Das Internationale Filmfestival in Karlsbad (Teil 2)

East of the West

Text: Markus Reuter
Fotos: Film Servis Festival Karlovy Vary


Die Form des Kammerspiels in TWENTY (BIST) erinnert an den auf der Berlinale 2009 mit dem Silbernen Bären ausgezeichneten, ebenfalls iranischen Film ABOUT ELLY (DARBAREYE ELLY). Twenty steht für die Anzahl der Tage bis zum Schließen des Restaurants durch den Besitzer, was für die Mitarbeiter einer Katastrophe gleichkommt. In einem authentischen Blick offenbaren die in der Folge auftretenden Konflikte zwischen den Angestellten ein sehr grundsätzliches Problem des Lebens im Iran, wenn den meisten Angestellten ein eigenes Dach zum Schlafen über dem Kopf fehlt. Der Regisseur Abdolreza Kahani widmete den gewonnen Spezialpreis der Jury der Situation seiner iranischen Mitbürger und bat für sie um standing ovations durch das Publikum.

Zu den interessantesten Beiträgen im Wettbewerb gehörte die Weltpremiere des polnischen Films PIGGIES (ŠWINKI). Wie schon in CZEŚĆ TERESKA (HI, TERESKA) drehte Robert Gliński einen fordernden Film über die harte Realität der polnischen Jugend und verzichtet dabei – bis auf kurze Einstellungen gegen Ende des Films – auf die explizite Darstellung von Gewalt.

Verantwortlich für eine ganze Reihe von Enttäuschungen im Leben des aufgeweckten Jungen Tomek sind die eigene Familie, der Priester und der Lehrer. Während die sozialen Sicherungssysteme versagen, will er nicht auch noch seine neue Freundin Marta verlieren. Das legal verdiente Geld reicht aber nicht aus, um deren Wünsche nach einer teuren Zahnspange zu erfüllen. Als Tomek bemerkt, dass Marta nur ein „Schweinchen“ ist und damit eine Frau, die für ausreichend Geld mit jedem Typen rummacht, ist es für ihn zu spät für eine Umkehr zum arglosen Leben. Gliński zeigt in seinem Film, wie nicht der Schlaf Ungeheuer gebiert, sondern wie in der Realität die Frustration über eine enttäuschte Sehnsucht nach Liebe und Geborgenheit einen Menschen zum Monster werden lässt. Die Abwärtsspirale Tomeks wird dabei im meisterlichen Schnitt gespiegelt, wenn der Rhythmus zum Ende des Films immer schneller wird. Zuvor wird durch jump cuts bereits vermittelt, wie die heile Welt Tomeks immer brüchiger wird. In der Pressekonferenz sprach Gliński von der Welt nach 1989, die den Jugendlichen in Osteuropa nach Öffnung der Grenzen mit großen Einkaufszentren die Begierde nach Konsum und großem Geld gebracht hat. Zentrale Werte würden dabei immer mehr an Bedeutung verlieren. Mit Piggies weist der Regisseur ohne erhobenen Zeigefinger auf diese Tatsache hin. Die Verkörperung Tomeks durch Filip Garbacz war der Jury eine spezielle Erwähnung wert.
Als sehr eigenwilliger Regisseur hat sich der 35-jährige Ungar Györgi Pálfi bereits mit seinen früheren Filmen Hukkle- Das Dorf (2002) und Taxidermia (2006) erwiesen. Mit I’m not your friend (Nem vagyok a barátod) bietet er dem Publikum einen weiteren experimentellen Film an.

Pálfi traf sich mit neun Schauspielern, um vier Tage später bereits mit dem Dreh zu beginnen. Ohne Drehbuch entschieden die Schauspieler spontan, was ihre Figur im nächsten Moment sagen und was sie tun wird, wobei die Kamera auf diese Entwicklungen ebenso unvermittelt reagieren musste. Durch diese Improvisationen ergibt sich im fließenden Wechsel der Betrachtung der Figuren, deren Leben irgendwie zusammenhängen, ein sehr aufregendes und lebensnah wirkendes Mosaik. Heraus kommt kein einheitliches Bild, sondern eher ein Werk der offenen Formen über die Wünsche und Sehnsüchte, das Anziehen und Abstoßen verschiedenartiger Menschen. Spätestens wenn alle Protagonisten im Film ein Lied gesungen haben werden (wenn auch nicht zur gleichen Zeit und durch einen musikalischen match cut miteinander verbunden), kommt einem der Name Paul Thomas Anderson in den Sinn. Vor den eigentlichen „Hauptfilm“ stellt Pálfi überraschenderweise einen Kurzfilm, der den Titel I’m not your friend im Kindergarten-Alltag betrachtet. Schon bei den kleinen Kindern wird deutlich, wie hart diese einfach ausgesprochen Worte auf das soziale Umfeld wirken können.
Keinen Preis gewonnen und dennoch der Höhepunkt des Wettbewerbs ist HIMALAYA, WHERE THE WIND DWELLS (Barami memounen got, Himalaya), in dem der südkoreanische Regisseur Jeon Soo-il von der Reise eines Geschäftsmanns ins Himalaya-Gebirge erzählt. Gespielt wird der Geschäftsmann namens Choi von Choi Min-sik, dem Schauspieler aus Oldboy, in seiner ersten Filmrolle seit dem kurzen Auftritt in Lady Vengeance.

Choi verlässt die tönende Stadt mit ihren eng befahrenen Straßen und bricht in die Ruhe und weite Leere der Bergwelt auf, um die Asche eines in der Fabrik umgekommenen Arbeiters zu seiner Familie bringen. Das erweist sich zunächst als eine Belastungsprobe, der sein städtischer Körper nicht gewachsen ist. Während der Träger seines Koffers keine Probleme mit dem Anstieg hat, bricht Choi unter der Anstrengung mehrmals zusammen; das letzte Stück des Wegs muss er auf dem Rücken eines Pferds und später dann auf einer Bahre zurücklegen. Bei der Familie des Verstorbenen angekommen hat schon eine gewisse Reinigung in Choi stattgefunden, die hier komplettiert wird. Die einfache Tonfolge auf einer Flöte, das Füttern eines Kalbs, das Streichen über einen Holztisch – das alles sind Würdigungen der Welt um ihn herum, die er hier in ihrer alten Schönheit wieder neu wahrzunehmen lernt. Als Zuschauer sind wir dabei immer an Chois Seite und machen diese Erfahrung zusammen mit ihm. Der Film etabliert bereits zu Beginn einen langsamen, meditativen Rhythmus, der uns genügend Zeit lässt, sich näher auf die beiden Hauptdarsteller des Films einzulassen. Zum einen auf die unglaubliche Schönheit des Himalaya-Gebirges und zum anderen auf das außerordentlich zurückgenommene Spiel von Choi Min-sik. Der Minimalismus der Handlung entspricht dem Minimalismus im Stil. Nur selten bewegt sich die Handkamera (sie wackelt nur ein wenig im Wind), Musik wird sehr sparsam eingesetzt, den Schauspielern werden Großaufnahmen grundsätzlich verweigert. Mit seinen wunderbaren Bildern der Menschen in der Gebirgslandschaft, dem herausragenden Spiel von Choi Min-sik und dem immer wieder aufblitzenden leisen Humor besteht die Hoffnung, dass Himalaya, where the wind dwells ein aufgeschlossenes Publikum für sich gewinnen kann.

Wenn also viele Kritiker auch hier – teilweise wohl auch zu Recht – die Durchschnittlichkeit der Wettbewerbsfilme auf den großen Festivals der letzten Zeit beklagten, gab es mit I'M NOT YOUR FRIEND, PIGGIES und HIMALAYA, WHERE THE WIND DWELLS zumindest drei außergewöhnlich gute Filme zu sehen.

Abseitiges Kino zu später Stunde in den Midnight Screenings

Wer die Wettbewerbsfilme aber dennoch als zu durchschnittlich und langweilig empfindet, für den gibt es jeden Tag spätestens um Punkt Mitternacht die Möglichkeit, künstlerisch ausgefallene Filme zu sehen. Allein schon wegen des euphorischen Publikums werden die Filme in der Reihe Midnight Screenings regelmäßig zu einem Kinoerlebnis, das man anderswo ansonsten nur selten erfährt. Dabei wird der französische A TOWN CALLED PANIC (Panique au village) leider beinahe ausreichend durch die Begriffe Panik und Hektik charakterisiert. Die Hyperaktivität der in Stop-Motion animierten Plastikfiguren Cowboy, Indianer und Pferd wird nur noch in der verdächtig an Louis de Funès erinnernden Nebenfigur des Bauern Steven gesteigert. Animierte Plastikfiguren auf Speed – klingt kultig, hätte man sich aber vergnüglicher gewünscht.

Mehr Spaß bereitet da schon der sich vom Horrorschocker zur Splatterkomödie wandelnde DEAD SNOW (Død Snø) aus Norwegen. Nach dem establishing shot einer Gebirgswelt setzt der Film zur passenden Musik von Mussorgskys „Nacht auf dem kahlen Berge“ zu einer ersten Verfolgungsjagd an, welche direkt das erste Todesopfer fordert. Nach dem rasanten Auftakt hat der Film das Publikum im Griff, vor allem zwei Mädels aus der letzten Reihe machen sich im gesamten Verlauf des Films immer wieder durch kurze Aufschreie bemerkbar. Im Verlauf des Films zitiert Jungregisseur Tommy Wirkola genüsslich Genre-Klassiker von Romeros Zombie-Trilogie über Sam Raimis Evil dead-Trilogie und Peter Jacksons Braindead bis hin zu Edgar Wrights Shawn of the dead. Neu und unverbraucht fürs Genre ist dabei erstens die Szenerie der schneebedeckten Bergwelt (ok, FARGO wird auch zitiert) und damit verbunden ein paar wirklich schöne Einstellungen derselben sowie zweitens Zombie-Nazis als Bösewichte (wobei diese wohl streng genommen als materialisierte Geister bezeichnet werden müssten). Damit alleine liefert Dead Snow auf jeden Fall schon mehr Originalität als Eli Roth in CABIN FEVER. Ob sich die Charaktere wie der Oberbösewicht SS-Oberst Herzog als Kultfiguren des Genres werden etablieren können, wird die Zukunft zeigen. Das Potential ist da, wenn die zitierten Vorbilder qualitativ auch nicht ganz erreicht werden.

Ein extrem hohes Kultpotential hat hingegen BLACK DYNAMITE von Scott Sanders. Als Black Dynamites kleiner Bruder Jimmy stirbt, bedeutet das Krieg auf den Straßen, hatte er doch seiner auf dem Sterbebett liegenden Mutter versprochen, auf Jimmy aufzupassen. Die Aufklärung des Mords an seinem Bruder führt Black Dynamite bis ins weiße Haus und zu einem schon jetzt legendären Kampf mit dem Nunchacko. Mit einem Helden ohne bürgerlichen Namen, Anschlussfehlern en masse, Mikrofonen im Bild, Aussetzern im Dialog, wilden Actionsequenzen in Auto und Hubschrauber und Sätzen wie „Who interrupts my kung fu?“ kann ein Film als Hommage und Parodie zugleich an das Blaxploitation-Kino der 1970er-Jahre nicht viel gelungener sein – „Can you dig it?“.


Kommen Sie herein, es gibt noch mehr zu sehen

Erst im Herbst werden Michael Hanekes DAS WEISSE BAND, Lars von Triers ANTICHRIST, Park Chan-wooks THIRST (Bakjwi) und weitere Cannes-Gewinner die deutschen Kinos erreichen. Bei den Berlinale-Titeln THE MILK OF SORROW (La teta asustada), GIGANT (Gigante) oder TATARAK (Sweet Rush) ist es fraglich, ob sie es jemals auf deutsche Kinoleinwände schaffen werden. Diese Filme konnte man alle in Karlsbad sehen, neben zahlreichen weiteren interessanten Produktionen: entweder frisch vom Sundance-Filmfestival, Klassiker von den geehrten Regisseuren Patrice Chéreau, Alan Rudolph und Jan Švankmajer oder auch Filme wie 35 SHOTS OF RUM (35 rhums), THE LIMITS OF CONTROL und PUBLIC ENEMIES, die man in der laufenden Kinosaison bis jetzt verpasst hat, die man sich noch mal im Original ansehen will oder die erst in Kürze in Deutschland starten werden. Zu viel Schlaf sollte für die neun Festivaltage also nicht eingeplant werden…

Mit MARIA LARSSON'S EVERLASTING MOMENTS (Maria Larssons eviga ögonblick) ließ sich dann in der Reihe Horizons eine Entdeckung machen, die wahrscheinlich nie das Licht und die Dunkelheit deutscher Kinosäle erreichen wird. Der Film ist mein erster Kontakt mit dem Oeuvre von Altmeister Jan Troell und einer dieser raren Glücksfälle des Kinos, bei denen man sich nach Ansicht des Films am liebsten direkt alle weiteren Filme des Regisseurs ansehen möchte. MARIA LARSSON'S EVERLASTING MOMENTS ist eines dieser stillen Meisterwerke, das am Ende emotional und rational so subtil Verbindung mit dem Zuschauer aufgenommen hat, ohne dass dieser es während des Films genau mitbekommen hat. Der Film verfolgt die Geschichte einer Familie in Schweden ab 1907 und erzählt von einer Welt im Wandel. „Alles ändert sich“ heißt es einmal im Film. Der Fortschritt führt von der Kutsche zum Automobil, von der Foto- zur Filmkamera und vom Kerzenlicht zur elektrischen Glühbirne. Mit sozialistischen Ideen und Arbeiterstreiks, erhöhten Chancen zur Emanzipation für Frauen und Kinder armer Leute, der Zeitung als Massenmedium, dem Ersten Weltkrieg und trägt die Zeit weitere deutliche Zeichen der Hochmoderne. In dieser Zeit kommt es zu der ungewöhnlichen Liebe zwischen einem Mann und einer Frau, bei der die Frau ihre neue Fotokamera häufig mehr liebt als den Mann und der Mann sein Herz im Allgemeinen eher an Pferde als an Menschen verloren zu haben scheint. Die respektvolle Beobachtung der Protagonisten, deren dunkle Seiten nicht ausgeklammert werden, die unaufgeregte Schönheit der flüchtigen Momente, die in Marias Fotografien ewig festgehalten werden und die behutsam voranschreitende Dramaturgie, die einen unmerklich in ihren Bann zieht, machen den Film zu einem ästhetischen Genuss. In der Ruhe liegt die Meisterschaft bei Troell, der dem Zuschauer durch seine unaufdringliche Inszenierung den Raum für eigene Entdeckungen und Gedanken lässt.

Vieles weitere könnte noch geschrieben werden über LOWER CALEDONIA (Nižnaja Kaledonija), der in seinen schönsten Einstellungen an Werke Tarkowskijs erinnert, auch wenn er insgesamt dessen inszenatorische Prägnanz nicht erreicht, OPERATION DANUBE (Oparacja Dunaj), einer sehr witzigen, politisch brisanten Komödie über den Einmarsch polnischer Panzer in die Tschechoslowakei zwecks Niederschlagung des Prager Frühlings, dessen Qualität man gerne bei einer zweiten Ansicht noch mal überprüfen möchte, BOXER AND DEATH (Boxer a smrť) aus dem Jahr 1962 mit Manfred Krug als boxenden SS-Lagerkommandanten oder auch SNOW WHITE AND RUSSIAN RED (Wojna polsko-ruska), den zweiten Spielfilm von Andrej Żuławskis Sohn Xavery, der Verfilmung des gleichnamigen Erstling-Romans von Dorota Małgorzata, einem verrückten Trip aus spätpubertärem Humor, wilden Zerstörungsorgien und absurden Situationen über junge Erwachsene im heutigen Polen, dessen letztendlicher Sinn dem westlichen Zuschauer (lies mir) leider aber erst mal verschlossen bleibt. John Malkovich wurde zudem für seinen Beitrag zum Weltkino mit einem Ehrenpreis ausgezeichnet. Da wünscht man sich schon jetzt, dass mit ihm für das nächste Jahr ein neuer Festival-Trailer entsteht.

Bis jetzt haben unter anderem die vorherigen Preisträger Danny DeVito, Miloš Forman und Andy Garcia bereits solche Trailer gedreht, in denen sie auf sehr ironische Weise den praktischen Gebrauchswert der gewonnen Trophäe demonstrieren. Genau diese Selbstironie macht das gesamte Festival so sympathisch, das einen eben immer wieder nicht nur dadurch überrascht, erst am fünften Festivaltag den ersten englischsprachigen Film zu sehen – in dem nebenbei gesagt eine Französin die zweite Hauptrolle spielt und den der dänische Regisseur komplett in Deutschland gedreht hat. Mit vielen Höhepunkten in den verschiedenen Sektionen des Festivals präsentierte sich Karlsbad dieses Jahr aber vor allem erneut als ein Ort, an dem man eindrucksvolle filmische Entdeckungen aus Ost und West machen kann. Mehr wollen und können wir als Kinoliebhaber nicht erwarten.


Hier zurück zu Teil 1 des Berichts