Buch: Unzuverlässiges Erzählen in Literatur und Film



Das Blaue vom Himmel

Fabienne Liptay / Yvonne Wolf (Hg.): Was stimmt denn jetzt? Unzuverlässiges Erzählen in Literatur und Film. Edition Text + Kritik 2005. 368 Seiten, € 29,50


Ja genau, was stimmt denn nun? So provokant wie der Titel fragt, so argwöhnisch muss man ja sein: Vielleicht wagen die Damen Liptay und Wolf einen fidelen Schabernack, das Buch entpuppt sich als selbstreflexives Eigengezirkel und dem Inhalt ist nicht zu trauen. Denn es geht ums Schwindeln. Angeblich. Und schließlich grinst da niemand Geringeres als der kanonenkugelreitende Baron Münchhausen, Lügenbeutel par exellence, vom himmelblauen Cover. Na schön, was heißt Lügen. In der Literatur und im Film wird das feiner betitelt: Hier erzählt man lediglich unzuverlässig. Und das erweist sich als um einiges komplexer als das bloße Vorspiegeln falscher Tatsachen, wie das Buch belegt.

Zwischen welchen Polen die Texte dieses Readers schwanken, zeigt sich an den ersten Beiträgen. Thomas Koebner spendiert einmal mehr einen seiner Texte (der dem Buch auch den Titel geliehen hat) und denkt darin laut – soll heißen schriftlich – über das unzuverlässige Erzählen hier und da und besonders in Kurosawas RASHOMON nach. Derweil sich die beiden Literaturwissenschaftler Monika Fludernik und Andreas Solbach die Sache höchst analytisch und entsprechend lustfeindlich angehen: Fludernik gibt einen Abriss der diversen literaturwissenschaftlichen Konzepte, während sich Solbach über die Rhetorik heranarbeitet. Das gerät sehr kompliziert, insbesondere weil auf wenigen Seiten verhandelt wird, was in eigene Büchlein gehört. Wehe dem, der da durchsteigen will. Wobei freilich Studenten und ähnlichen Abhängigen kurzer wie profunder Abrisse eine tiefe Schatzkiste geöffnet wird.

So scheint die Marschrichtung – ganz grob gesehen – festzuliegen: Auf der einen Seite die Literaten, die dank ihrer elaborierten Narratologie ein schweres Päckchen zu schultern haben, auf der anderen die Filmleute, in deren Gebiet, so scheint’s, unbeschwerter gewildert werden darf. Schlussendlich findet man jedoch hier wie da viel Lesenswertes. Maren Jäger beweist anhand der pikarischen (also Schelmen-) Romane, dass das Unzuverlässige schon im 16. Jahrhundert zu haben war. Mit Hilfe der Romane Fay Weldons und speziell LIFE FORCE versucht Gaby Allrath, die genderspezifische Verwendung der Unreliability auf die Schliche zu kommen, während Yvonne Wolf sich der Kinder- und Jugendliteratur annimmt.

Auch was den Film angeht, glänzt das Buch. Britta Hartmann erklärt anhand des medienwissenschaftlichen bzw. kognitionspsychologischen Konzepts des priming überhaus erhellend, wie Shyamalans THE SIXTH SENSE funktioniert. Fabienne Liptay versucht sich dagegen an David Lynchs Filmmysterien LOST HIGHWAY und MULLHOLLAND DRIVE, versucht gottlob erst gar nicht, irgendwelche ontologischen Ebenen aufzuschlüsseln, sondern zeigt u.a. mittels des Rhizom-Begriffs nach Deleuze und Guattary, wie und in welche Richtung die Reise beim Großmeister des Bizarren geht. Auch Maurice Lahdes Analyse der USUAL SUSPECTS gerät äußerst spannend, führt er doch aus, quasi in letzter Instanz, wie das Unzuverlässige schließlich das Erzählen / die Erzählung selbst verschlucken kann.

Etwas weich geraten ist hingegen Jörg Helbigs Gliederung der „Signale erzählerischer Unzuverlässigkeit im zeitgenössischen Film“. Das liegt zum größten Teil daran, dass halbwegs feste Kategorien und Merkmalsbestimmungen in einem solchen Bereich, der sich ganz auf Konventionen und deren Herausforderungen sowie jeweilige Deutungsleistungen stützt, kaum dingfest zu machen sind. Und worauf Thomas Meder letztendlich hinaus wollte, hat sich mir nicht recht erschlossen. Was für mich schade ist, weil es sich um einen gleichwohl intelligenten wie packenden Text handelt, zugleich aber auch passt, geht es doch um blinde Flecke und schwarze Löcher.

Zusammengenommen fällt dank „Was stimmt denn jetzt?“ auf, dass die literaturwissenschaftliche Narratologie vielleicht die ausgeklügelsten Modelle für das unzuverlässige Erzählen hat, diese dem Film mit seiner komplexeren Struktur mit seinem Unterschied von showing und telling aber nur ungenügend gerecht werden. Gerade in diesem Grenzenbereich, zwischen Zeigen und Erzählen, wie auch entsprechend zwischen Literatur und Film, ist es noch recht duster (auch wenn Thomas Klein mit seiner Untersuchung von Henry James’ The Turn of the Screw und deren Verfilmung THE INNOCENTS etwas Licht hinein bringt.)

Man wünscht sich folglich für die Zukunft – trotz der „Warnung“ Fluderniks, wie hurtig man darüber den Spaß verlieren kann, und auch nicht, weil das Buch dazu besonderen Anlass böte! – grundlegende Konzeptionen oder Systematiken der Unzuverlässigkeit im Film. Schon allein weil der Begriff (und hier trifft man leider eine Inkonsistenz in Liptay und Wolfs Sammlung) Gefahr läuft, zu verwässern. Nicht, dass man in kleinkrämerischen Streit ausbrechen muss, ob es so was wie den „impliziten Erzähler“ (oder „Leser“) geben mag, soll, darf oder kann.

Aber: Dass Unzuverlässigkeit nicht nur vorliegt, weil Präsentiertes nicht oder nicht so geschehen ist, sondern auch, weil die Interpretationen der vermittelnden Instanz, dem Erzählenden (vor allem in der Literatur) zweifelhaft sind, insofern sie mit den Erfahrungswerten des Rezipienten über Kreuz liegen, ist wohl richtig. Wenn jedoch (wie es z.B. der Text von Bernd Kiefer nahe legt, oder dezidiert Jörg Helbig anführt) der Begriff in Selbstreflexivität und Intertextualität hinein(ge)spielt (wird), fragt man sich schon, ob angesichts der Beliebigkeitsgefahr, die etwas so interpretativ Bedingtem wie dem „unzuverlässige Erzählen“ innewohnt, nicht des Guten zuviel getan wird.

Eines bleibt bei alledem jedoch sicher: Dafür, dass die Fußnoten der Texte im Block hintereinanderweg gesetzt wurden, gehören die Verantwortlichen gehauen. Immerhin bieten der Literatur- wie der Filmindex ein bisschen Entschädigung: in beiden werden die Originaltitel wie auch die deutschen aufgeführt.
Alles in allem darf „Was stimmt denn jetzt?“ bereits jetzt als ein Standartwerk im Bereich des unzuverlässigen Erzählens gelten.

Ungelogen!


Bernd Zywietz (2005)