Filmfest München: The Melodrama Next Door - James Grays "Two Lovers"

Mit „The Yards“ (USA 2000) und „We Own the Night“ (USA 2007) etablierte sich der New Yorker Filmemacher James Gray als würdiger Nachfolger Martin Scorseses, der die Familiendramen rund um die Mean Streets verfolgte, während der Altmeister die Konflikte der Hongkong-Triaden nach Boston verlegte, sich den Eskapaden des Howard Hughes widmete oder mit den Rolling Stones deren Alterswerk feierte.
Die stärksten Momente gelangen Gray jedoch, wenn er die im Vergleich zu den Machenschaften der Gewerkschaften, der Polizei und der Syndikate eher beiläufigen Familiendramen in den Mittelpunkt rückte. In seinem neuesten Film „Two Lovers“ konzentriert sich der aus dem New Yorker Stadtteil Queens stammende Regisseur schließlich ganz auf ein alltägliches Beziehungsdrama, das nicht nur seine bisher beste Arbeit darstellt, sondern auch eine berührende Unmittelbarkeit und Aufrichtigkeit im Scheitern der Protagonisten erreicht. Eine vergleichbar überlegte Mise-en-Scène und eine sorgfältige Dramaturgie, die das Geschehen emotional glaubwürdig, tragisch und dennoch ausgesprochen realistisch erscheinen lässt, sucht man im aktuellen Indiestream vergeblich.
Der Plot von „Two Lovers“ könnte sowohl als Vorlage für ein traditionelles Melodram, als auch für ein Routine-Indiestream-Prestige-Drama für die nächste Award-Season dienen. Gray vermeidet aber konsequenterweise beide Optionen: Zwar steht am Anfang ein Selbstmordversuch und gelegentlich regnet es wie auf Bestellung in Strömen, doch statt die stilisierten Überhöhungen eines Melodrams durchgehend zu bemühen, kehrt die Inszenierung immer wieder in die umso beklemmendere Realität zurück.
Im Unterschied zu den Gesellschaftsportraits des neueren Independent-Films besteht für den Protagonisten Leonard (Joaquin Phoenix) das Problem darin, dass seine stets überbesorgte und fürsorgliche Familie gerade keinerlei Spuren von Dysfunktionalität aufweist. Nach dem Ende einer langjährigen Beziehung zieht er zurück zu seinen Eltern, die nicht ganz unbeteiligt am Scheitern seiner unmittelbar bevorstehenden Hochzeit waren. Das Leben in der New Yorker Mittelschicht erweist sich für den eigentlich auf die Midlife Crisis zusteuernden Gelegenheitsfotographen, der von seiner Familie wie ein Teenager in der Pubertät behandelt wird, als tristes Gefängnis. Er soll die nette, aber auch nicht aufregende Tochter eines befreundeten Unternehmers heiraten, obwohl er sich leidenschaftlich in die neue Nachbarin verliebt hat. Die sympathische, aber emotional äußerst instabile Michelle (Gwyneth Paltrow) arbeitet als Anwaltsgehilfin und leidet an der unklaren Beziehung zu einem wesentlich älteren, verheirateten, zwischen Paternalismus und Bigotterie schwankenden Arbeitskollegen. Leonard versucht sie auf andere Gedanken zu bringen und entwickelt sich zur psychologischen Stütze und dem Best Buddy der Nachbarin, obwohl er sich mit dieser lieber in gefährliche Liebschaften stürzen würde. Deren Realisierung, sowohl im romantischen Aufbegehren, als auch als tragische, unerfüllte Liebe verweigert Gray jedoch mit einer Konsequenz, die systematisch das artifizielle Pathos des Melodrams, als auch die selbstgebastelten Allegorien des Indiestreams unterwandert.
Am Schluss gibt es in rein dramaturgischer Hinsicht, sogar eine Art Happy-End, das aber weder die Protagonisten, noch die Zuschauer als solches, sondern als ernüchternde Rückkehr in den Alltag empfinden werden.


- Andreas Rauscher