avatar – Aufbruch nach Pandora"

USA 2009. Regie, Buch: James Cameron. Kamera: Mauro Fiore. Musik: James Horner. Produktion: James Cameron, Jon Landau.
Mit: Sam Worthington (Jake Sully), Zoë Saldana (Neytiri), Sigourney Weaver (Grace), Stephen Lang (Colonel Miles Quaritch), Michelle Rodriguez (Trudy Chacon), Giovanni Ribisi (Parker Selfridge).
Länge: 161 Minuten.
Verleih: Twentieth Century Fox.
Kinostart: 17.12.2009


Skepsis machte sich unter den Kritikern breit, als nach der Veröffentlichung von Standbildern ein rund dreißigminütiger Zusammenschnitt vom ersten Spielfilmprojekt James Camerons nach zwölf Jahren kündete. Kann ein Film funktionieren, der oberflächlich den Eindruck erweckt, einem Computerspieltrailer zu entstammen? Bevölkert von grell-blauen Phantasiefiguren mit großen gelben Kulleraugen, die aussehen als seien sie die unehelichen Kinder von Disney und Weta? Doch - das Misstrauen des Publikums ist die vielleicht letzte große Hürde nach einem langwierigen Herstellungsprozesses, die es zu überwinden gilt: zu künstlich wirkten die computergenerierten Bilder, zu effekthascherisch Camerons Erklärung, neben filmspezifischer 3D-Technologie auch das hinlänglich bekannte Motion-Capturing-Verfahren revolutioniert haben zu wollen. Skepsis, die sich jedoch mit dem fertigen Film nicht bestätigt - soviel lässt sich gewiss vorwegnehmen.

Der Film spielt knapp 150 Jahre in der Zukunft. Die Menschheit schröpft in Form einer Firma die Bodenschätze des um Lichtjahre entfernten Planeten Pandora. Soldaten der US-Armee verdingen sich hier als bereitwillige Söldner, die die Operation von den Untieren des Dschungelsterns und seinen Ureinwohnern zu schützen versucht. Diese blauhäutigen, hochgewachsenen Humanoiden nennen sich Na‘vi, sind eins mit ihrer Natur und in ihren Sitten und Gebräuchen scheinbar verwandt zu irdischen Urvölkern. Sie sollten zuerst „missioniert“ werden - mit dem „Avatar“-Programm, das einen menschlichen Geist in einen genetisch gezüchteten Na’vi-Körper, den Avatar, herunter lädt. Doch sind die Lenker der Avatare bislang nur Wissenschaftler, bis Jake Sullys Zwillingsbruder jäh verstirbt. Jake, ein Marine, der nunmehr an den Rollstuhl gefesselt ist, nimmt seinen Platz ein und fungiert als Botschafter der Wissenschaftler unter Leitung von Dr. Augustine (Sigourney Weaver) und als Spion für die Militärpräsenz, die von dem vernarbten, grauhaarigen Haudegen Colonel Quaritch angeführt wird.

Das Treatment zu dem Film wurde bereits 1995 geschrieben, zu einer Zeit also, in der der Begriff „Virtual Reality“ in den Köpfen der Drehbuchautoren noch ein phantastischer Ort war, ein paralleles Universum voller Möglichkeiten und eben nicht die schnöde Feierabendbeschäftigung von Journalisten („Second Life“) oder Singles („World of Warcraft“). In dem Science-Fiction-Film „Strange Days“, 1996 geschrieben von Cameron und inszeniert von seiner damaliger Ehefrau Kathryn Bigelow, verkauft die Hauptfigur Lenny aufgezeichnete Erinnerungen, die man mittels Kopfapparatur als seine eigenen erlebt. In einer Szene schenkt Lenny die Erinnerung einer jungen Frau, die morgens einen Strand entlang joggt, einem Freund, dessen Beine amputiert wurden – im Kern ist Jake Sully eben jene Figur. Erstmal in den Körper seines Na’vi herunter geladen, rennt er aus dem Labor und vergräbt seine großen blauen Zehen tief in der braunen Erde eines Feldes, in dem die Menschen Essbares pflanzen.

Die Geschichte des Films ist indes einfach, nicht simpel, aber wohlvertraut: der Spion, der zu Anfang nur Befehle ausführt, lernt die Lebensweise der von ihm Infiltrierten zu schätzen, verliebt sich gar in seine Lehrerin, die zudem noch die Tochter des Häuptlings ist. Ihr Habitat hat der Stamm in dem Geäst eines gewaltigen, mehrere hundert Meter hohen Baums, unter dessen Wurzelwerk sich eine große Ansammlung des begehrten Metalls befindet, wegen dem sich die Menschen überhaupt auf Pandora tummeln. So lautet auch Jakes ursprünglicher Auftrag, die Na’vi zu einem friedlichen Abzug zu bewegen, bevor sich die Bagger einen Weg zu dem Riesenbaum gepflügt haben. Es kommt anders und so, wie es kommen muss. Der Frieden aber ist der Preis am Ende des Krieges – Camerons Indianer wehren sich gegen ihre Invasoren und sie haben eine Chance den Sieg davon tragen zu können. Mit Stöcken und Speeren kämpfen die blauen Männer und Frauen gegen die roboterartigen Laufgeräte (bekannt aus Camerons „Aliens“) und einer Vielzahl von Tod bringenden Hubschraubern.

Bösartige Zeitgenossen würden von einem ‚„Der mit dem Wolf tanzt“-Light’ berichten, einer Variante von „Pocahontas“ oder besser des „Last Samurai“ mitsamt einer Hauptfigur, die weitgehend um ihre inneren Dämonen beraubt zu sein scheint. Doch stimmt dies nur zum Teil: die Welt, die Cameron erschuf, ist durchdacht und reichhaltig an Einfällen. Die Na’vi haben ihre eigene Sprache, ihre eigenen Riten und ihre ganz eigene Art mit der Natur zu leben: weißliche Tentakel züngeln aus den Quasten ihrer schwarzen Zöpfe und dienen als wortwörtliche Verbindung zu der Fauna des Planeten, denn pferdeähnliche Wesen und geflügelte Echsen haben Andockpunkte, mit denen sich die Tentakel verbinden lassen, um so eine Symbiose einzugehen – wenn auch nur die zwischen Reiter und Reittier. Der Dschungel indes ist mit einer Vielzahl von Lebewesen bevölkert, die das Resultat von Camerons Beschäftigung mit der Tiefsee sind: Fluoreszierende Pflanzen, die Korallen ähneln, sechsbeinige Wildtiere, deren Kopf einem Hammerhai entstammen zu sein scheint, zart wabernde Geschöpfe, die wie Quallen aussehen und rochenartige Flugtiere bevölkern sein Pandora – ein Planet, der erst in der Bewegung zu vollem Leben erwacht, denn kein statisches Bild kann dem Eindruck an Lebendigkeit gerecht werden.

Wie gut und geschickt Cameron seinen Film zu inszenieren weiß, offenbart sich in vollem Umfang allerdings erst in der 3D-Fassung des Films. Anders als aktuelle 3D-Produktionen wie beispielsweise „Eine Weihnachtsgeschichte“ von Robert Zemeckis versteht es Cameron in die Tiefe zu inszenieren. Hier gibt es nicht nur schnöden Vorder- und Hintergrund, er erarbeitet sich seine Szene über eine Vielzahl von Ebenen, die die Wirkung der Stereoskopie subtil betonen und „Avatar – Aufbruch nach Pandora“ zu einem der ersten Film werden lässt, der ohne die dritte Dimension viel von seiner visuellen Strahlkraft einbüßen würde.

Natürlich ist „Avatar – Aufbruch nach Pandora“ kein Autorenfilm, kein Film, der seinem Publikum zu viel Eigenleistung abverlangt – er ist ein klassischer Blockbusterfilm, der sein Publikum möglichst zahlreich in die Kinosäle locken möchte. Ein hochqualitatives, packend inszeniertes, pointiert erarbeitetes Spektakel für Augen und Ohren mit einer moralischen Wohlfühl-Botschaft passend zur Weihnachtszeit. Ein Film auch, der bereits Dagewesenes auf noch nicht gekannte Weise zeigt. „Ich wollte ein bekanntes Abenteuer in einer unbekannten Umgebung erzählen“ sagt Cameron. Die Schlichtheit und Bescheidenheit dieses Satzes verschleiert sträflich, wie nahe James Cameron der Perfektion bei der Umsetzung seines Vorhabens gekommen ist. „Avatar – Aufbruch nach Pandora“ ist ein Erlebnis!

Kung-Fu-Weihnachten in Mannheim

Am Samstag, 19.12., laufen wieder um 21.30 Uhr zwei Grindhouse-Filme im Mannheimer Cinema Quadrat, diesmal unter dem Motto "China Kung Fu over the edge":

The Boxer's Omen

HKG 1983. R: Kuei Chi Hung. D: Philip Ko, Johnny Wang, Bolo Yeung. 103 Min. OmeU. Dig. Projektion. FSK: ab 18
BOXER’S OMEN: ein Nervenkitzel im Vollrausch mit zwanghaft diktierter Leidenschaft für Provokation und Zumutung: Triadenhäuptling Chan Hung hat mit ansehen müssen, wie sein Bruder Chan Wai vom gegnerischen Boxer Ba Bo hinterrücks in einem kickfight event in den Rollstuhl niedergeknüppelt wurde. Um es dem feigen Angreifer heimzuzahlen, geht er nach Thailand und fordert den vermeintlichen Sieger zur Revanche heraus. Doch auf dem Auslandstrip stößt er vermittels Abt Qing Zhao noch auf ganz andere Gefahren, deren Bekämpfung ihn nach Nepal, das Dach der Welt führen.


Holy Flame of the Martial World

HKG 1983. R: Tony Liu Jun-Guk. D: "Leanne" Suet-wa Lau, Jason Pai Piao, Philip Kwok. 85 Min. OmeU. Dig. Projektion. FSK: ab 18
Yin Jing, die Meisterin des Er Mei Clans, sowie Monster Yu und die sieben Martial-Arts-Grossmeister umzingeln Ching-Chung Wan und seine Frau. Die Angreiffer wollen an Ching-Chungs Wegbeschreibung zur "Heiligen Flamme", doch er rückt sie nicht heraus. Daraufhin tötet Yin die Familie, doch das Baby überlebt. Das Phantom reißt das Kind an sich und zieht es groß. 18 Jahre später ist aus Tien-sau Wan ein stattlicher junger Mann geworden, ausgestattet mit Kampffähigkeiten und Elan. Er macht sich auf der Suche nach der Heiligen Flamme. Unterwegs trifft er die hübsche Juan-Er, die sich in ihn verliebt und ihm beisteht. Sie finden die Waffe und kehren zum Phantom zurück. Das erklärt Tien-sau nun endlich, wer seine Eltern auf dem Gewissen hat...

„Tideland“: Magisch und schön

Terry Gilliam über seinen jüngsten Film „Tideland“, über Depressionen und die Sixties

von Harald Mühlbeyer

Dieses Interview ist auch Teil des ersten deutschsprachigen Buches über Terry Gilliam:
Harald Mühlbeyer: „Perception is a Strange Thing“. Die Filme von Terry Gilliam. Schüren Verlag, Marburg 2010. 240 Seiten, 24,90 Euro.
Darin bespricht Screenshot-Redakteur Mühlbeyer alle Gilliam-Filme – von Python bis Parnassus. Das Buch erscheint zum Kinostart von „Das Kabinett des Dr. Parnassus“.
In unserem Online-Shop können Sie das Buch bequem vorbestellen - auch wenn Amazon noch kein Umschlagbild zur Verfügung stellt...


“Tideland“ ist die kleine Schwester zu den „Brothers Grimm“.
Nach seinem phänomenalen Abgesang auf die Goldene Zeit der Sechziger in „Fear and Loathing in Las Vegas“ arbeitete Terry Gilliam an verschiedenen neuen Filmprojekten – und scheiterte fortwährend; am bekanntesten ist sicherlich der Untergang seines Don Quixote-Projektes im Herbst 2000, das nach einer Woche Dreharbeiten aus widrigsten Umständen hat abgebrochen werden müssen. Also – mehr oder weniger, um überhaupt zu arbeiten – übernahm Gilliam die Regie bei dem Weinstein Bros.-Produktion „The Brothers Grimm“, Dreharbeiten im Sommer 2003. Ein Alptraum für den individualistischen, widerspenstigen Regisseur, ließen ihm doch die grimmigen Weinstein-Brüder kaum Zeit, das (ziemlich schlechte) Drehbuch zu überarbeiten, verweigerten ihm seine Wunsch-Hauptdarstellerin und feuerten nach drei Drehwochen den Kameramann. Auch während der Postproduktion gab es Streit; und so wandte sich Gilliam kurzerhand seinem „Tideland“-Film zu, einem der Prä-Grimm-Projekte, für das Produzent Jeremy Thomas nun endlich die Finanzierung stemmen konnte als britisch-kanadische Co-Produktion.

Das war ein Novum in Gilliams Geschichte als Filmemacher: Dass er an zwei Filmen gleichzeitig arbeitete, die dann auch innerhalb eines Monats im Frühherbst 2005 ihre Uraufführungen erlebten. Dabei entpuppte sich „Brothers Grimm“ als ein Hybride, der irgendwo zwischen formelhaftem Hollywood-Blockbuster und Gilliam-Vision steckenblieb. Und der folglich an der Kinokasse unterging. Während „Tideland“, ohne Hollywood-Geld realisiert, jahrelang auf einen Verleih in Großbritannien und den USA warten musste und in Deutschland – welch Armutszeugnis – überhaupt nicht ins Kino kam. Nun endlich, über zwei Jahre nach der Premiere, erscheint „Tideland“ auch in Deutschland auf DVD.

Immerhin ist die Doppel-DVD von Concorde Home Entertainment angemessen für diesen eigenwilligen (und schon deshalb großen) Film: Sie enthält unter anderem einen dialogischen Audiokommentar von Gilliam und Co-Autor Tony Grisoni und ein Making of von Vincenzo Natali („Cube“, 1997), dazu viele informative Interviews - und eine Synchronisation, die nicht misslungen ist.

Diese stiefmütterliche Direct-to-DVD-Behandlung des Films liegt möglicherweise daran, dass „Tideland“ den Zuschauer fordert. Man ist gezwungen, sich auf den Film einzulassen – und damit auf die Perspektive der zehnjährigen Jeliza-Rose, die in desolanten Verhältnissen bei drogensüchtigen Eltern aufgewachsen und die auf sich selbst angewiesen ist, seitdem ihr Vater im Sessel vor sich hin verwest. Sie streift durch das hohe Gras rund um ein halbzerfallenes Farmhaus und versucht, die Welt zu verstehen, ihr einen Sinn zu unterlegen aus all dem Stückwerk, das ihr bisher geboten wurde von den heruntergekommenen Eltern und einem verblödenden TV-Konsum. Sie unterhält sich mit ihren verratzten Barbiepuppenköpfen, liest „Alice im Wunderland“ und trifft auf die Nachbarn, der unheimlichen Leichenpräparatorin Dell und den lobotomisierten Kindskopf Dickens, der sich als Kapitän im Kampf gegen einen bösen Hai sieht. Mitten in den herbstlichen Feldern von Texas…

Keine leichte Kost, und sicherlich nicht popcorngeeignet. Denn der Film lässt sich ganz auf die Erlebniswelt von Jeliza-Rose ein, übernimmt mehr und mehr ihre Sichtweise der Welt, um dann wieder kurze Blicke auf die wahre Realität der Verhältnisse zuzulassen. Ein Spagat, bei dem man sich bewusst mitspreizen muss. Und selbstverständlich ist dieses willige Sich-Fallen-Lassen für den Zuschauer leichter in einem Kinosaal, in der gemeinschaftlichen Filmlektüre vor großer Leinwand, als zuhause im Sessel mit DVD auf Bildschirm.
Doch nur wenige können sich glücklich schätzen, „Tideland“ im Kino gesehen zu haben – beim Filmfest München 2006, auf der eDIT Frankfurt 2006, beim Wiesbadener Exground 2006.

In München, im Juli 06, hatte unser Redakteur Harald Mühlbeyer die Möglichkeit, Terry Gilliam zu interviewen. Bei ca. 35° Celsius abends um halb 11 hatte Screenshot eine halbe Stunde Zeit – viel zu wenig, aber Gilliam ist Mitte 60 und muss auch mal ins Bett…



Screenshot: Sie haben sich bei „The Brothers Grimm“ und „Fear and Loathing in Las Vegas“ als Dress Pattern Maker bezeichnet. Ist das eine wirkliches theoretisches Konzept, einen Film nach einem vagen Schnittmusterplan zu drehen, oder nur ein Witz, wenn Sie keinen Drehbuch-Credit bekommen?
Terry Gilliam: Das beruht auf Dingen, die bei „Fear and Loathing“ und wieder bei „Grimm“ passiert sind, für die sowohl Miramax als auch die Writer’s Guild verantwortlich sind. Wir, Tony Grisoni und ich, haben keinen Autoren-Credit bekommen, deshalb nannten wir uns Dress Pattern Maker, als ich „Grimm“ veröffentlichte. Ich sagte, wir machen keine Filme mehr nach Drehbuch, sondern nach einem Schnittmuster. Die Writer’s Guild wollte uns aber sogar verbieten, uns Dress Pattern Makers zu nennen, sie wollte uns jeden Drehbuchcredit verweigern. Diese ganze Organisation ist mit ihren Regeln so lächerlich. Ganz ans Ende von „Grimm“ wollte ich einen Credit setzen „In Memory of Tony Grisoni“, aber die Writer’s Guild ließ uns selbst das nicht tun. Denn das hätte angedeutet, dass er etwas von „Brothers Grimm“ geschrieben hat.

Zu Anfang der Grimm-Produktion waren bei imdb noch Gilliam und Grisoni als Drehbuchautoren gelistet, aber die Namen sind dann verschwunden.
Es war so: Miramax, bzw. Dimension, was die gleiche Firma ist, haben unsere Namen vom Drehbuch genommen. Auf dem Drehbuch standen drei Namen: Ehren Kruger, Tony Grisoni und meiner. Aber als sie das Drehbuch bei der Writer’s Guild einreichten, haben sie Tonys und meinen Namen gestrichen und nur Ehren stehen lassen, weil Ehren der Lieblingsautor von Bob Weinstein ist. Wenn das Script bei der Writers Guild ankommt, kommt der offizielle Moment. Und für einen Credit hätten Tony und ich zwei Drittel des Drehbuchs schreiben müssen. Also habe ich gesagt, dass ich als Regisseur keine Nennung brauche, dann hätte es für Tony gereicht, die Hälfte geschrieben zu haben. Aber Tony war so wütend darüber, dass er seinen Credit auch ablehnte. Weil sich die Writer’s Guild nicht für die Wahrheit interessiert. Also hat Ehren den vollen Drehbuchcredit bekommen. Wer eine Einzelnennung hat, erhält auch mehr Geld, also hat Ehren nichts gesagt. Ich finde das alles einfach obszön.

Wenn man sich die Literatur über Terry Gilliam ansieht, scheint es, als gäbe es bei Ihren Filmen immer nur Probleme. Liegt das an Ihnen, oder ist es immer der böse Produzent?
Nein, das liegt hauptsächlich daran, dass ich faul bin. Deshalb führe ich kein Tagebuch, und so lasse in Journalisten ans Set, während ich den Film drehe. Denn mein Gedächtnis ist schrecklich, und ich vergesse hinterher immer alles – das ist auch der Grund, warum ich weiter Filme mache: Ich vergesse, wie so ein Dreh abläuft. Ich gebe den Journalisten freie Hand, ich stecke mir ein Mikrophon an und lasse sie machen. Ich zensiere nicht, was sie machen, sie haben also die Möglichkeit, wahrheitsgetreu über den Dreh des Films zu berichten. Und deshalb sieht es so aus, als hätte ich immer Probleme. Das stimmt zwar, aber jeder Filmemacher hat Probleme. Das ist nichts Einmaliges. Ich denke, einmalig ist bei mir nur, dass jemand die Probleme aufschreibt. Wenn man heute normalerweise ein Making of oder ein Behind the Scenes sieht, ist es eine PR-Aktion des Studios, glückliche Menschen erklären, wie wunderbar der Film war. In „Lost in la Mancha“ bin ich am Anfang glücklich und enthusiastisch, und dann irgendwann werde ich immer bitterer... Dieser Film zum Beispiel zeigt mich, wie ich wirklich bin. Meine Frau findet, dass ich immer so bin: unglücklich, deprimiert. Das stimmt auch, wenn ich auch in der Öffentlichkeit immer lache und den Fröhlichen spiele.

Gestern bei der Diskussion beschwerten Sie sich über Journalisten, die Sie fragten, für welches Publikum Sie den Film „Tideland“ gemacht haben. Ich muss sagen, ich verstehe diese Frage auf gewisse Weise: Bei der Pressevorführung sind vier oder fünf Journalisten hinausgegangen.
Oh, das ist sehr gut, nur vier oder fünf! Ich hätte mehr erwartet!

Das Kino war ziemlich klein.

Oh, es hätten sogar mehr sein dürfen! Und wenn Sie sagen: Was ist Ihr Publikum – ich weiß es nicht. Ich weiß nicht, was ein Publikum ist. Was ich kenne, sind individuelle Menschen. Es ist ganz einfach: Dieser Film hat nichts zu tun mit deinem Alter, sondern mit deiner Einstellung. Und es scheint mir, dass Menschen, die mit sich selbst im Reinen sind, es mit dem Film leichter haben. Wer mit sich selbst weniger im Einklang ist, für den wird der Film schwieriger sein. Das ist es. Wenn ich zurück in London bin, werde ich versuchen, Vorführungen für Jüngere zu organisieren, für 11, 12, 13-Jährige, um zu sehen, wie sie den Film aufnehmen. Ich weiß, wie 14jährige reagieren, sie mögen ihn wirklich, weil sie sich mit ihm identifizieren. Die Mädchen zumindest, bei Jungen weiß ich es nicht.

Es ist einer Ihrer verstörendsten Filme, denke ich.
Ja, stimmt, denn er behandelt Themen, die ständig in den Medien vorkommen. Bei uns geht es um Tod und um Sex und um Pädophilie. Nein, nicht wirklich um Pädophilie, aber viele Menschen wollen darüber reden, obwohl es im Film gar nicht darum geht. Ihre Reaktion bei einer Szene zwischen Jeliza-Rose und Dickens, wenn sie sich küssen, bringt bei ihnen die Idee von Pädophilie auf, denn Dickens ist körperlich ein Erwachsener, mental aber ist er ein Kind.

Es ist eher Nekrophilie im Film.
Oh, da ist eine Menge Nekrophilie im Film, ja. Es geht um mentale Beschädigungen und um sehr traurige Menschen. Und Jeliza-Rose ist im Grunde die Unschuldige, die da hindurchtreibt. Sie ist auch die mit der meisten Energie, mit dem meisten Leben. Ihre Eltern sind komplett kaputt, Dell ist eine sehr traurige Figur, Dickens ist sehr geschädigt, aber er teilt auch ihren Enthusiasmus und ihre Fähigkeit, sich bestimmte Dinge vorzustellen. Aber seine Einbildungskraft ist enttäuschend für sie. Wenn er von seinem Unterseeboot erzählt und von Seefahrten, dann geht sie richtig mit, aber wenn sie dann sein U-Boot betritt: Uh, was ist das für Müll! Wie furchtbar! Aber sogar dadurch hört sie nicht auf, träumen zu wollen.

Das Drehbuch hat eine ungewöhnliche Struktur. Es folgt ganz der unkontrollierten Vorstellungskraft des Kindes.

Ich weiß. Viele mögen den Film nicht, weil er keine Struktur hat, die sie verstehen können. Für viele ist das schwierig, weil wir so vorprogrammiert sind für bestimmte Strukturen. Wir sind an sie gewöhnt. Und das war es, was ich an dem Roman gemocht habe: Ich habe nicht gewusst, wo er hinwill, ich musste immer weiterlesen. Kann ich also das Interesse der Leute aufrechterhalten und sie dazu bringen, beim Film zu bleiben, obwohl die Struktur so ungewöhnlich ist? Filmstrukturen haben sich Popsongs angeglichen, damdadamdadam, Mittelteil, damdadamdadam. Wir kennen das, und wir fühlen uns wohl dabei. Beim Film ist es genauso: Wir kennen die Struktur, und wir mögen das. Aber ich sage: Fuck it. Diese Struktur ist, was sie ist.

Es ist ganz Anti-„Brothers Grimm“. Dort haben wir die strenge Dreiakt-Struktur.
Ja, da haben wir eine sehr normale Struktur. Dam, dam, dam. Dieser ist anders, und ich denke, das ist gut. Und die einzige Frage für mich war beim Dreh und beim Schnitt: Können wir das Interesse des Publikums aufrechterhalten, auch wenn die Struktur ganz anders ist als was man sonst gesehen hat. Man kann sich nicht auf die Struktur verlassen, aber kann das Publikum bei den Charakteren bleiben? Sind sie genug an den Figuren interessiert, können sie sich genug damit identifizieren, um die ungewöhnliche Struktur auszuhalten?

Die Charaktere sind ebenfalls sehr bizarr.

Ja, natürlich. Wenn Sie also fragen: Wer ist das Publikum – ich weiß es nicht. Meine alberne Antwort ist immer: Der Film ist für Leute, die ihn mögen, und nicht für Leute, die ihn nicht mögen. Das ist das Publikum. Manche Leute überraschen mich aber, wenn jemand, von dem ich es nicht erwartet hätte, den Film mag. Ich denke, es ist wie eine andere Sprache, und ob man sie erlernen will oder nicht. Weil der Film ein Low-Budget-Film ist, muss ich nicht so viel Geld machen, um die Gewinnschwelle zu erreichen. Für mich ist ein erfolgreicher Film einer, der kein Geld verliert. Wenn er einen Dollar Gewinn macht, ist es ein großer Erfolg.

Die Bilder in „Tideland“ sind auch anders als in Ihren anderen Filmen. Sie sind nicht vollgestopft, sondern weit und ausgedehnt, sie verstärken die Einsamkeit von Jeliza-Rose.

Ja, das hat Spaß gemacht. Es war neu für mich, deshalb wollte ich es so machen. Da ist ein Atmen in diesem Film, die Außenaufnahmen lassen einen Aufatmen: Ah, das ist wunderbar! Es ist frei, es ist groß, wir können atmen und rennen. Innen, im Haus aber verrottet und verfällt alles, es ist gefährlich da, man weiß nicht, was vor sich geht.

Außen ist aber auch alles tot: kahle Bäume, braunes, dürres Gras.
Sie sind depressiver als ich es bin.

Ich weiß nicht, ich bin nicht wirklich deprimiert.
OK, das Gras scheint tot zu sein, aber es ist Herbst, es ist also nicht tot, sondern kommt wieder. Das ist die Natur außen, sie stirbt und ersteht wieder. Im Haus ist es nicht so klar, alles verfällt, aber wir wissen nicht, ob es jemals wieder zum Leben zurückkehrt.

Da gibt es diesen Begriff des Hamster-Faktors, dieses kleinen, versteckten, symbolischen Details in einem Gilliam-Film. Gibt es so etwas in Tideland?
Nicht so sehr. Die Details sind eher einfach die Kleinigkeiten, die die wirkliche Welt ausmachen. Es ist alles recht offen, es gibt viel weniger Hintergrund, denn der ist einfach die Welt. Es gibt nicht so viele versteckten Überraschungen. Aber ich kann sagen: Wenn man den Film ein zweites Mal sieht, ist er trotzdem anders. Viele, mit denen ich geredet habe und die den Film zweimal gesehen haben, haben ihn das zweite Mal anders gesehen. Denn man kann dann mehr entspannen. Beim ersten Ansehen waren sie sehr nervös, weil wir sie einen Weg führen, von dem sie denken, dass alles sehr schlimm wird. Aber das wird es nicht. Zumindest nicht auf die Weise, die man erwartet. Beim zweiten Mal ist man also entspannter. Ein Journalist in Paris, der aus Lyon kam, sagte mir, dass er das erste Mal, als er den Film sah, ihn nicht mochte. Er war angeekelt und verstört. Aber er mochte meine anderen Filme und sagte sich: Ich muss „Tideland“ nochmal sehen. Und beim zweiten Mal bemerkte er, dass er sehr sanft ist, zärtlich und liebevoll. Und er hat den Film geliebt, hält ihn für wunderbar. Das ist auch bei anderen passiert, mit denen ich gesprochen habe, dass das zweite Mal die Sicht auf den Film verändert hat. Beim ersten Mal fühlt man sich oft unbehaglich und unsicher, man sagt: Ich will nicht dahin, wohin du mich führst. Aber wenn man das erste mal überlebt hat, sieht man ihn beim zweiten Mal, wie er ist.

Das Ende des Films ist etwas ambivalent. Da ist ein katastrophales Unglück und da ist etwas wie der Kern einer neuen Familie, vielleicht, aber sogar die Glühwürmchen bedeuten für beide Übriggebliebenen etwas ganz Verschiedenes. Es ist wie ein großes, ironisches Missverständnis.
Über das Ende hat jeder seine eigene Meinung, wie es zu deuten ist. Ich werde meine nicht sagen. Bei der Vorführung gestern hat mich eine Frau gefragt, warum da ein Unglück ist, warum da Menschen sterben müssen, damit Jeliza-Rose überleben kann. Well, that’s life, folks. Menschen sterben in großer Anzahl, andere überleben. Japaner verstehen das viel besser, dieses apokalyptische Ende, an dem die Erde stirbt und wiedererneuert wird. Dort versteht man diese Erneuerung viel besser.

Wie der Herbst in der Natur.

Genau, alles ist Herbst. Es muss Winter werden vor dem Frühling. Das Unglück ist der Winter. Aber viele sehen es nicht so, sie fühlen sich gestört, wenn all die Menschen sterben müssen. Sehen Sie sich „12 Monkeys“ an, da sterben fünf Milliarden Menschen, aber die Welt geht weiter, und die Menschheit überlebt. So ist es immer. Im Ersten Weltkrieg starben 14 Millionen Menschen, und dann kam die Grippe-Pandemie und 18 Millionen starben. Das vergessen wir oft, dass es viel Tod gibt. Jeder hängt nur am Leben, an jedem Stückchen Leben.

Wobei es in „12 Monkeys“ eine Kreisbewegung ist, der Zuschauer weiß, wo man wieder herauskommt, und immer so weiter.
Ja, Sie haben Recht.

Während es in „Tideland“ weitergeht, und man weiß nicht, wohin es mit Jeliza-Rose geht. Wird sie verrückt, oder lebt sie „normal“ weiter.

Ja, vielleicht waren diese wenigen Tage die interessantesten ihres Lebens. Vielleicht wird sie ein normales, bürgerliches Leben führen und immer an diese Tage zurückdenken, als das Leben außergewöhnlich war. Ich weiß es nicht. Als wir den Film gedreht haben, hatten wir einen Witz darüber. Denn beim Dreh hat man viel Zeit, die man nur mit Warten verbringt, und man denkt sich dann Theorien aus, was im Film wirklich vor sich geht. Und unsere Theorie war: Jeliza-Rose ist ein Serienkiller. Sie tötet ihre Mutter, tötet ihren Vater, tötet Dickens und vielleicht ist die freundliche Frau am Ende ihr nächstes Opfer.

Hier sind wir bei einem Gedanken von mir. Denn natürlich steckt „Psycho“ in „Tideland“ drin, aber da steckt auch „Texas Chainsaw Massacre“ drin, denke ich.
Ich habe nie an „Texas Chainsaw Massacre“ gedacht. Viele Menschen sehen das, aber ich hasse „Texas Chainsaw Massacre“. Ich liebe „Psycho“. An „Texas Chainsaw Massacre“ habe ich überhaupt nicht gedacht.

Aber Dell und die Leiche des Vaters, in die sie ihr Messer stößt…
Das ist etwas anderes. Das ist die Tätigkeit einer Mumifizierung. Und es geht um ihre Liebe für diese Menschen, sie will sie nicht loslassen. Und das ist ganz anders als in „Texas Chainsaw Massacre“. Das Messer in der Leiche: Das ist einfach nur ein Körper hier. Sie will ihn konservieren, aber andererseits ist es nur ein toter Mann.

Für mich macht sie eine Art Witz für Jeliza-Rose, wenn sie mit großer Gebärde das Messer in die Leiche stößt.
Ja, richtig. Dell ist eine sehr seltsame Person, aber nicht bösartig. Sie ist traurig, sie will die Dinge festhalten. Und sie fühlt sich unbehaglich mit anderen Menschen, mit der Gesellschaft. Sie will es einfach machen für Jeliza-Rose: Hey, es ist nur ein Körper! Das ist der Gedanke, ein Witz fast. Sicher, sie ist verrückt, aber nicht verrückt und gefährlich, sondern verrückt und traurig, weil sie einmal geliebt wurde.
Das ist eine Seite des Films, mit dem ich bewusst spiele. Ich nehme diese Dinge, von denen ich weiß, dass sie die Leute verstören und an andere Dinge erinnern, aber ich versuche zugleich sie zum Nachdenken zu bringen. Es hat zu tun mit „Psycho“, mit der Beziehung zwischen Anthony Perkins und seiner Mutter. Das ist sehr traurig, er will an dem festhalten, was er liebt. „Chainsaw Massacre“ hat nichts damit zu tun, da geht es um Misanthropie und Brutalität. Ich hasse diesen Film. Ich habe vielleicht ähnliche Bilder, aber sie haben vollständig andere Bedeutungen. Und es ist interessant, ob die Menschen die wirkliche Bedeutung erkennen oder nur die oberflächliche Ähnlichkeit mit etwas anderem.

Ich habe ebenfalls an Polanskis „Ekel“ gedacht.

Nein, daran habe ich nicht gedacht.

Dort ist die Frau, die verrückt wird, weil sie allein ist, und gleichzeitig vergammelt etwas, ausgerechnet ein Kaninchenbraten. Das ist wie Jeliza-Rose und ihr toter Vater.
Ja, natürlich, das steckt drin, aber ich habe nie daran gedacht. Was interessant ist: All das habe gar nicht ich geschrieben, es steckt im Roman von Mitch Cullin, ich habe nur das Buch gelesen und gemerkt, dass es in mir nachhallt. Und meine direkte Reaktion war: Machen wir den Film, denn er wird einige verrückt machen und anderen eine gute Zeit bescheren. Auf dem kanadischen Poster sagt David Cronenberg „ein poetischer Horrorfilm“. Wir behandeln also Elemente des Horrorfilms, aber nicht in derselben Weise. Wir nehmen also etwas, was den Leuten bekannt ist, und machen es mit einer bestimmten Denkhaltung zu etwas anderem.

Aber natürlich haben Sie die Anspielungen auf „Alice im Wunderland“ verstärkt, ich glaube, im Buch gab es keine so expliziten Verweise. Und damit, finde ich, schließt sich ein Kreis zu „Jabberwocky“.

Finden Sie? Ich glaube nicht, dass es da irgendwelche Verbindungen gibt.

Naja, ich denke mir viele Theorien aus. Und ich denke: In „Jabberwocky“ prallen zwei Märchen aufeinander, und in „Tideland“ zwei verschiedene Fantasiewelten von Jeliza-Rose und Dickens, die dann nicht zum Happy End, sondern zur Katastrophe führen.
Ich denke, „Jabberwocky“ ist ein viel klareres Zusammentreffen zweier Märchen. Und daran habe ich bei „Tideland“ gar nicht gedacht. Hier spiele ich mit der vorgefassten Meinung der Zuschauer, die glauben zu wissen, wohin der Film führt. Aber weil es um Fantasiewelten geht, mögen Kinder den Film. Wenn Jeliza-Rose am Ende in diese Katastrophe hineingeht und sich umschaut, und dann ergibt plötzlich alles einen Sinn: Das hat Dickens vollbracht, er ist ein Held, und wir werden glücklich bis ans Ende unserer Tage leben! Aber natürlich ist es nicht so. Das ist der ultimative Moment, wenn ihre Vorstellung ihr nicht hilft. Menschen sterben und sind tot, und sie kommt an, ganz unschuldig, und hält es für eine große Erfolgsgeschichte. Aber das ist es nicht, und sie ist verloren in diesem Moment. Und nun weiß sie nicht mehr, woran sie sich festhalten soll, nichts ergibt mehr einen Sinn. Ihre Fantasie hat versagt. Da ist die ganze Realität um sie, der Tod und das Sterben, und sie merkt: Ist Dickens auch tot? Das einzige, was ihr am Ende bleibt, ist die nette Frau und ihre Freunde, die Glühwürmchen. Es gibt immer noch Hoffnung für ihre Einbildungskraft. Ich weiß nicht, wohin es danach führt, das ist für das Publikum offen zu entscheiden. Es endet wie „2001“ im Gegensatz zu „Close Encounters“.

Ich dachte ein wenig, dass der Vater, von Jeff Bridges gespielt, eine Art schlechtestmögliche Weiterentwicklung von Dr. Gonzo oder Raoul Duke ist.
Möglich. Als wir den Film gedreht haben, haben wir vor allem an den Dude aus Big Lebowsky gedacht. The Dude, zehn Jahre später. The Dude is dad, and the Dude is dead. Nein, es ging nicht speziell um „Fear and Loathing“. Aber sicher geht es um jemanden, der wie Hunter ein großer Rock’n’Roller war, und dann geht es verloren, er wird alt und bitter und drogensüchtig. Aber keine direkte Verbindung in meinem Konzept.

Ist das Ihre Haltung über die Nachwirkungen der 60er?
Ja, wir waren ein Teil davon, also haben all diese Dinge etwas damit zu tun. Die 60er waren toll, weil alles von selbst in alle Richtungen explodiert ist. Alles war voller Optimismus und Hoffnung und dem Gefühl, dass wir die Welt verändern würden. Und wir haben sie verändert, ein wenig zumindest. Aber nicht so sehr, wie es sich jeder erträumt hätte. Dann setzte die Depression ein, nach J.F. Kennedy, Robert Kennedy, Martin Luther King: Was passiert jetzt? Jeder stirbt. In den 80ern ging es dann nur noch um Ich, Ich, Ich.
„Fear and Loathing“ wurde in den 70ern geschrieben, aber schon da waren die 60er und ihr Geist Vergangenheit. Ich habe Amerika 1967 verlassen. Gegen Ende der 60er war es schon vorbei. Als ich dann das erste Mal „Fear and Loathing“ gelesen habe, habe ich alles vollauf verstanden: Der Verlust eines Traumes. Und es ist nie wirklich besser geworden. Damals haben wir alle, die dabei waren, gedacht, dass alles wunderbar wird – was ziemlich naiv war. Aber wir waren alle jung. Und es war aufregend. Es gab auch viel Verlust durch Drogen, viele sind daran gestorben, was schade war. Ich mag Drogen überhaupt nicht, ich beschönige sie nicht. Ich verurteile sie aber auch nicht. „Fear and Loathing“ handelt nicht von Drogen, auch wenn viele das meinen. Es geht um verzweifeltes Verhalten, wenn die ganze Welt zusammenfällt, und man nicht weiß, was man tun soll.

Eine Flucht vor der Realität, wie bei Jeliza-Rose. Aber es sind unterschiedliche Auffassungen von Drogen in „Fear and Loathing“ und „Tideland“.
Ja, genau. Aber Jeliza-Rose läuft nicht vor der Realität davon. Sie ist ein Kind, die die Welt zu verstehen versucht.

Sie vereinfacht die Wirklichkeit.
Die Welt wird um sie herum gebildet, es ist wie in einem Hagel. Alles Mögliche geschieht um sie herum, und sie reagiert auf unterschiedliche Weise. Wie in der Szene, wenn sie Dell begegnet. Dell ist ein schwarzer Riese, die Hexe von Wizard of Oz, der Dschinni von Aladin. Jeliza Rose ist ganz „Wow, Wahnsinn“, und der Wind bläst so sehr, und dann merkt sie: Es ist doch bloß eine Frau.

Und dann wird Dell zum verrückten Hutmacher aus „Alice im Wunderland“: sie zitiert wörtlich aus Carrolls Buch.
Dell verändert sich in dieser Szene, weil Jeliza-Rose herauszufinden versucht, wer diese Frau ist. Sie ist erschreckend und wunderbar und normal und langweilig und bedrückend. Es ist also ihr Akt des Ergründens, wer Dell ist. Und ich habe es so gedreht, um Jeliza-Roses Reaktionen zu betonen auf das, was passiert. Die Kamera verändert Dell dauernd, verändert ihre Form und ihre Größe.

Ist ihre Herangehensweise ans Filmemachen heute anders als in der Zeit von „Jabberwocky“ oder „Time Bandits“? Ihre Filme sind düsterer, depressiver, „Tideland“ oder auch „Fear and Loathing“, wo es hinunter in die Hölle geht.
Ich werde älter.

Sie sollten einen Film pro Jahr machen wie Woody Allen, dem das Drehen gegen seine Depressionen hilft.
Wenn mir das Geld zur Verfügung stehen würde, Filme machen zu können wann und wie ich will, wäre ich weniger deprimiert, und niemand müsste sich „Tideland“ ansehen. Je weniger ich die lustigen Filme machen kann, die ich vorhabe, desto mehr komme ich zu den düsteren Filmen. Wenn ich also die einen nicht machen kann: Passt auf!
Aber „Tideland“ finde ich nicht depressiv. Ich finde es magisch und schön. Es hat ein Ende, das einen unsicher zurücklässt, wie man es finden und darauf reagieren soll. Eher Frauen als Männer scheinen sich auf den Film einzulassen. Bei einem Festival in England kam eine Frau aus der Vorstellung, und sie strahlte, sie hat ihn einfach geliebt. Manche kommen so heraus und finden ihn einfach ganz wunderbar.
Ich habe ein paar Filme gemacht, viel Geld verdient, aber jedes Projekt ist wie ein Neuanfang. Als hätte ich zuvor nie etwas gemacht. Es ist verrückt. Ich verbringe mehr Zeit damit, ein Projekt zum Laufen zu bringen, als es dann durchzuführen. Ich bin 65 Jahre alt, ich kann mit 66, in ein paar Monaten, sterben. Wie viele Filme kann ich noch drehen? Die Filme, die ich wirklich machen will, sind sehr teuer, die einzige Möglichkeit, sie zu machen, ist, einen Top-Schauspieler zu haben. Das Projekt, an dem ich gerade arbeite – es ist noch nicht spruchreif –, haben drei A-List-Actors abgelehnt, alles Freunde, aus unterschiedlichen Gründen, sie können es nicht machen, weil sie an etwas anderes gebunden sind. Jetzt muss ich neue Stars finden.


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In unserem Inneren eine Insel voll Monster - "Wo die wilden Kerle wohnen"

von Elisabeth Maurer

"Wo die wilden Kerle wohnen" / "Where The Wild Things Are"
Regie: Spike Jonze. Drehbuch: Spike Jonze, Dave Eggers. Kamera: Lance Acord
Musik: Karen O, Carter Burwell. Produzenten: Tom Hanks, Gary Goetzman, John Carls, Maurice Sendak, Vincent Landay.
Darsteller: Max Records, Catherine Keener, Mark Ruffalo.
Verleih: Warner Bros.
Laufzeit: 101 min
Start: 17.12.2009

Basierend auf dem 1963 erschienen Bilderbuch von Maurice Sendak erzählt Spike Jonze in seinem dritten Film nach „Being John Malkovich“ und „Adaptation“ von dem Jungen Max (Max Records), der die meiste Zeit alleine spielen muss, weil seine ältere Schwester sich lieber mit Freunden trifft und die alleinerziehende Mutter (Catherine Keener) zu sehr durch ihre Arbeit eingespannt ist. Der ungestüme Junge bricht oft in wildes Toben aus, wenn er zu wenig Aufmerksamkeit bekommt oder wegen irgendetwas zornig ist. Kurz darauf aber weint er, das bereuend, was er in Rage getan hat. In einem besonders heftigen Wutanfall, nachdem er seine Mutter mit ihrem neuen Freund gesehen hat, beißt er sie sogar und stürmt mitten in der Nacht in seinem Wolfskostüm aus dem Haus.

Als er sich in einem Gebüsch versteckt, liegt plötzlich ein Wald vor ihm und nach kurzer Zeit gelangt er zu dem Ufer eines Meeres. Mit einem kleinen Segelboot fährt Max hinaus und kommt bei stürmischer See an einer Insel an. An Land trifft er auf sehr große, pelzige Monster. Diese zunächst etwas angsteinflößenden Kreaturen erweisen sich als eine Gruppe von Freunden, die gerne wilden Unfug treiben, aber trotzdem friedlich zusammenleben wollen. Weil das oft nicht so gut klappt, ernennen sie Max zu ihrem König, denn er kann ihnen versichern, dass er besondere Fähigkeiten hat. Schnell freundet er sich mit den wilden Kerlen an, vor allem mit Carol und dessen liebster Freundin KW. Alle schätzen Max, denn er ist ebenso wild wie sie und hat viele Ideen zum Toben, wie zum Beispiel eine Dreckklumpenschlacht oder das Bauen eines großen Forts, in dem alle zusammen leben können. Doch bald entstehen Konflikte in der Gruppe und Max muss einsehen, dass er das Leben der Monster nicht so einfach zum Besseren wenden kann. Er lernt auch langsam, sich in andere einzufühlen, besonders in seine Mutter. Daher verlässt er die Insel und die wilden Kerle wieder und kehrt zu ihr nach Hause zurück.

Der Beginn des Films offenbart sofort sein Wesen: Max jagt in seinem Wolfskostüm durchs ganze Haus hinter seinem kleinen Hund her, bellt und tobt und schnappt schließlich das leicht eingeschüchterte Tier, um mit ihm zu raufen. Dabei verfolgt ihn dicht die Handkamera. Jonze bleibt immer ganz nah bei seinem Hauptcharakter, bewegt sich immer mit ihm und scheint versessen darauf zu sein, durch die Geräusche, durch den Verzicht auf eine dauernde Musikuntermalung, durch nicht auffällig bearbeitete Bilder, die Geschichte so realistisch wie möglich erscheinen zu lassen, damit sich der Zuschauer wirklich in das Kind einfühlen kann. Läuft Max mit Schneebällen bepackt über die Straße, weiß jeder wieder, wie es ist, in einem schon lang durchnässten Schneeanzug durch den Schnee zu stapfen, am Bordstein auszurutschen und gleich wieder aufzustehen um völlig gedankenlos mit Schneebällen um sich zu werfen und dabei den größten Spaß zu haben.

Auch die Monster wurden so gestaltet, dass immer klar ist, wie sich ihre Gegenwart anfühlt. So wurde entschieden, die Monster nicht ausschließlich im Computer entstehen zu lassen. Beim Dreh spielte der junge Max Records mit echten Schauspielern in riesigen, mühsam gefertigten Fellkostümen. So kann auch der Zuschauer ihre Größe und ihr weiches Fell fühlen. Die Kombination aus echten Kostümen und Computeranimation für die Feinheiten der Mimik der Monster erschafft wie bisher selten oder sogar nie im Kino gesehen Phantasiewesen, die gar nicht künstlich wirken.

Es dürfte selbst dem jüngsten Publikum klar sein, dass Max nicht wirklich auf eine Insel fährt, sondern es sich dabei um Phantasie oder Traum des Jungen handelt. Ohne, dass der Film es irgendwie erklärt, einfach durch seine realistische Exposition und die klaren Bezüge der Phantasieinsel zu Max wirklichem Leben wird dies offensichtlich. Denn die Konflikte innerhalb der Freundesgruppe spiegeln Probleme wieder, mit denen Max täglich zu kämpfen hat. Intelligent konstruiert stehen die einzelnen Monster für verschiedene Seiten seiner Persönlichkeit und gleichzeitig auch für die Menschen aus seiner Umgebung – ohne sich eindeutig festlegen zu lassen, ohne die Realität platt plakativ zu spiegeln.

Das weibliche Monster KW spiegelt in ihrem Wunsch nach Ausbruch aus der Gruppe und ihrer Suche nach neuen Freunden Max pubertierende Schwester. Andererseits stellt sie für ihn eindeutig auch eine Mutterfigur dar, die ihn zaghaft und liebevoll bei seiner Entwicklung als König der Gruppe anleitet. Sein bester Freund unter den Monstern, Carol, der wildeste unter allen, ist ein Exponent für Max aufbrausende Natur. Dadurch, dass er den anderen versucht, Carols Verhalten zu erklären, versteht er selbst seine eigene Persönlichkeit besser und lernt langsam, sich auch in andere hineinzuversetzen und seine Handlungen aus deren Perspektive zu sehen. Der Aufenthalt auf der Insel ist Max’ Aufbruch in ein erwachseneres Leben. Natürlich bleibt er weiter Kind, aber auf eine verantwortungsbewußtere und rücksichtsvollere Art. Dies zeigen die letzten Bilder des Films. Max’ Mutter ist froh, dass ihr Kind wieder zurück ist und macht ihm Abendessen. Noch am Tisch fallen der erschöpften Frau die Augen zu und Max wird nicht zornig, weil sie ihn nicht genügend beachtet. Ihr Sohn sieht sie einfach an und in seinen Augen steht Liebe und Verständnis.

Besonders an der Geschichte ist auch, dass Max sich zwar mit allen Monstern aussöhnt, bevor er sie auf der Insel zurücklässt, ihre Probleme aber auch nicht aus der Welt schaffen kann. Hier steht die Erkenntnis, dass es im Leben immer Konflikte geben wird, nie jeder mit allem zufrieden sein wird, ein jeder andere manchmal verletzen muss und zwangsläufig auch Verletzungen erleiden wird. Es ist eine der schwierigsten Herausforderungen des Erwachsenwerdens, zu akzeptieren, dass Kummer hingenommen werden muss, dass Veränderungen notwendig sind und auch vor der eigenen Familie nicht halt machen.

Somit verwandelt Jonze die außergewöhnliche Geschichte über einen wilden Jungen in einen Film über die Kindheit und die Probleme eines jeden Kindes auf dem Weg zum besseren Verständnis der eigenen Gefühle und der Menschen um es herum. Dies alles ohne den Eindruck einer Lehrstunde zu erwecken, was leider zu oft den Spaß an anderen (Kinder-)Filmen verdirbt. Die kindliche Psyche und ihre Verarbeitung des Lebens wird durch die Monsterinsel und durch die Charaktere der wilden Kerle verbildlicht, und dies geschieht keineswegs oberflächlich. Dass die Geschichte dennoch nicht kompliziert oder langweilig wird, liegt an der starken Identifikation mit Max und den Erinnerungen, die er bei den Zuschauern weckt. Zu erwähnen ist, dass die Stimmung des Films, die ausgelassene Fröhlichkeit Max und die Schönheit der Kindheit auch durch die Musik von Karen O und Carter Burwell unterstrichen wird. Besonders der Song „All is Love“, der die Szenen der durch den Wald tollenden Freunde untermalt, bleibt im Gedächtnis.

Für den erwachsenen Zuschauer erhält der Film zusätzlich Sympathie durch die Tatsache, dass er sich, obschon die Monster durchaus auch niedlich sind, weniger wie andere Kinderbuchverfilmungen der letzten Jahre eignet, um ihn zu einem großen Merchandisinggeschäft auszubauen. Zwar hat das Kinderbuch weltweit viele Fans, doch ist der Film in seinem Stil zu wenig kitschig, das große Projekt wirkt doch auch wie ein Independentfilm. Vielleicht zeichnet sich hier ein Problem ab, das der Film bei einem jungen Publikum haben könnte. Denn viele Kinder erleben ihre Kindheit heute anders als hier dargestellt. Weder flüchtet Max sich in Computerspiele oder Fernsehsendungen, wenn er zu Hause Schwierigkeiten hat, sein Leben spielt sich hauptsächlich draußen ab. Daher ist seine Phantasiewelt dann auch ein Wald, er wünscht sich Matsch und baut Hütten aus Holz. Es ist zu befürchten, daß einige junge Zuschauer dies nicht als zeitgemäß ansehen, weil es zu weit von ihrem realen Leben entfernt ist. Darunter könnte die eigentlich realistische Stimmung des Films leiden und es erschweren, dass sich die Zuschauer in Max einfühlen. Vielleicht funktioniert „Wo die wilden Kerle wohnen“ daher hauptsächlich eben für ein erwachsenes Publikum, das einen Blick zurück in ihre eigene Kindheit werfen möchte.

Krimi-Kunst: „The Man From London”

von Christian Moises

Frankreich, Ungarn, Deutschland 2007. Regie: Béla Tarr, Ágnes Hranitzky. Buch: Béla Tarr, László Krasznahorkai (nach einer Vorlage von Georges Simenon). Kamera: Fred Kelemen. Darsteller: Tilda Swinton, Miroslav Krobot, Janos Derzsi, u.a.
Verleih: Basis.
Laufzeit: 132 Minuten.


Die Ankunft eines Schiffes. Zwielichtige Figuren, ins Dunkel der Nacht gehüllt. Die Übergabe eines Koffers unbekannten Inhalts, vorbei an den wachsamen Augen der Zollbeamten. Ein Mann, der den Koffer aufnimmt, ein anderer, der ihm folgt. Ein Gerangel, ein Kampf, kaum sichtbar, am Ende des Kais. Einer der beiden fällt ins Wasser, mit ihm der Koffer. Ein Rangierarbeiter, der dies alles zufällig beobachtet, nimmt den Koffer an sich – und mit ihm eine offenbar nicht geringe Summe an britischen Pfundnoten unbekannter Herkunft.

Dieses Geschehen, das so oder ähnlich bereits in unzähligen Filmen erzählt wurde und den Auftakt zu einem verwicklungsreichen, mitunter actionlastigen Kriminalfilm oder gar Thriller abgeben könnte, bildet hier die zwölfminütige, ungeschnittene Exposition zu einem audiovisuellen Ereignis, wie es (viele werden wohl sagen: zum Glück!) nur selten im Kino zu sehen ist und sich zudem von Beginn an jeder Genrezuschreibung widersetzt.

Nach „Satanstago“ (1994), diesem gewaltigen, siebenstündigen, dunkel schimmernden Zentralgestirn des europäischen Autorenfilms der 1990er Jahre, und den „Werckmeisterschen Harmonien“ (2000) – beide nach literarischen Vorlagen seines Landsmanns László Krasznahorkai entstanden – hat sich der Ungar Bela Tarr nun überraschenderweise eines Stoffes von Georges Simenon angenommen. Angesiedelt in einer eher trostlos erscheinenden, nicht näher gekennzeichneten Hafenstadt, verweisen lediglich die (erkennbar nachsynchronisierten) Stimmen der Figuren auf den Schauplatz der Vorlage: Dieppe an der französischen Nordküste.

Ruft man sich Tarrs Statement in Erinnerung, dass spätestens seit dem Alten Testament im Grunde dieselben Geschichten immer und immer wieder erzählt wurden, verwundert es kaum, dass ihm herzlich wenig an einer herkömmlichen Spannungsdramaturgie oder gar verblüffenden „plot twists“ gelegen ist. Vielmehr entpuppt sich „Man from London“ – für Tarrianer nicht unerwartet – als eine elaborierte Studie über die (filmischen) Kategorien Raum und Zeit, über die Abhängigkeit der räumlichen Erfahrung von der Zeit und umgekehrt, bei der en passant der Rekurs auf Einstellungsgrößen und ähnliches filmtheoretisches Vokabular nahezu ad absurdum geführt wird. Die (im Grunde ziemlich dünne) Geschichte bildet nur eine Art Leitfaden, den Ausgangspunkt für eine Reise, deren Ziel zunächst offen, im Grunde auch unerheblich bleibt. Von weit größerer Bedeutung scheint der „Weg“, die ästhetische Erfahrung, die unterwegs gemacht wird: die Erkundung des Raumes, das spürbare Vergehen von Zeit, Gesichter, Geräusche, Klänge, Musik (erneut komponiert von Mihály Vig).

Ähnlich verhält es sich mit den Figuren. Obwohl ihnen die Kamera immer wieder erstaunlich nahe kommt, sie verfolgt, umkreist, erfolgt keine (psychologische) Annäherung, bleibt im Inneren verborgen, was nicht an die Oberfläche gelangt, sich im Affekt oder in ungestümer Geste Bahn bricht. Auch die Figuren werden zu (Studien-)Objekten, zu Körpern, die Raum beanspruchen, andere Körper verdecken, den Blick verstellen oder Fixpunkte für den Blick der Kamera bilden, welche zuweilen unvermittelt in Bewegung gerät und den Blick auf bislang im Off Verborgenes freigibt. Eine dieser Blickverlagerungen lässt wie magisch Tilda Swinton, die einstige Muse von Schlingensief und Jarman, im Bildkader erscheinen, die als einziger Star neben den größtenteils altgedienten Tarr-Mimen agiert.

So gelingen Tarr, seiner Lebensgefährtin, Co-Regisseurin und Cutterin Ágnes Hranitzky und Fred Kelemen an der Kamera (bewegte) Bildkompositionen von berückender Präzision, schillernde, dem Dunkel der Nacht abgerungene Chiaroscuro-Tableaus. Und doch bleibt das Gefühl, dass diese virtuose gestaltete Oberfläche nur selten aufreißt, den Blick in die Tiefe freigibt. Dass im Allgemein-Menschlichen verhaftet bleibt, was in „Satanstango“ oder „Werckmeister“ in den Bereich des Universellen vorstieß. Dass die Bilder nur selten die metaphysische Kraft dieser beiden Filme erreichen, Inhalt (Geschichte) und Form nicht ganz zusammen gehen wollen. Aber: es bleibt dennoch ein Bela Tarr-Film, außergewöhnlicher und wertvoller als der Großteil dessen, was derzeit sonst über die Leinwände flimmert – und auf jeden Fall ein Film, der auf der Leinwand gesehen werden sollte, da allein dort die Qualitäten des wohl bald vom digitalen Schein verdrängten Zelluloids voll zur Geltung kommen.

Eine weitere Kritik zu "The Man from London" finden Sie hier.