Deutscher Film 2.0

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Dem Schicksal ein wenig nachhelfen - mit Kleine(n) Tricks

von Markus Reuter

Kleine Tricks (Sztuczki, Polen 2007)
Produktion, Drehbuch und Regie: Andrzej Jakimowski. Kamera: Adam Bajerski. Musik: Tomasz Gassowski.
Darsteller: Damian Ul (Stefek), Ewelina Walendziak (Elka), Iwona Fonalczyk (Mutter), Thomasz Sapryk (Fremder am Bahnhof).
Verleih: Kool
Länge: 95 Minuten
Start: 23.07.2009

Ein polnischer Film in deutschen Kinos – das ist gefühlt ungefähr so lange her wie der politische Umbruch in Osteuropa nach 1989. Und wenn sich doch manchmal Filme polnischer Regisseurinnen und Regisseure auf Kinoleinwände in Deutschland verirren, handelt es sich meist um deutsch-polnische Koproduktionen. Wobei der offizielle Kinostart von Malgoska Szumowskas „33 Szenen aus dem Leben“ („33 szeny z zycia“) schon fast ein Jahr zurück liegt und der Start von Stanislaw Muchas „Hope“ („Nadzieja“) sogar schon aus dem Januar 2008 datiert.Sollten mir in diesem Zeitraum polnische (Ko-)Produktionen entgangen sein, möge man mich diesbezüglich bitte aufklären.
Dieser Umstand allein macht jetzt neugierig auf „Kleine Tricks“.

Hinzu kommen in den zwei Jahren seit seiner Fertigstellung zahlreiche Auszeichnungen auf Festivals der ganzen Welt und reichlich gute Kritiken hinzu. Schließlich wird der Film dann noch als „magische Sommergeschichte“ beworben, was so ziemlich allem widerspricht, was man von einem polnischen Film erwartet. Große polnische Regisseure wie Andrzej Wajda, Krzysztof Kieslowski, Krzysztof Zanussi und Agnieszka Holland beschäftigen sich in der Regel mit ernsten Themen politisch-gesellschaftlicher, philosophisch-moralischer oder allgemein menschlicher Natur. Kein Wunder also, dass die von ihnen geprägte filmische Bewegung gegen Ende der 1970er-Jahre unter dem Titel „Kino der moralischen Unruhe“ in die Filmgeschichtsbücher eingegangen ist. Auch aktuelle Produktionen wie die 2009 auf dem Filmfestival in Karlsbad präsentierten „Schweinchen“ („Swinki“) von Robert Glinski oder „Der Riss“ („Rysa“) von Michal Rosa machen da keine Ausnahme und bestätigen diese Tradition. Anders als im Nachbarland Tschechien bilden leichtere Filme oder sogar Komödien die Ausnahme in der Kinematografie Polens.

Die Ausgangssituation in „Kleine Tricks“ hat nun ebenfalls das Potenzial zum Sozialdrama. Der siebenjährige Stefek lebt mit seiner Mutter und der Schwester Elka in einem kleinen Vorort von Breslau. Während die Mutter für die Ernährung der Familie einen kleinen Laden führt, verdient sich Elka ein bisschen zusätzliches Geld beim Kellnern im Restaurant. Wann immer es geht lernt sie italienisch, weil sie von einem Job im nahe gelegenen italienischen Autohaus träumt.
Stefek hat seinen Vater nie gesehen, zu früh hat er die Familie verlassen. Dennoch glaubt er, ihn in einem Fremden auf dem Bahnhof des Dorfs zu erkennen. Sein einziger Beweis für diese Vermutung ist ein altes, völlig überkritzeltes und zerfranstes Foto vom Vater. Im Spiel Stefeks wandelt sich der Stock in seiner Hand allerdings von einem bloßen Stück Holz in den Superheld Batman. Ist der „Fremde=Vater“-Zusammenhang daher vielleicht ebenfalls nur Ausdruck seiner kindlichen Phantasie? „Das Schicksal war nicht auf Mutters Seite“ erzählt ihm die Schwester als Grund, warum der Vater die Familie verlassen hat, und zeigt ihm gleichzeitig, wie man das Schicksal beeinflussen kann. Fortan will Stefek mit Hilfe von kleinen Plastiksoldaten, Münzen und weiteren kleinen Tricks dem Glück ein wenig auf die Sprünge helfen und die Vaterschaft des Fremden auf die Probe stellen. Es kommt zum Tag der Entscheidung.

„Kleine Tricks“ ist tatsächlich ein Sommerfilm, in dem die Klamotten der Protagonisten kurz sind, der Himmel blau ist, ein kühles Bad im Fluß die einzige Abkühlung verschafft und der Hunger durch das genüsslich schmatzende Verzehren einer Wassermelone gestillt wird. Neben dieser sommerlichen Stimmung wird der ernsten Ausgangssituation vor allem Stefeks schöpferische Einbildungskraft und sein naiver Glaube an das Gute und Heile in der Welt entgegengesetzt. Ihm gehören die schönsten Momente im Film, wenn er zum Beispiel mit unterschiedlichen Mitteln versucht, die Tauben eines Nachbarn aus ihrem Verschlag zu scheuchen oder seiner Schwester die Daumen für ihr Vorstellungsgespräch drückt, diese aber gut für die Verrichtung anderer Tätigkeiten gebrauchen könnte.

Für eine „magische Sommergeschichte“ fehlt es der Inszenierung aber insgesamt ein wenig an Schwung. Wenn die Protagonisten auf Entwicklungen warten, durch die Straßen des Dorfs spazieren oder auf die Ereignisse in der Welt blicken, wird das Tempo des Films immer wieder gebremst. Die Welt des Dorfs scheint in einem Zustand der Starre zu verharren, weniger in einem der Bewegung. Nichts gegen undramatische Filme, wenn sie die Klasse eines Antonioni, Tarkowskij oder Bresson aufweisen. Hier sollen die vielen Großaufnahmen auf die Gesichter jedoch Spannung und Verwunderung hervorrufen, der einzige Effekt ist aber häufig die Verlangsamung des Erzählrhythmus. Während die Frage nach dem Vater bis zum Schluss noch einigermaßen spannend und unterhaltsam bleibt, lässt einen die Bewerbung der Schwester beim Autohaus als zweiter Haupthandlungsstrang nach einer Weile ziemlich kalt. Zu redundant ist die ständige Vertröstung auf spätere Termine für das Vorstellungsgespräch, zu ungeschickt stellt sie sich manchmal selber an.

Der Spagat zwischen einer Tradition der Schwere und einer neuen Leichtigkeit im polnischen Kino gelingt Drehbuchautor und Regisseur Andrzej Jakimowski deshalb nur selten. Häufig wirkt die Mischung zwischen Komödie und Sozialstudie, zwischen der Würdigung kindlicher Imaginationskraft und dem kritischen Hinweis auf die Probleme des Heimatlands zu unentschieden. Der Film schafft es letztlich nicht, den Zuschauer heiter und mit neuer Lebenskraft erfüllt aus dem dunklen Kinosaal in den lauen Sommerabend zu entlassen.
Gleichwohl ist es erfreulich, dass es den Produzenten mit welchen kleinen Tricks auch immer gelungen ist, den polnischen Film in deutsche Kinos zu bringen. Erstaunlicherweise startet in ein paar Wochen bereits der nächste polnische Spielfilm in Deutschland. Regie-Altmeister Andrzej Wajda widmet sich in „Das Massaker von Katyn“ dann wieder einem ausdrücklich ernsten und politischen Thema, auf dessen Bearbeitung man gespannt sein darf.

Die 36 Kammern der Pulp Poesie - Die beiden “Kill Bill”-Filme von Tarantino-san

von Andreas Rauscher


Kill Bill: Vol. 1

USA 2003.
R+B: Quentin Tarantino. K: Robert Richardson. M: The RZA. P: Lawrence Bender.
D: Uma Thurman (The Bride), Lucy Liu (O-Ren Ishii), David Carradine (Bill), Daryl Hannah (Elle Driver), Michael Madsen (Budd), Vivica A. Fox (Vernita Green), Sonny Chiba (Hattori Hanzo).


Lange Zeit war es still um Quentin Tarantino, den ehemaligen Shooting Star einer neuen selbstbewussten Pop-Cinephilie, die sich sowohl für Jean-Luc Godard als auch für die Geschichte des Exploitationkinos begeistern konnte. PULP FICTION (USA 1994) avancierte zum Crossover-Erfolg par excellence. Doch schon bald bereiteten die zahlreichen ermüdenden Imitationsversuche dem Spaß ein vorzeitiges Ende.

Tarantino selbst beförderte sich 1997 mit der Blaxploitation-Hommage JACKIE BROWN (USA 1997) erfolgreich aus der selbst geschaffenen Sackgasse. Er enttäuschte auf äußerst produktive Weise die allgemeinen Erwartungen und demonstrierte, dass er seine Ansätze ernst nimmt. Schauspielerisch bietet er Außenseitern wie B-Picture-Ikone Pam Grier Gelegenheit, sich eindrucksvoll in Szene zu setzen. Die sorgfältige Zusammenstellung seiner Soundtracks gestaltet sich zugleich als Archivarbeit in Sachen Popgeschichte. Die zahlreichen visuellen und narrativen Zitate funktionieren, wie einige Kritiker treffend bemerkten, wie die Remixes eines DJs, der aus Querverweisen neue Stücke und Zusammenhänge erstellt.
Tarantino hat mit seinen Arbeiten eine eigenwillige Kombination aus Arthouse und Bahnhofskino geschaffen, die sich nicht mit selbstgefälligen Spielereien und Nerd-Insiderwissen zufrieden gibt, sondern versucht, das Publikum durch popkulturelle Übersetzungsarbeit für die Hinterhöfe und Seitenarme der Filmgeschichte zu begeistern.

Nachdem er in JACKIE BROWN das Erbe der Blaxploitation verhandelt hat, nimmt er sich mit dem in zwei Hälften geteilten KILL BILL den asiatischen Pulp-Rachedramen an. Den passenden musikalischen Wegbegleiter durch die filmischen Kammern der Shaw Brothers aus Hong Kong und die stilisierten Samurai-Welten der japanischen OKAMI-Serie (Japan 1972-85) fand Tarantino in RZA. Als Produzent und Rapper gestaltet dieser seit zehn Jahren die stark an Kung-Fu-Filmen orientierten Soundscapes des New Yorker Hip Hop-Kollektivs Wu Tang Clan. Die beiden erklärten Martial Arts-Fans schufen eine musikalische Collage, die in ihren unterschiedlichen Elementen von Nancy Sinatra über Wu Tang-Rap-Songs bis hin zu Italo-Western-Scores der narrativen Struktur des Films entspricht.

Die ursprünglich geradlinige Rachegeschichte um eine auf brutalste Weise von ihren ehemaligen Kolleginnen verratene Auftragskillerin setzte Tarantino wie eine in diverse Episoden aufgeteilte Comicserie um. Die Yakuza-Anführerin O-Ren Ishii bekommt eine eigene Origin Story, die nicht viel mit dem zentralen Plot zu tun hat. Diesen wie ein Sonderheft zu einer fortlaufenden Reihe eingefügten Exkurs, realisierte Tarantino als Anime. Der Charlie's Angel Lucy Liu wurde als O-Ren Ishi geschickt gegen den von ihr gewohnten Typ besetzt.

In KILL BILL bewegt sich Tarantino im Grenzbereich zwischen stilisierter Melodramatik und ironischer Übersteigerung. Einige Sequenzen wirken wie eine Kombination aus der wuchtigen Melancholie John Woos und der Absurdität von Monty Pythons schwarzem Ritter, der selbst, nachdem er sämtlich Gliedmaßen verloren hat, nicht aufgeben will. Dass diese riskante Gratwanderung sehr überzeugend gelingt, liegt an der Ernsthaftigkeit, mit der Uma Thurman ihre Rolle gestaltet, und an der stringenten Inszenierung. Auf seine charakteristischen Dialoge verzichtet Tarantino in der ersten Lieferung von KILL BILL weitgehend und konzentriert sich ganz auf das perfekte Zusammenspiel von Kamera, Schnitt und Musik. An Stelle von digitalen Effekten verwendet er bewusst die gleichen billigen Tricks wie die Bahnhofskinoepen der 1970er Jahre.

Trotzdem beschränkt er sich nicht auf eine ironische Trash-Hommage, sondern verleiht dem systematischen Wechselspiel aus grotesk brutalen Absurditäten und tragikomischem Pathos eine beinahe abstrakte Qualität. Wenn sich Thurmans Rächerin und Lius Yakuza-Schwertkämpferin vor einem blauen Vorhang wie im japanischen Schattentheater und anschließend in einer an artifizielle Studiokulissen erinnernden Schneelandschaft duellieren, gelingen Tarantino Augenblicke einprägsamer Pulp-Poesie, wie man sie sowohl in den häufig berechenbaren Arthouse-Allgemeinplätzen, als auch im vor lauter Beschleunigung stagnierten Popcornkino kaum findet. Die von Tarantino betriebene Implosion der Genres führt zu fragmentarischen Intensitäten, die den Zirkelschluss des reinen Zitatkinos durchbrechen und damit neue Anfänge ermöglichen.


Kill Bill: Vol. 2

USA 2004
R+B: Quentin Tarantino. K: Robert Richardson. M: Robert Rodriguez. P: Lawrence Bender.
D: Uma Thurman (The Bride), David Carradine (Bill), Michael Madsen (Budd), Daryl Hannah (Elle Driver), Gordon Liu (Pai Mei).


Die Trennung des vierten Quentin Tarantino-Films in zwei Teile erschien anfangs als besonders perfider Marketing-Coup der Weinstein-Brüder. Nach den überraschenden Wendungen in KILL BILL: VOL. 2 erscheint sie jedoch durchaus nachvollziehbar.

Bereits zu Beginn des zweiten Teils, den Uma Thurman als Erzählerin im Stil des klassischen Film Noir einleitet, akzentuiert eine lange Rückblende den sich anbahnenden Stimmungswechsel. Tarantino schildert in der ersten Episode des Films das letzte Zusammentreffen zwischen der Braut und ihrem früheren Auftraggeber Bill, kurz bevor dessen Handlanger über die Hochzeitsgesellschaft ihrer ehemaligen Kollegin herfallen. In ausdrucksstarken Schwarz-Weiß-Bildern kombiniert Tarantino die klassischen letzten Einstellungsfolgen aus John Fords THE SEARCHERS (USA 1956) mit dem melancholischen Zynismus und den symbolischen Objekten Sergio Leones.
Nachdem das überdrehte Finale von VOL. 1 in einen Flying Circus der Anspielungen auf das japanische Martial Arts-Kino inklusive eines Cameos der jugendlichen Killerin aus BATTLE ROYALE (JPN 2000) mündete, schaltet Tarantino in VOL. 2 erst einmal ein paar Gänge zurück. Die unaufgeregten Western-Einflüsse und eine überraschende Vertiefung der Charaktere sorgen dafür, dass sich KILL BILL doch noch zu dem epischen Pulp-Rachedrama entwickelt, das sich in einigen Sequenzen des ersten Teils bereits andeutete.


David Carradine, der in VOL. 1 wie der Phantomschurke Blofeld in den ersten 007-Filmen lediglich als mysteriöser Drahtzieher und bedrohliche Stimme im Hintergrund präsent war, spielt in VOL. 2 die zentrale Hauptrolle neben Uma Thurman. Er entpuppt sich als charismatischer, in seiner Gelassenheit umso unberechenbarer erscheinender alternder Killer. Seine Beziehung zur Braut, deren wahrer Name sich relativ unspektakulär als Beatrix Kiddo erweist, gestaltet sich als tragische Liebesgeschichte. Er konnte nicht damit fertig werden, dass die fähigste und charismatischste seines Deadly Viper Assassin Squads ihre Karriere als tödlicher Professional zu Gunsten einer unscheinbaren Existenz als Frau eines Second Hand-Plattenladenbesitzers in El Paso aufgeben wollte.

Der im ersten Teil skizzierte Ansatz eines Arthouse-Bahnhofskinos wird in der zweiten Hälfte von KILL BILL zu einem World Cinema des reflexiv gebrochenen Genrekinos erweitert. Tarantino schafft mit Hilfe seines aus Genreexperten und den üblichen Verdächtigen rekrutierten Ensembles eine aus Samples und Soundtracks konstruierte Mondo Bizarro, in der sich filmhistorische Klassiker und kaum bekannte Trash-Perlen auf eigenständige Weise ergänzen. Wie bereits in JACKIE BROWN (USA 1997) bietet er einen Ausweg aus dem reinen Zitatgestus einer lediglich sich selbst reproduzierenden, eindimensionalen Postmoderne, ohne dass er dabei wie die zahlreichen PULP FICTION (USA 1994)-Epigonen zu forciert wirken würde.
Tarantino nutzt seine Vorbilder nicht einfach als Referenzmaterial, sondern erzielt durch das überlegte Umarrangieren des Materials und eigene Nuancen eine Gültigkeit zweiter Ordnung. Wenn die Braut am Ende ihrer vierjährigen Tochter gegenübersteht und Bill den erwarteten Shoot-Out im John Woo-Stil in ein sarkastisches Kinderspiel, das sich zu Beginn des ersten Teils bereits im Text des Nancy Sinatra-Songs "Bang, Bang (My Baby Shot Me Down)" andeutete, verwandelt, funktionieren jene Situationen plötzlich doch wieder, die im Kino der Postmoderne wie in David Lynchs WILD AT HEART (USA 1990) eigentlich nur noch als reine unverbindliche Zitate vorhanden waren.

Es kann einfach an der Auswahl eines bestimmten Songs liegen wie dem vom ehemaligen Sex Pistols-Manager Malcolm McLaren grandios neu arrangierten "She's Not There", dass man den Showdown trotz aller ironischen Brechungen nicht als selbstreferentiellen Witz, sondern als tragikomisches Drama begreift. Das Prinzip der raffinierten Umcodierung setzt sich bis in die Zusammenstellung des erneut von RZA produzierten Soundtracks hinein fort. Die Musik umfasst ein Spektrum von Ennio Morricone und Bernard Herrmann über asiatische Martial Arts-Scores bis hin zu Johnny Cash und dem Wu Tang Clan.

Eigentlich war es die ganze Zeit klar, dass es Tarantino im Gegensatz zu einigen Nachzüglern niemals darum ging, sein von den revolutionären Brüchen Jean-Luc Godards bis hin zur epischen Überhöhung des Kino bei Sergio Leone abgestecktes Koordinatensystem zur Produktion von postmodernem Kanonenfutter zu missbrauchen. Die Entscheidung des von Sam Jackson in PULP FICTION (USA 1994) dargestellten Killers, seinen Beruf aufzugeben und wie David Carradine in KUNG FU (USA 1972-74) durch die Lande zu ziehen, war trotz ihrer Absurdität ernst gemeint. Pam Griers Hinweis als Jackie Brown auf die emotionale Bedeutung ihrer Plattensammlung und die metaphorische Bedeutung des Songs "Across 110th Street" zu Beginn des dritten Tarantino-Films hat ebenfalls nichts mit dem penetranten Augenzwinkern kulturindustriell generierter Retrokults zu tun. Stattdessen geht es Tarantino darum, die von der Postmoderne meistens nur als Aufhänger für selbstgefällige Tongue-in-Cheek-Tupperpartys und lustige Zitatquizspiele behauptete Auflösung der Grenzen zwischen High- und Pop-Culture endlich zu realisieren.

Nazis: I hate those guys – „Berlin 36“ von Kaspar Heidelbach

von Harald Mühlbeyer

Deutschland 2009. Regie: Kaspar Heidelbach. Buch: Lothar Kurzawa. Kamera: Achim Poulheim. Musik: Arno Steffen. Produktion: Gerhard Schmidt.
Mit: Karoline Herfurth (Gretel Bergmann), Sebastian Urzendowsky (Marie Ketteler), Axel Prahl (Hans Waldmann), August Zirner (Edwin Bergmann), Maria Happel (Paula Bergmann).
Verleih: X-Verleih.
Start: 10.09.2009

Trauriger Höhepunkt des Films ist ein lächerliches, völlig zusammenhangsloses „Dritter Mann“-Zitat mit einer Katze und dem ganz ganz bösen Nazi-Traiener in einem Hauseingang, der Gretel Bergmann ein letztes Mal bedroht, kurz vor dem Hochsprungwettbewerb der Olympischen Spiele 1936. Sie wurde aus dem deutschen Team ausgeschlossen, weil sie Jüdin ist; zuvor war sie zugelassen worden, weil die Amerikaner die Spiele sonst boykottiert hätten: immerhin war sie eine der weltbesten Hochspringerinnen. Und zwischendrin versuchten die Nazis sie im Trainingslager auszubooten, indem sie neben sie eine Konkurrentin stellten, Marie Ketteler. Eine Hochspringerin, so gut wie die Bergmann, mit einem Unterschied: Marie ist eigentlich ein Mann.

Diese wahre Geschichte von damals, aus der bösen Zeit, wurde von Kaspar Heidelbach verfilmt, seit „Das Wunder von Lengede“ und „Der Untergang der Pamir“ Spezialist darin, aus Geschichtlichem das Drama auszuholen, um daraus einen Fernsehfilm zu kitzeln. Mit der konventionellen Dramaturgie und den vielen Großaufnahmen wirkt auch „Berlin 36“, produziert vom Norddeutschen Rundfunk und der ARD-Produktionsfirma Degeto, trotz aufwändiger Ausstattung wie ein TV-Drama. Als Nazifunktionäre chargieren die üblichen Verdächtigen, die Wandlung der Konkurrenzsituation zwischen Gretel und Marie zu einer Freundschaft verläuft ohne Reibungen, nur über das Ausleihen eines Spionage-Abenteuerromans an die ewig Tagebuchschreibende Gretel (deren Aufzeichnungen freilich Verschlusssache bleiben). Und über dem Olympiastadion schwebt ein schlecht computergenerierter überdimensionaler Zeppelin.

Am Ende läuft alles auf nichts hinaus: Gretel schaut von der Tribüne aus den Sportwettkämpfen zu, wo Marie Ketteler, der Mann als Frau und inzwischen ihr(e) Freund(in), gegen drei Konkurrentinnen antritt. Mit diesem Finale, an dem die Hauptfigur gar nicht teilnehmen darf, gibt der Film implizit –und wohl eher unfreiwillig – zu, dass er eine ganz falsche erzählerische Haltung eingenommen hat. Viel interessanter als die Geschichte der Jüdin, die in Nazideutschland untergebuttert wird (welche Überraschung!), wäre die Perspektive auf Marie gewesen, der von einer psychotischen Mutter von Kindheit an als Mädchen aufgezogen wurde, dadurch immer ein Außenseiter war in einem falschen Leben – und dann eine Jüdin aus dem Frauen-Hochsprungteam drängen soll. Doch Heidelbach nahm den geraden Weg. Und riss die Latte.

Sex vor der Liebe - Kevin Smiths "Zack and Miri Make a Porno"

von Harald Mühlbeyer

Zack and Miri Make a Porno
USA 2009. Regie, Buch, Schnitt: Kevin Smith. Kamera: Dave Klein. Musik: Tom Myers. Produktion: Scott Mosier.
Mit: Seth Rogen (Zack), Elizabeth Banks (Miri), Traci Lords (Bubbles), Jason Mewes (Lester).
Verleih: Senator.
Länge: 102 Minuten.
Start: 13.08.2009

Würde Kevin Smith mal tatsächlich einen echten Porno drehen, stünde am Filmende sicher eine Hochzeit an. Denn Smith ist eigentlich ein Romantiker, ein gottesfürchtiger Familienmensch, und das verbirgt er nur oberflächlich hinter den vielen pubertären Sex-Fantasien in seinen Filmen: „Clerks 2“ mit seinen obszönen Eseleien plus Familienidylle war 2006 ein Manifest dieser Kevin-Smith-Dichotomie. Dass er in seinem neuen Film, der Titel verspricht es schon, sich wieder im sündigen Porno-Sumpf suhlt, ist daher kein Wunder. Und auch nicht, dass der Dreh eines Pornos im Film nur die Verkleidung ist für eine gestandene Romanze.

Zack und Miri sind Loser, haben seit der Highschool nichts Vernünftiges zustandegebracht, stehen kurz vor der Pleite, und sie wohnen als beste Freunde zusammen; ohne Sex, denn wer würde schon mit jemandem schlafen, den er seit der ersten Klasse kennt? Dann werden Strom und Wasser abgestellt, auf dem Klassentreffenerleben sie lauter erfolgreiche Gleichaltrige, und sie beschließen: damit Geld reinkommt, müssen sie einen Porno drehen. Soweit, so unlogisch – doch wer fragt schon danach? Es geht Smith darum, wie zwei Verlierertypen zusammenkommen können, die von sich aus nie einen Schritt aufeinander zugehen würden; und natürlich will er möglichst viele eloquente Diskussionen über unwichtige Dinge aufbauen, durchsetzt mit popkulturellen Slackerwitzen und mit möglichst vielen F-Wörtern. Da geht’s dann um schwarze Bedienungen und schwarzen Kaffee, um Sexspielzeug bei Amazon, um diverse Sexpraktiken. Und um deren Umsetzung in einem dilettantischen Pornofilm, bei dem Zack und Miri einander ficken wollen, ohne dass Sex ihrer Freundschaft im Weg stehen würde.

Jason Mewes, sonst Silent Bobs Kumpel, der nie zum Zug kommt, spielt hier einen dauergeilen Stecher, Ex-Porno-Actress Staci Lords kann Seifenblasen aus gewissen Körperöffnungen zaubern; und leider geht der erste Filmplan daneben, „Star Whores“, in dem Prinzessin Lay Her, Hung Solo und Darth Vibrator mitspielen sollten… Mit nie geahntem Ehrgeiz gehen Zack und Miri ihr Projekt an, keinen billigen Amateurporno, sondern ein Hochglanzprodukt zu kreieren; freilich mit lauter Dilettanten vor und hinter der Kamera, und ohne jedes Filmbudget. Doch das romantische Zusammenkommen von Zack und Miri kann nichts aufhalten, auch nicht ein verkorkster Pornodreh. Und am Ende wird auch die Frage geklärt, wie man mit Sex vor der Liebe umgeht; und mit Liebe, wenn laut Pornodrehbuch jeder mit jedem vögeln soll.

Hirnforschung im Mainzer Capitol-Kino

Eric Kandel, der Protagonist von "Auf der Suche nach dem Gedächtnis – Der Hirnforscher Eric Kandel", inspiriert zur Beschäftigung mit seinem Fach, der Forschung nach dem Gedächntis. Petra Seegers Dokumentarfilm regt zu Diskussionen an; er macht Lust auf die Beschäftigung mit Prozessen der Erinnerns.

Am Donnerstag, den 19.08.2009, gibt es in Mainz die Möglichkeit, nach dem Film mit einem Experten zu diskutieren:

Herr Dr. med. Siegfried Stephan
Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie, Facharzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Psychoanalytiker, Vorsitzender der NSG - Netz für Seelische Gesundheit Mainz e.V., Stellvertretender der Dt. Gesellschaft für ärztliche Hypnose und Autogenes Training

freut sich auf ein anregendes Gespräch am Donnerstag, 19.08.2009 um 20.15 Uhr im Mainzer Capitol-Filmtheater (Neubrunnenstr. 9).


"Auf der Suche nach dem Gedächtnis - Der Hirnforscher Eric Kandel" ist am 25.06.2009 im Verleih von W-film bundesweit im Kino gestartet. Weitere Informationen finden Sie online unter http://www.kandel-film.de.

Die Vergangenheit der Actionfiguren - "G.I. Joe"

von Elisabeth Maurer

G.I. Joe – Geheimauftrag Cobra (USA 2009)

Regie: Stephen Sommers. Drehbuch: Stuart Beattie, David Elliot, Paul Lovett. Kamera: Mitchell Amundsen. Musik: Alan Silvestri. Produzenten: Lorenzo di Bonaventura, Bob Ducsay, Stephen Sommers.
Darsteller: Dennis Quaid, Sienna Miller, Channing Tatum, Marlon Wayans, Rachel Nichols, Christopher Ecclestone, Joseph Gordon-Levitt.
Verleih: Paramount
Laufzeit: 118 min
Start: 13.8.2009

Wie „Transformers“ basiert „G.I Joe“ auf einer Actionfigurenserie des Spielzeugkonzerns Hasbro, die vor allem in den USA seit den 1960er Jahren erfolgreich ist. Bei den G.I. Joes handelt es sich um eine geheime Elitetruppe der amerikanischen Armee unter dem Kommando von General Hawk (Dennis Quaid).
Diese müssen die Welt vor dem Waffenproduzenten McCollen schützen, der seine eigenen Nanitenwaffen, die jedwede Materie innerhalb weniger Sekunden völlig zerfressen können, von der Nato stehlen will, um damit die Welt kontrollieren zu können. Der junge, sehr eifrige Soldat Duke, der mit dem Transport der hochgefährlichen Waffen vertraut ist, wird von den G.I. Joes nach einem Überfall von McCollens Gefolgsleuten rekrutiert, als sich herausstellt, daß Dukes Ex-Verlobte Anna (Sienna Miller) die Gehilfin des Waffenmagnaten ist. Nachdem Duke mit den G.I. Joes nur knapp verhindern konnte, daß McCollen mit seinen Waffen ganz Paris vernichtet, müssen sie dessen unter dem ewigen Eis des Südpols versteckte Geheimbasis finden, um die Zerstörung Moskaus, Washingtons und Hamburgs zu vereiteln. Dort finden sie heraus, daß der Kopf hinter McCollens Krieg ein verrückter Wissenschaftler ist, der auch für Annas Wandlung verantwortlich ist.

Der Film hält auf beiden Seiten der Widersacher viele Charaktere bereit, was sich aus dem Ursprung der Charaktere als Actionfiguren erklärt. Zwischen den Guten und den Bösen bestehen oft Verbindungen aus der Vergangenheit, die meisten Charaktere sind von ihren früheren Erlebnissen äußerlich wie innerlich gezeichnet. Die Hintergründe mehrerer Figuren werden durch Rückblicke erzählt, wohl um, wie Regisseur Sommers („Die Mumie“, „Van Helsing“) in einem Interview klarmachte, die Eigenschaften der Actionfiguren zu erläutern, die bisher einfach so hingenommen wurden.
Schon der Anfang des Films zeigt den im 17. Jahrhundert bei einem seiner Vorfahren liegenden Ursprung von McCollens Waffenfanatismus. Seine Armee besteht aus genetisch veränderten Soldaten, denen der verrückte Wissenschaftler die Fähigkeit zur Angst genommen hat. Dieses Verfahren entwickelte er aber auch aus ganz persönlichen Gründen, um jemanden, der er liebte, den Schmerz über einen schweren Verlust zu nehmen. Seine Erfindung führte allerdings zu der Entstehung von skrupellosen, gewissenlosen Menschen. Obschon beinahe jede Figur mit ihrer Vergangenheit zu kämpfen hat, beinhaltet der Film also irgendwo hinter der Action die Aussage, daß der Schmerz und der richtige Umgang mit Trauer wichtig für die Persönlichkeitsbildung ist.

Natürlich wird dies alles in eine vor allem actiongeladene Geschichte verpackt. Die Computereffekte des Films können den Vergleich mit ähnlichen aktuellen Filmen wie „Transformers“ oder „Terminater – Die Erlösung“ nicht ganz standhalten. Und natürlich stellt sich die Frage, wieso Spielzeug verfilmt wird. Klar ist, daß sich „G.I. Joe“ einpaßt in eine ganze Reihe neuerer Actionfilme, die auf einer Vorlage wie eben Spielzeug oder Comics basieren und die damit schon eine gewisse Anhängerschaft mitbringen sowie das Potential für eine Filmreihe bereithalten.
Viele der Situationen und der Figuren erscheinen dem Zuschauer vertraut, es werden Erinnerungen an „X-Men“, „Die Liga der außergewöhnlichen Gentleman“ oder auch „XXX“ geweckt, weil wenig wirklich neu oder originell erscheint. „G.I. Joe“ gehört aufgrund der weniger überzeugenden Animation und aufgrund der Tatsache, daß er wenig spektakulär Neues zeigt, und wohl auch, weil die Actionfigurenserie, vor allem außerhalb der USA, weniger erfolgreich ist wie zum Beispiel die X-Men Comics, eher zu den schwächeren Vertretern dieser populären Filmgattung.
Dennoch sind die Kämpfe sehr mitreißend choreographiert und durch die vielen Wendungen und Rückblicke wird die Handlung nicht langweilig. Insgesamt ist „G.I. Joe“ also doch unerwartet kurzweilig und unterhaltsam, wirklich unerfreulich nur das sehr auf eine Fortsetzung ausgelegte Ende.

„Meet me in Montauk…“ oder: die Welt als Traum und Tüftelei --- Die Musikvideos und Filme Michel Gondrys

Von Cord Krüger

Erstmals veröffentlicht in Screenshot #26/2005 – als wir noch eine Zeitschrift waren…


Die Gesetze von Raum und Zeit sind aufgehoben; die Wirklichkeit steuert nur eine geringfügige Grundlage bei, auf der die Phantasie weiter schafft und neue Muster webt: ein Gemisch von Erinnerungen, Erlebnissen, freien Erfindungen, Ungereimtheiten und Improvisationen.
Personen spalten sich, verdoppeln sich, vertreten einander, gehen in Luft auf, verdichten sich, zerfließen, treten wieder zusammen.
August Strindberg, 1902



Was der schwedische Dramatiker und Essayist August Strindberg seinem Theaterstück „Ein Traumspiel“ voranstellt, lässt sich – wie Botho Strauß in dem Essay „Zeit ohne Vorboten“ einstmals mit bekannt polterigem Beiklang konstatierte – bereits als Essenz des modernen Musikvideos verstehen. Seit Strindberg, so der große Dichter aus der Uckermark, habe sich allenthalben die „Beschussquote durch Reize“ erhöht. Tatsächlich verhandelt das Musikvideo Traumzustände und andere Äußerungen des Unbewussten, allein: das verdrängende und verarbeitende Subjekt dieser „dreamlike visuals“ (Marsha Kinder) bleibt verborgen. Wer träumt da eigentlich?

Zumindest im Falle des Franzosen Michel Gondry lässt sich der Urgrund seiner Musikvideos leicht identifizieren: Hier träumt der Chef! Allerlei Versponnenes findet so seinen Weg zu MTV und Co, ein nicht selten surreales, zumeist faszinierendes Konglomerat aus Erträumtem, Erlebtem oder Erdachtem. Auf dem Weg von der Idee zum Video kommen Gondry nur selten Über-Ich oder sonstige innere Bedenkenträger in die Quere, und weil sich seine Arbeiten in einem so flüchtigen Medium wie dem Musikfernsehen dem Betrachter in die Erinnerung graben und so der Bilderflut des all zu schnell versendeten trotzen, gilt Gondry quasi als Autorenfilmer des Musikvideos.

Sein Œuvre umfasst bis heute über 40 Arbeiten für Musiker, zahlreiche Werbespots (darunter „Drugstore“ („Levi’s“, 1994), den noch immer meistausgezeichneten Werbeclip der Geschichte), eine handvoll uriger Kurz- und zwei Spielfilme, „Human Nature“ (F/USA 2001) sowie „Eternal Sunshine of the Spotless Mind, aka „Vergiss mein nicht!“ (USA 2004). Geboren am 8. Mai 1963 in Versailles verbrachte der kleine Michel seine Kindheit in eben jenem Pariser Vorort. Weil sich das Wohnhaus seiner Familie auf der Grenze zwischen Stadt und Wald befand, war er stets unsicher, was davon die natürliche und was die unnatürliche Umgebung des Menschen sei – eine für sein späteres Werk nicht unerhebliche Frage. Bei den Gondrys lag die Tüftelei in der Familie (Michels Großvater erfand einen Vorläufer des Synthesizers, die „Clavioline“), und so tat sich schon der kleine Michel in Sachen Kreativität und Geschick hervor, bastelte Sets und Szenerien aus Legosteinen, Scherenschnitt-Figuren und fabrizierte erste Trickfilme. Nach dem Besuch einer Pariser Kunsthochschule schloss er sich Mitte der 1980er Jahre der Elektropop-Formation Oui Oui an, wobei seine Berufung eher in den Musikvideos denn im Schlagzeugspiel lag.

„Dreamlike Visuals“
Diese erste Gehversuche waren reine Animationsfilme – vergleichbar den Gutenachtgeschichten des Sandmännchens –, und ihre bewusst in Kauf genommene handwerkliche Unvollkommenheit zeigte, dass Gondry sich keineswegs von den Themen und Mitteln seiner Tüfteleien aus Kindertagen zu emanzipieren gedachte. Von „La Ville“ (Oui Oui, 1987) bis „Ma Maison“ (Oui Oui, 1990) nutzt Gondry nichts, was sich dem Zugriff eines Zwölfjährigen entzöge, pfeift auf Realismus, und jeder Anflug stilistischer Geschlossenheit muss in einem Übermaß kreativer Einfälle und kindsköpfiger Spielereien untergehen.

1993, Oui Oui hatten sich ein Jahr zuvor aufgelöst, heuert Björk ihn für das Video zu ihrer ersten Solosingle „Human Behaviour“ an – für beide bedeutet das den internationalen Durchbruch. In „Human Behaviour“ entwirft Gondry eine alptraumhafte Szenerie: Er übersetzt seinen lose auf Yuri Norsteins „The Hedgehog in the Fog“ (RUS 1975) basierenden Plot (Bär verfolgt Mädchen im Wald) in eine Art Kinderzimmer-Expressionismus aus Plüschkostümen und unproportionierten Tieren mit ungeschlacht-ruckeligen „Stop-Motion“-Bewegungen. Björks eigenwillige Musik und Gondrys bizarre Märchenwelt faszinieren und verstören zugleich. Eine Tür ins Innere des Betrachters scheinen diese suggestiven Bilder aufzustoßen. Ist es der Alptraum einer Erinnerung oder die Erinnerung an einen Alptraum, die Gondry da heraufbeschwört?
In jedem Fall geht es ihm in seinen „dreamlike visuals“ weniger um eine konkret-situative Vergangenheit als um die schmerzvoll-schwelgerische Patina von Nostalgie, nicht darum, wie die Dinge waren, sondern wie man sich an sie erinnert: Wenn der kleine Junge in „Music Sounds Better with You“ (Stardust, 1998) ein rotes Flugzeug bastelt, etablieren Gondrys golden erstrahlende Bilder neben der Geschichte das Gefühl eines weit zurückliegenden Sommers, in dem alles möglich erschien. Erinnerung und Traum werden so selbst zum Thema seiner Arbeiten.

Aufgrund der knappen Laufzeit eines Musikvideos muss der Regisseur paraphrasieren und pointieren. Gondry arbeitet dazu mit Identitätsorten, -gegenständen und -erlebnissen, die für jeden anders und doch für alle ähnlich sind. Diese Fähigkeiten kommen ihm in “Eternal Sunshine” zupass, wo er aus wenigen, überdies handlungstragenden Elementen ein ebenso zärtliches wie unerbittliches Porträt der Beziehung zwischen Joel und Clementine zeichnet, aus Momentaufnahmen eine Stimmung destilliert.
Seinem Motiv- und Symbolfundus bleibt er dabei treu: Wald und Hütte des in vielerlei Hinsicht prototypischen „Human Behaviour“ kehren in „Everlong“ (Foo Fighters, 1997) zurück, die naiv-naturbelassene Künstlerin aus „Isobel“ (Björk, 1995) und „Bachelorette“ (Björk, 1997) findet ihre Widergängerin in „Human Nature“, und mit einem roten Flugzeug hadert auch Kindskopf Rob in “Eternal Sunshine” am Strand herum.

Hypnotisches und Ornamentales
Neben solchen verfilmten Träumen (bzw. was dem sehr nahe kommt) bilden formal gestrenge Visualisierungen von Musik und insbesondere Rhythmus den anderen großen Teil in Gondrys Schaffen. Wo hüben die assoziativ-gleitende Logik von Traum oder Erinnerung den Ton angibt, richtet sich drüben alles nach bestimmten Bild-Algorithmen – so wie bei „Star Guitar“ (Chemical Brothers, 2001). Das Video zeigt ein Zugfenster, an dem eine Industrielandschaft samt Strommasten, Schornsteinen und Lagerhäusern vorbeirauscht. Dabei wiederholen sich die Elemente nach einem genau auf den Rhythmus der Musik abgestimmten Muster, werden Motive des Liedes mit entsprechenden Bildmotiven visualisiert. Dem flüchtigen Betrachter kann sich dieses Moment der Inszenierung glatt entziehen, was der hypnotischen Wirkung des Clips jedoch keinen Abbruch tut. In „Around the World” (Daft Punk, 1997) verfährt Gondry ähnlich: Hier zuckeln Vierergrüppchen von Skeletten, Robotern und anderem Kinderzimmerinventar auf einer Bühne im Kreis herum. Jeder Gruppe ist eine Tonspur zugeordnet und je nachdem, ob gerade Gitarre oder Schlagzeug dran sind, recken die Skelette die Arme oder verrenken sich die Mumien im Takt. Das sieht albern aus, ist jedoch ungemein clever ausgeführt und bleibt in der Bilderflut des Musikfernsehens als Strandgut zurück. Neueste Arbeiten für The White Stripes („The Hardest Button to Button”, 2003) und The Vines („Ride”, 2004) stellen nur mehr Variationen dieses algorithmisierenden oder ornamentalisierenden Prinzips dar.

Im Übrigen regiert der Aberwitz: „Bachelorette” erzählt von einem Theaterstück über ein Theaterstück über ein Theaterstück über ein Buch über ein Mädchen, welches im Wald ein leeres Buch findet, dessen Seiten sich langsam mit der Geschichte „Bachelorette” füllen. Das Erzählprinzip gemahnt an die ineinander geschachtelten russischen Puppen. Nach surrealistischen Prämissen steht die Welt in „Deadweight” (Beck, 1997) Kopf. Menschen tragen Autos spazieren, an den Wänden hängen gerahmte Tapetenstücke und Schatten werfen Menschen. Das vielleicht elaborierteste Erzählkonstrukt bietet Gondry jedoch in „Sugar Water” (Cibo Matto, 1996) auf: Zwei Erzählstränge in Splitscreen, einer läuft vorwärts, der andere rückwärts ab; in der Mitte des Stücks konvergieren beide Stränge und wechseln ihre Abspielrichtung. Gondry berichtet dazu, er habe ein filmisches Palindrom drehen wollen. So ist es gleichgültig, ob man „Sugar Water” vorwärts der rückwärts anschaut – seichte Musikvideokost sieht anders aus.

Doch nicht nur von ausgetretenen Pfaden und Topoi des Erzählens hält der Franzose wenig. Auch jene wohlfeilen Stilismen, welche man gemeinhin als „Videoclipästhetik“ denunziert, sind seine Sache nicht. Wie seine Kollegen Chris Cunningham, Spike Jonze oder Jonas Åkerlund zieht Michel Gondry das Auffällige stets dem Gefälligen vor, bricht bei ihm das Experimentier- stets das Gewohnheitsrecht. In „Let Forever Be” (Chemical Brothers, 1999) wechselt er zwischen Videomaterial (bei Innenaufnahmen) und 16mm-Film (bei Außenaufnahmen). An den kaleidoskopischen Personenvervielfältigungen, die das französische Enfant Terrible ohne die Hilfe eines Computers realisiert, hätte auch Strindberg seine Freude gehabt. Das schon jetzt legendäre Animationsvideo zu „Fell in Love With a Girl” (The White Stripes, 2002) bestreitet Gondry mit einer Mini-DV-Kamera und zahllosen Legosteinen. Die Dreharbeiten der nicht einmal zwei Minuten langen, atemlosen Rocknummer nahmen geschlagene zwei Monate in Anspruch.
En passant entwickelt Gondry auch höchst modernen Budenzauber wie Morphing- und Bullettime-Effekte. Was in „The Matrix” (USA 1999) ein Millionenpublikum in Erstaunen versetzte, hatte er bereits Jahre zuvor in „Je Dance le Mia” (I Am, 1993), „Like a Rolling Stone” (The Rolling Stones, 1995) und „World in a Bottle” („Smirnoff“, 1996) ausbaldowert und perfektioniert. Überhaupt scheint es keine (trick)technischen, ästhetischen oder erzählerischen Mittel zu geben, derer sich Michel Gondry in seinen Musikvideos nicht vorzüglich zu bedienen wüsste.

Das Gesellenstück: „Human Nature“
Dass ein derart findiger Künstler ins Metier abendfüllender Spielfilme wechseln musste, überrascht kaum. Umso mehr erstaunt es, dass sein Erstling „Human Nature“ zum veritablen Flop geriet. Die Ausgangslage versprach viel: Charlie Kaufman, der kurz zuvor mit „Being John Malkovich” (USA 1999) Hollywood aufgemischt hatte, steuerte das Drehbuch bei; für seinen Stab konnte Gondry auf Weggefährten wie Kameramann Tim Maurice-Jones oder Cutter Russel Icke zurückgreifen; und mit Tim Robbins und Patricia Arquette waren namhafte Darsteller an Bord. „Human Nature“ erzählt von einer ganzkörperbehaarten Naturschriftstellerin (Arquette), die sich in einen verklemmten Forscher (Robbins) verliebt. Dieser versucht aus dem von Wölfen aufgezogenen Puff (Rhys Ifans) einen echten Menschen zu machen, hauptsächlich konditioniert er ihm jedoch gute Tischmanieren an.
Um Affektkontrolle und Domestikation geht es hier ganz offensichtlich, und obwohl „Human Nature“ damit Gondrys Themen vom – seit Aufklärung und Romantik in der Kunst verhandelten – Widerstreit der Natur mit der Zivilisation und des Triebes mit der Vernunft aufgreift und er all die erheiternden Fluchten zeigt, mit denen sich die weidwunde Seele des modernen Menschen Linderung zu schaffen sucht, berührt der Film nicht so recht. Deutlicher noch als in anderen Kaufman-Adaptionen stehen sich die drei gleichrangigen Hauptfiguren mit ihren Schicksalen und Geschichten fortwährend im Weg. Handwerklich ist „Human Nature“ zwar ein echter Gondry – sei es in den verschrobenen Labor-Requisiten, den theatralisierten Natursets oder dem Changieren zwischen unterschiedlichen Filmmaterialien – und als spleenige Komödie mit den Mitteln der Björk-Videos funktioniert das Ganze prächtig. Allein: die Konzentration Gondrys früherer Arbeiten erreicht „Human Nature“ nicht.

Das Kino des 21. Jahrhunderts…
Von ganz anderem Schrot und Korn ist da „Eternal Sunshine”, ein abenteuerlich erzählt und konstruierter Liebesfilm und das Produkt einer Zeit, in der Identität und Erinnerung ein unsicheres Gut geworden sind. Drei Jahre dauerte es, bis Kaufman aus einer Idee Gondrys das Drehbuch verfertigt hatte, die Geschichte eines unglücklich Verliebten (Jim Carrey), der auszieht, seine Ex-Freundin (Kate Winslet) medizinisch aus seinem Gedächtnis tilgen zu lassen. Leider bemerkt Joels Unterbewusstsein während des Löschungsvorgangs recht bald, dass er die guten Zeiten mit Clementine gar nicht missen will und so entspinnt sich eine atemberaubende Jagd durch Joels Oberstübchen.

Die beiden großen Themen des Films bieten ein zweifaches Max-Frisch-Déjà-Vu: Zum Einen reflektiert die Reise durch Erinnerungen und Identität Korrekturzwänge des modernen Menschen wie in Frischs „Biographie: Ein Spiel“ von 1967; sie wägt das Wirken von Zufall und Schicksal ab und kommt an ihrem Ende, das für Joel und Clementine Katastrophe wie Rettung, Verdammnis wie Erlösung zugleich ist, zu dem Schluss, dass die Liebe „zugleich Ausdruck des freien Willens und des Schicksals“ (Georg Seeßlen/Fernand Jung) sein muss.
Zum anderen ist “Eternal Sunshine” eine Passage durch eine erodierende Paarbeziehung, deren Fluchtpunkte an den unwirtlichen Gestaden Montauks liegen – Frischs gleichnamige Erzählung aus dem Jahr 1975 lässt grüßen. Kaufmans und Gondrys Meisterschaft zeigt sich darin, im Ausbleichen der Erinnerungen Joels und Clementines Beziehungsgeschichte rückwärts zu erzählen, so dass Joel paradoxerweise an eben jenem Strand seine letzte Erinnerung an Clementine verabschieden muss, an dem die beiden sich einst kennen lernten. „Meet me in Montauk“, flüstert sie ihm noch zu und entgleitet in die Nacht des Vergessens hinaus. Diese Sequenz, die in sich den Schmerz des Verlassens mit der Hoffnung des Verliebens vermählt, gehört fraglos zum großartigsten und bewegendsten, was das Kino in den vergangenen Jahren hervorgebracht hat.

Kaufmans erzählerische Winkelzüge bleiben in “Eternal Sunshine” keine selbstrefernziellen Fisimatenten, zumal der King of Quirk nun endlich zwischen Haupt- und Nebenfiguren unterscheiden lässt. Wiewohl selbst das Personal der dysfunktionalen Bastelbude, die die Gedächtnislöschungen vornimmt, genug Potenzial für einen eigenen Spielfilm bietet, hält Kaufman diese Nebenerzählungen von Patrick (Elijah Wood), der Joels Identität anzunehmen versucht, und von Mary (Kirsten Dunst), die sich (zum wiederholten Male wie sich herausstellt) in Dr. Mierzwiak (Tom Wilkinson) verliebt, doch so knapp wie nötig.

So ungewöhnlich eine Liebesgeschichte vor dem Hintergrund Gondrys vorheriger Arbeiten (sieht man vom garstigen „Knives Out” (Radiohead, 2001) einmal ab) erscheinen mag, subsumiert der Kampf der beiden Liebenden gegen das Vergessen doch alles, wodurch sich Gondry als linkischer réalisateur auszeichnet. Hitchcock hatte bei „Spellbound” (USA 1944) die Visualisierung des inner-space noch Salvador Dalí überantwortet, und von Kubrick soll der Satz stammen „Ich kenne in der Filmgeschichte keine einzige überzeugende Traumsequenz.“ Einem Treppenwitz kommt es da gleich, dass Gondry auf diesem Terrain Bahnbrechendes leistet, ohne dass dies den Möglichkeiten zeitgenössischer CGI geschuldet wäre. Gondry beharrt auf seinen Low-Tech-Effekten, arbeitet mit Rauch, Spiegeln, Kameratricksereien und allerlei mehr. Dabei kann er auf weidliche Erfahrung mit Technik und Metier zurückgreifen: Abenteuer im Unterbewusstsein erlebte schon Dave Grohl in „Everlong”, und durch surrealistische Szenerien stolperte bereits Beck Hansen in „Deadweight”, um nur die augenfälligsten Beispiele zu nennen.

Im Gegensatz zu „Human Nature“ und wie man es von einem musikvideoerprobten Regisseur kaum erwarten dürfte, arbeitet Gondry bei den Dreharbeiten kaum mit Storyboards, entwickelt die Auflösung von Szenen mitunter erst am Set und lässt seinen Darstellern Raum für Improvisation. Darsteller Mark Ruffalo meint dazu: „He just has a lot of joy and irreverence toward the rules of filmmaking.” Das zeigt sich auch darin, dass Gondry gelegentlich Anfang und Ende von Einstellungen nicht durch „Action!“ respektive „Cut!“ anbefahl, und dann filmte, ohne dass die Schauspieler es wussten. Gondry erklärt diese eigentümliche Methode in radebrechtem Englisch so: „I wanted to use the film more as a tape recorder than a film camera.“
Die Faszination von Gondrys Bildern liegt ganz in ihrer Bewegung, im Verblassen der Details, im steten Umarrangieren, Spiegeln und Vexieren des Raumes. Das Erstaunliche an “Eternal Sunshine” sind dann auch weniger Joel und Clementine in einer Bibliothek voller weißer Buchrücken, sondern ihre assoziationsgeleitete Flucht durch eine Welt in Auflösung, in der den Liebenden die Erinnerung wie Sand durch die Finger rinnt und an deren Ende Joel noch einmal ein letztes Erinnerungsgestöber an Clementine aus einem Autofenster an sich vorbeirasen sehen wird. Dem Faszinosum vermittels Standbildanalyse auf die Schliche zu kommen, ist darum zum Scheitern verurteilt, womit Gondry quasi den Gegenpol zum Kino eines Wes Anderson bildet, das ganz vom ausgefeilten Arrangement seiner Einzelbilder lebt.

Am Ende wird “Eternal Sunshine” mit einem neuen Anfang für zwei Menschenkinder aufwarten, die sich wieder finden und füreinander entscheiden obwohl, oder gerade weil, sie sich schon einmal verloren haben; mit einem Anfang, der in seiner Ambiguität zeigt, wie viel Weisheit doch manchmal selbst in Kindsköpfen wie Kaufman und Gondry stecken kann, und man wird nicht umhin kommen, anzuerkennen, dass Gondry mit “Eternal Sunshine” den besten amerikanischen Film der Saison 2004 abgeliefert hat – und wenn man es genau betrachtet sogar den besten europäischen gleich dazu. Folgerichtig gehört Gondry zu den großen Kino-Hoffnungen des beginnenden Jahrhunderts, und sein nächster Film ist schon in Arbeit. Er trägt – welch Überraschung! – den Titel „The Science of Sleep”.

…wurde vor 30 Jahren in einem Pariser Kinderzimmer erfunden.
Die Faszination Gondrys kleiner und großer Geschichten steckt in der Dynamik, mit der Träume und Gespinste kaleidoskopisch auffächern und verschwimmen; sie steckt in der – nunja: – traumwandlerischen Sicherheit, mit der sich Gondry unterschiedlichster und abseitigster Artistiken und Erzählformen zu bedienen weiß, um sein Publikum immer wieder in Staunen zu versetzen, es an den Punkt zurückzuführen, als ein Kinderzimmer noch das ganze Universum bereithielt – all seine Schrecken, seine Wunder und all seine Verheißungen.

Mullewapp - Du bist nicht wie Ich, aber wir können beste Freunde sein!

von Ciprian David

Deutschland / Italien / Frankreich 2008
Regie: Tony Loeser, Jesper Møller. Drehbuch: Helme Heine. Musik: Andreas Hoge. Produzent: Malika Brahmi, Tony Loeser, Stefania Raimondi.
Darsteller: (Stimmen) Benno Fürmann, Christoph Maria Herbst, Joachim Król, Katarina Witt.
Verleih: Kinowelt
Lufzeit: 77 min
Start: 23.7.2009

Nach "Prinzessin Lillifee" ist "Mullewapp - Das große Kinoabenteuer der Freunde" ein weiterer Film dieses Jahres, der sich an die kleinsten im Publikum wendet, und dabei die Gefahr vermeidet, dass sich nur die begleitenden Eltern amüsieren.

Bei beiden Filmen wird die Dramaturgie über Differenzen zwischen den Charakteren und daraus entstammende Probleme erzeugt.
In "Mullewapp" darf das junge Publikum Zeuge eines Abenteuers sein: Nachdem das spielerische Schäfchen Wolke von dem bösen Wolf entführt worden ist, um als Hauptgang auf seinem Geburtstagsbankett zu dienen, treten die Mitbewohner des ersteren (Waldemar - das etwa ungeschickte Schwein und Franz - der besserwisserische Hahn) mit Hilfe von Johnny Mauser, selbsternannter Held der erfundenen Trilogie "Supermaus", eine Rettungsodyssee an, an deren Ende man feststellen muss, dass alle Freunde gebraucht werden, um das große Fahrrad des Lebens richtig fahren zu können.

Der negative Charakter ist meisterhaft gestaltet. Der Wolf tritt als Gentleman auf, er verfügt über eine beeindruckende Rhetorik, die ihn gleich sympathischer und weniger furchterregend erscheinen lässt. Außerdem weiß er sich zu benehmen: Er kocht seine Beute nach Rezept und lädt Gäste zu seinem Geburtstag ein (obschon nur um sie auch auf dem Tablett zu servieren). Die für Kinder potentiell grausamen Szenen der Konfrontation mit dem Wolf sind so gestaltet, dass vom Anfang an deutlich ist: Der Wolf wird besiegt.

Eher weniger gelungen ist der Charakter Johnny Mauser, eine Maus, die es als Schauspieler aufgrund ihrer Größe nicht geschafft hat. Da sich der Film vor allem an Kindern unter vier Jahren zuwendet, während dieser Charakter älteres Publikum anspricht, verliert Johnny zugunsten des sympathischen Schafs Wolke, die wegen ihrer Verspieltheit vom Wolf geschnappt wird und so die Handlung des Films in Gange bringt.
Der Film bietet inhaltlich ein überraschend einfaches Spektakel, das nur an wenigen Stellen von den Stereotypen der Filmkultur durchdrängt ist, und somit die kleinen Rezipienten sehr gut erreichen kann.

Der Gangsterfilm in neuen Bildern - "Public Enemies"

von Elisabeth Maurer

Regie: Michael Mann. Drehbuch: Ronan Bennett, Ann Biderman, Michael Mann. Kamera: Dante Spinotti. Musik: Elliot Goldenthal. Produzenten: Kevin Misher, Michael Mann.
Darsteller: Johnny Depp, Christian Bale, Marion Cotillard, Billy Crudup.
Verleih: Universal Pictures
Laufzeit: 140 min
Start: 6.8.2009


1933, mitten in der amerikanischen Depressionszeit, hielt der Bankräuber John Dillinger die Polizei und das neugegründete FBI in Atem. J. Edgar Hoover erklärte ihn zum ersten Staatsfeind Nr.1 der USA.

Michael Mann zeigt die vierzehn Monate von seiner Freilassung nach neun Jahren Gefängnis bis hin zu seiner Erschießung. Zuerst befreit Dillinger (Johnny Depp) seine Freunde aus der Haft, dann führt er sie nach Chicago, wo sie mehrere Banken ausrauben. Dort trifft er auf Billie (Marion Cotillard), in die er sich augenblicklich verliebt. Verbissen gejagt von dem FBI-Agenten Purvis (Christian Bale) wird er kurzzeitig inhaftiert, doch gelingt ihm wiederum die Flucht. Aus Liebe zu Billie verläßt er nicht das Land, sondern geht zurück nach Chicago, wo aber auch Agent Purvis auf ihn wartet.

Kurz vor seinem Ende betritt Dillinger unbemerkt die Räume des Sonderkommandos des FBIs, das mit seinem Fall betraut ist. Für ihn ist es ein Gang in sein eigenes Museum. Hier wird ihm sein Leben vor Augen geführt, auch das nahende Ende. Der Zuschauer sieht auf den Pinnwänden die Stationen aus Dillingers Leben, die ihm der Film bisher präsentiert hat. Dabei versuchte der Film aber nicht wie ein Museumsbesuch zu wirken. Mann setzt HD-Technik und Handkamera ein, um die Aufnahmen möglichst realistisch und unmittelbar aussehen zu lassen. Die Bilder sagen aus, daß hier keine nostalgische Verklärung der Vergangenheit geboten werden soll. Sie bilden fast immer ausschließlich Reales und Gegenwärtiges ab, es gibt keine Rückblenden, keine inneren Bilder, die Kamera bleibt immer sehr dicht bei den Figuren. Die Vergangenheit des Charakters interessiert nicht, Dillinger selbst stellt seinen persönlichen Hintergrund gegenüber Billie als unrelevant dar. In welchem Zustand das Land sich zu dieser Zeit befand, wird nur an wenigen einzelnen Szenen deutlich. Auch die Verehrung, die Dillinger noch zu Lebzeiten von der Bevölkerung erfuhr, spielt keine Rolle. Sein Ikonenstatus wird dem Zuschauer durch die Wirkung des Films und der Figur auf ihn selbst klar. Mann zeigt dem Zuschauer das, was seiner Meinung nach Dillinger ausmachte, dies sind die Taten und Vorkommnisse dieser wenigen Monate.

Der Film ist ein Statement für die Vorzüge der modernen Filmtechnik. Auch auf Handlungsebene findet eine Thematisierung von Umbrüchen statt. Dillingers Outlawleben wird der neuen Organisation des Verbrechens mit Hilfe neuer Techniken, hier Telefonen und landesweiter Vernetzung, gegenübergestellt. Das FBI bietet neue Möglichkeiten der Polizeiarbeit mit neuester Ausrüstung wie Abhöranlagen und Befugnissen über Staatsgrenzen hinaus. Die Erfindung des Tonfilms fasziniert die Menschen, auch Dillinger, der kurz vor seinem Tod sein Leben im Kino in der Filmhandlung von „Manhattan Melodram“ (W.S. Van Dyke, 1934) gespiegelt sieht – der Gangster in einem Gangsterfilm besucht einen Gangsterfilm.

Der klassische Gangsterfilm, der sich zu Dillingers Lebzeiten entwickelte, entwirft meist ein Porträt eines Gangsters und zeigt die Geschehnisse aus seiner Perspektive, dabei liegt die Betonung auf der Rauheit, Härte, Rastlosigkeit und Beweglichkeit seines Lebens. Genauso verfährt Mann bei der Darstellung Dillingers, und er entscheidet sich für die neue Optik, weil sie es ihm gestattet, eben diese Motive so einprägsam wie bisher kaum möglich ausdrücken zu können. Der Film ist also eine Weiterentwicklung des klassischen Gangsterfilms, wie sie nur die moderne Technik hervorbringen konnte.

Dass die HD-Aufnahme teilweise das Make-Up der Darsteller, vor allem bei Johnny Depp, sichtbar werden lässt, und die Bilder manchmal zu sehr wie Aufnahmen mit der Amateurvideokamera wirken, schwächt leider in einzelnen Szenen die Wirkung des Realismus und der Gegenwärtigkeit. Trotzdem ist es ganz besonders die innovative Optik des Films, die im Gedächtnis bleibt. Im Vergleich zu derzeit üblichen computergenerierten Weichzeichnungs- und Sepiafiltern bei der Darstellung vergangener Zeiten werden hier neue Möglichkeiten deutlich. Diese erlauben eine Annäherung an eine Ikone, die zumindest auf Bildebene dem Zuschauer ein bisher so selten gesehenes aktuelles und realistisches Porträt liefert.

Das Zerreißen des Korsetts - Anne Fontaines „Coco Chanel – Der Beginn einer Leidenschaft“

von Elisabeth Maurer

Regie: Anne Fontaine. Drehbuch: Anne Fontaine, Camille Fontaine. Kamera: Christophe Beaucarne. Musik:Alexandre Desplat. Produzenten: Caroline Benjo, Carole Scotta, Philippe Carcassonne, Simon Arnal.
Darsteller: Audrey Tautou, Benoît Poelvoorde, Alessandro Nivola, Marie Gillain.
Verleih: Warner Bros.
Laufzeit: 110 min
Start: 13.8.2009


„Coco Chanel“ zeigt nur ganz zum Schluß eine Modenschau in Paris und Coco in einem ihrer berühmten Kostüme. Erzählt wird die Zeit vor ihrem Leben in Paris. Dennoch ist es ein Film über ihren Stil, seine Bedeutung.

Der Anfang zeigt die kleine Gabrielle Chanel, wie ihr Vater sie und ihre Schwester in einem Waisenhaus abgibt und sich danach nie wieder blicken läßt, obwohl Gabrielle immer darauf hofft. Ihre Herkunft zwingt sie zur Einfachheit, dies wird ihr schon im Waisenhaus klar. Dort leben neben den Waisen auch Mädchen in Pension, die Eltern haben und aus wohlhabenden Familien stammen. Diese tragen schöne rote Mäntel, wohingegen Gabrielle ein einfaches schwarzes Waisenkleid anhat. Als sie als junge Erwachsene ihren Lohn als Näherin durch Varietéauftritte gemeinsam mit ihrer Schwester aufbessert, dienen ihre Kleider auch als Abgrenzung zu den freizügigen, geschmacklosen Prostituierten, die sich in den schäbigen Nachtlokalen aufhalten.

An einem der Abende reist sie dem wohlhabenden Offizier Etienne Balsan in sein Schloß nahe Paris nach, nicht aus Liebe, sondern einfach aus dem starrsinnigen Wunsch heraus, ein besseres Leben zu führen. Sie darf dann auch in seinem Haus bleiben, doch trennt sie ihr Stand von den hochgestellten Freunden Etiennes, der sie niemals zu feinen Gesellschaften mitnimmt und sie zwingt sich zu verstecken, wenn er Gäste hat. Etienne ist es auch, der ihr zu seiner Belustigung den Spitznamen Coco gibt, den sie nie mehr loswerden wird. Aber durch ihre Ungewöhnlichkeit, vor allem ihrem Kleidungsstil, gelingt es Coco das Interesse seiner vergnügungssüchtigen Freunde auf sich zu ziehen. Sie beginnt ihre aufgezwungene Schlichtheit und Farblosigkeit in eine Tugend zu verwandeln.

Sie verachtet die Dekadenz, Koketterie, Oberflächlichkeit und Heuchelei der reichen Gesellschaft, deren einziges Ziel das kopflose Vergnügung zu sein scheint. Und Coco wird immer klarer, daß sie selbst als Amüsement für Etiennes Freunde herhalten muß. Einzig der Engländer Boy scheint echtes Interesse an ihr zu haben. Auf einem Maskenball, bei dem er als Pirat verkleidet ist, stellt er sich ihr als Captain Rackham vor. Dieser Pirat ist vor allem dafür bekannt, daß sich auf seinem Schiff die beiden einzigen Piratinnen der westlichen Welt befanden, deren Existenz bewiesen ist. Mary Read und Anne Bonny lehnten sich im 18. Jahrhundert gegen alle Konventionen auf, zogen als Männer verkleidet in den Krieg und erwiesen sich als sehr fähige Piraten. Wie diese Frauen kleidet sich Coco in Männerkleidung. Zwar gibt sie sich nicht als Mann aus, doch macht sie durch ihren Stil klar, daß sie nicht weniger kann, weniger Rechte hat, weniger ist als ein Mann.

In einer Szene springt Coco furchtlos auf ein Pferd, obwohl sie nicht reiten kann, dann galoppiert sie im Männersitz davon und reißt sich das einengende Korsett auf. Den Starrsinn und die zunehmende Befreiung ihrer Rolle drückt Audrey Tautou vor allem durch einen entschlossenen, durchdringenden Blick aus. Die Kleider, die Coco zunächst für sich schneidert und am Ende als Kollektion entwirft, fügen den Frauen nichts hinzu, versuchen nicht sie zu verbessern, verzieren, verformen, sie pressen sie nicht in eine bestimmte Vorstellung, engen sie nicht ein, machen sie nicht zu einem Schmuckstück für den Mann, Ausdruck seines Vermögens und seiner Großzügigkeit. Im Gegensatz zu der Mode der Zeit betonen ihre Kleider nur die Natürlichkeit, die Ursprünglichkeit der Frau, auch ihre Beweglichkeit und Unabhängigkeit. Coco macht klar, daß die Frauen ebenso wie die Männer klare Linien, einfache Muster und Schnitte tragen können.

Coco fasst den Mut, ihre eigene Mode nicht nur für sich, sondern für alle Frauen zu entwerfen. Beim Nähen ist sie einmal zu sehen, wie sie über einem roten Stück Stoff sitzt. Damit kann sie nichts anfangen. Diese Farbe steht für die Dekadenz, den Snobismus und auch die Frauenverachtung der höheren Gesellschaft. Doch gesellt sich zu den schon seit dem Waisenhaus vorherrschenden Farben ihrer Garderobe, Schwarz und Weiß, nun ein helles Rosa hinzu. Coco lehnt Weiblichkeit nicht ab, ihre Vision ist eine Wandlung des Frauenbildes. Der Wandel in den Geschlechterrollen manifestiert sich in dem Modestil, auf der anderen Seite ist es aber gerade auch die neue Kleidung, die die Revolution, das Umdenken hervorbringt. Somit zeigt „Coco Chanel“ den Kampf für Gleichberechtigung zwischen den Geschlechtern und den Gesellschaftsschichten, die Ursprünge der modernen Mode und der modernen Frau.

Der Film endet mit der Vorführung von Cocos Modellen auf einem Laufsteg voll mit Spiegeln, die die Frauen vervielfachen. Die Frau wird nicht mehr nur einseitig gesehen, nichts wird mehr versteckt, sondern sie darf alle ihre Facetten zeigen und Möglichkeiten ausschöpfen. Nach dem Kinobesuch kann beim Umsehen auf der Straße bei vielem gedacht werden, daß hier Cocos Einfluß erkennbar sein könnte. Und, daß heute vielleicht oft zu nachsichtig und unbewußt mit dem eigenen Stil und der Ausdruckskraft der Kleider umgegangen wird.

Das Boll-Werk. Ein Portrait des Regisseurs und Produzenten Uwe Boll (aus dem Jahr 2005)

von Gregor Ries

Ist Regisseur Uwe Boll nur ein finanzkräftiger Dilettant oder ein neuer Ed Wood, wie die amerikanische Presse zum Start seines Monsterspektakels ALONE IN THE DARK (USA 2005) behauptete? Auch in Deutschland musste der erklärte Actionfan für seine zweite Umsetzung eines erfolgreichen PC-Spiels reichlich negative Kritik einstecken. Jedenfalls ist der 27 Millionen Dollar teure Action-/Horror-Mix auf den Spuren von THE X FILES (CAN/USA 1998) oder THE RELIC (USA/GBR/DEU/JPN/NZL 1997) Bolls bislang aufwändigstes Kinoprojekt. Als er Anfang der 1990er gemeinsam mit Frank Lustig den eher amateurhaften, mäßig komischen GERMAN FRIED MOVIE (DEU 1991/92) sowie den dialoglastigen Politthriller BARSCHEL – MORD IN GENF? (DEU 1992/93) im Eigenverleih herausbrachte, hätte wohl niemand geahnt, dass seine Werke eines Tages in Amerika mit 2000 Kopien starten würden.

Dem Splatterfilm AMOKLAUF (1993), mit dem Boll erstmals seinem Hang zu blutigen Trash-Stoffen nachging, folgte 1996 der wenig beachtete Studentenulk DAS ERSTE SEMESTER (DEU 1996). Nach dem Grund seiner vierjährigen Regiepause befragt, sagt der inzwischen in Mainz lebende Filmemacher: "Ich hatte keine Lust, so weiterzumachen. DAS ERSTE SEMESTER sollte eigentlich eine schwarze Studentenkomödie werden, doch dann fing der Verleih an, mir in das Konzept und die Besetzung reinzureden. Am Ende starteten sie den Film dann nur mit 60 Kopien. Lieber verlegte ich mich dann auf das Produzieren. Außerdem wollte ich Genrefilme drehen, und dazu gab es hier keine Möglichkeiten."

Von Wiesbaden aus produzierte Boll in Folge einige Fernsehfilme, daneben aber ebenso experimentelle Kinostoffe wie den umstrittenen L'AMOUR, L'ARGENT, L'AMOUR (DEU/CHE/FRA 1996-2000). Als er Medienfonds gründete, um Geld für in Kanada gedrehte Psychothriller wie SANCTIMONY (DEU/USA 2000) oder BLACKWOODS (DEU/CAN 2001) aufzutreiben, sah dies nur auf den ersten Blick wie eine Totgeburt aus. Bei der letztjährigen Frankfurt-Premiere von ALONE IN THE DARK rechnete der Finanzprofi in einer atemlosen One-Man-Show den Fondsinhabern und Rhein-Main-Medienleuten vor, wie deutsche Anleger bei Hollywood-Großproduktionen über den Tisch gezogen werden. Ungeachtet dessen, was man über die meist mit B-Filmstars besetzten Actionstoffe denken mag, erwiesen sich die Investment-Filmfonds für Anleger auf Dauer ertragreicher als andere deutsche Medien-Beteiligunsgesellschaften. Bei Verhandlungen ist Boll ein knallharter Geschäftsmann. Mit Darsteller wie Christian Slater oder Michelle Rodriguez pokerte er noch kurz vor den Dreharbeiten um die Gage, um letztlich im Budget bleiben zu können. Das Kalkül ging stets auf. So waren bei dem schon abgedrehten BLOODRAYNE (USA/DEU 2005) sowohl Michelle Rodriguez als auch Kristanna Loken zeitweise ausgestiegen. Als Boll jedoch Leelee Sobieski als Ersatz für den Titelpart engagieren wollte, kam Loken wieder zurück. Auch Rodriguez hatte ihre Koffer für die Kaparten längst gepackt und überstimmte ihren Agenten. Boll: "Der Agent von Rodriguez hat uns dann sogar Meat Loaf als Ersatz für Ving Rhames besorgt, der vertraglich an ein anderes Projekt gebunden war. Somit ist es gut, hartnäckig zu bleiben. Bislang zahlte es sich immer aus."

Dass die Einspielergebnisse von ALONE IN THE DARK weit hinter den Erwartungen blieben, dürfte den Tatendrang des Doktoranden im Fach Literaturwissenschaft kaum bremsen. Boll besitzt die Rechte an einem halben Dutzend erfolgreicher PC-Games wie "Dungeon Siege", "Hunter: The Reckoning", "Far Cry" oder "Fear Effect". Nachdem HEART OF AMERICA (DEU/CAN 2002) über ein Schulmassaker, sein ambitioniertestes Projekt, international schwer zu verkaufen war, verlegte er sich auf den Erwerb von Game-Lizenzen: "Die Rechte erwarben wir 2003. Obwohl wir im letzten Jahr noch Verhandlungen führten und weitere Optionen besitzen, belassen wir es im Moment erst einmal dabei. Der Vorteil liegt natürlich darin, dass die Spiele schon eine große Fanbasis besitzen. Vielleicht hängt der US-Misserfolg von ALONE IN THE DARK ja damit zusammen, dass das Spiel in Europa erheblich populärer ist."

Seine blutige Umsetzung des Zombie-Spiels "House of the Dead" spielte an den US-Kassen 10 Millionen ein und erzielte weltweit 80 Millionen Dollar. Verärgert waren einige Zuschauer jedoch über das Einbinden von Spielszenen. Dabei handelt es sich keineswegs um eine direkte Verfilmungen: Während HOUSE OF THE DEAD (DEU 2002/03) die Spiel-Vorgeschichte schildert, was sich erst in den letzten Minuten heraus stellt, sind ALONE IN THE DARK und der Vampirschocker BLOODRAYNE zeitlich nach dem letzten Game angesiedelt.

Boll zum Unterschied von Vorlage und Adaption: "Natürlich ist es wichtig, dem Geist eines Spiels treu zu bleiben, aber man muss auch eine stimmige Story erzählen. Die Fans sind über jede Änderung enttäuscht oder verärgert. Auf der anderen Seite erwartet man dann eine Geschichte mit dem Gehalt von SCHINDLER'S LIST (USA 1993). Wovon handelt denn HOUSE OF THE DEAD eigentlich? Da geht es um das Abknallen von Zombies!"

In ALONE IN THE DARK löst ein von einem skrupellosen Wissenschaftler freigesetztes Wesen gleichzeitig den Amoklauf von 19 unbescholtenen Bürgern aus. Gemeinsam mit diesen Leuten wurde Privatdetektiv Edward Carnby, die Nummer 20 (Christian Slater), als Kind aus einem Waisenhaus entführt. Von den verschwundenen Kindern tauchte Carnby damals als Einziger wieder auf. Mit einer Archäologin (Tara Reid) und seinem Rivalen (Stephen Dorff), einem Regierungsagenten, versucht der Spezialist für Paranormales jetzt den Ausbruch des Bösen aufzuhalten. Gemeinsam stösst das Trio auf ein Tor, das den Übergang zwischen der Welt des Lichtes und der Dunkelheit bildet.

In der ersten Fassung entwickelte ALONE IN THE DARK durchaus eine bewusst undurchsichtige Handlung, wenn sich verschiede Plotelemente erst allmählich zum Ganzen formen. Doch nach US-Testvorführungen entschloss man sich zu Änderungen. Dazu der Frankfurter Produzent Wolfgang Herold: "Wir haben Rückblenden neu gedreht, Inserts eingesetzt und den Schluss durch Texteinblendungen verständlicher gemacht." Das Einfügen eines nachträglichen Off-Kommentars irritierte Hauptdarsteller Christian Slater. Uwe Boll: "Christian Slater fragte mich: 'Wie oft soll ich es eigentlich noch sagen, dass die Geschichte 20 Jahre später weiter geht?' Darauf meinte ich: 'Aber die Leute kapieren es doch offenbar nicht.' Das ist kein Wunder. Beim amerikanischen Start besuchte ich eine Vorstellung um 23 Uhr. Die Hälfte der Besucher war dort unter 15 Jahren, darunter auch einige vier- oder fünfjährige Latino-Kinder mit ihren Eltern. Es ist verständlich, dass man für sie die Handlung so simpel wie möglich gestalten muss. THE LORD OF THE RINGS könnte man mit seiner ausufernden Geschichte heute ohne die bekannte Vorlage schon gar nicht mehr durchsetzen."

Die düstere Horrormär, routiniert und streckenweise rasant in Szene gesetzt, überlässt den beschworenen Schrecken lange der Publikumsfantasie. Leider krankt das übersinnliche Schauerstück wie viele Boll-Werke daran, dass die Konflikte schließlich mit dem Holzhammer (sprich: einem endlosen Massaker) aufgelöst werden, an einer eher behaupteten denn entwickelten Liebesgeschichte sowie der fehlbesetzten Tara Reid. Sowohl Drehbuch als auch Inszenierung weisen zudem manche Ungereimtheiten auf. Recht offen spricht Uwe Boll über Stärken und Schwächen seiner Filme, so wie er etwa Tara Reid für überfordert hält, was aber letztlich nichts am eingeschlagenen Weg ändern soll: "Bei den nächsten Produktionen will ich mich stärker auf das Filmemachen konzentrieren und mich weniger um die Fondsfinanzierung kümmern."

Froh ist Uwe Boll darüber, dass die Postproduktion nicht im Ausland, sondern bei "Herold & Besser" in Frankfurt erfolgt. Mit seinem Studio sorgt Wolfgang Herold für das Sound Design, die Bild-Nachbearbeitung, den Soundtrack und die deutsche Synchronisation. Abgedreht hat das eingeschworene Team den historischen Vampir-Schocker BLOODRAYNE unter anderem mit Ben Kingsley, Michael Madsen, Udo Kier oder Geraldine Chaplin stilgerecht in den rumänischen Kaparten. Die ersten Ausschnitte sehen recht vielversprechend und wieder reichlich blutig aus. Von der Nazi-Zeit verlegte man den Konflikt ins Transylvanien des 18. Jahrhunderts. Stolz berichtet Uwe Boll, dass es ihm gelang, fast ein Dutzend bekannter Darsteller für rund 3 Millionen Dollar zu engagieren, während Milla Jovovich für RESIDENT EVIL: APOCALYPSE (DEU/FRA/GBR/CAN 2004) allein 4,5 Millionen erhielt.

Noch größer soll das Fantasy-Spektakel DUNGEON SIEGE nach dem Microsoft-Erfolgsspiel ausfallen. Ein Debakel wie die DUNGEONS & DRAGONS (USA/SVK 2000)-Umsetzung will der umtriebige Filmemacher vermeiden. Vielmehr schwebt ihm ein Kampfepos wie BRAVEHEART (USA 1995) vor: "Ben Kingsley, Kristanna Loken oder Christian Slater würden wieder mitwirken. Aber eigentlich möchte ich jetzt mit neuen Leuten arbeiten. Dazu muss jedoch neben der Gage natürlich das Drehbuch stimmen, um etwa jemanden wie Edward Norton zu überzeugen." Ob es gelingt, Bolls Lieblingsschauspieler zu gewinnen, ist im Moment noch ungewiss, aber vielleicht kann er mit seinen nächsten Projekten einmal den steten Trash-Vorwurf widerlegen.

PS: Wer mehr über Uwe Bolls Aktivitäten wissen möchte, sollte sich auf seiner Firmenseite BOLL KG umsehen.

SCREENSHOT REGION: Uwe Boll im Mainzer Capitol

Mainzer Weltfilmer Dr. Uwe Boll, der mit Filmen wie BLOODRAYNE, ALONE IN THE DARK, POSTAL und was weiß ich noch alles die einen erfreut, andere vergräzt, Superstars für einen Appel und ein Ei verpflichtet und schlicht als deutscher "Ed Wood" Kulturaustausch gepflegt hat, ja dieser Uwe Boll ist live zu erleben - und hat seinen neuen Film STOIC (in der Originalfassung) mitgebracht. Nett, nicht?

Am Freitag, den 7. August (20.30 Uhr) im Capitol. Dazu gibt es eine Podiumsdiskussion mit Dr. Bernd Kiefer von der Mainzer Filmwissenschaft.