Max Ophüls Preis 2010 – Harte Kerle


Der Mann im jungen deutschen Kino scheint von Natur aus eher schlaff (wie verkneifen uns an dieser Stelle einen Abgleich mit der Wirklichkeit), und gerade bei den vergangenen Filmfestivals Max Ophüls Preis, dem cineastischen Debütantenball der blauen Herzen, hatte man es eher mit den vielleicht auch mal entschlossenen, doch regelmäßig verlorenen, hilflosen Kerlen zu tun, die eher an sich persönlich oder an den Frauen leiden, seltener aber aneinander. Insbesondere wenn’s drum geht, sich die Fresse zu polieren.

Planlose Zauderer gab es nun auch diesmal wieder, einen der Extraklasse in Bartosz Werners UNKRAUT IM PARADIES (D 2009), der neben einer so unauffälligen wie aber „heimlich“ sehr klugen Inszenierung darin besticht, dass und wie er seinen Helden Lukas (Remo Schulze) nahebringt. Denn dieser junge Lukas, Sonnyboy ohne große Job-Ambitionen und eigentlich auch Lust und Qualitäten, ist schon ein rechter Unsympath, bisweilen gar ein rechtes Arschloch, charmant und witzig, wenn’s drauf ankommt, aber darüber hinaus selbstbezogen, oberflächlich, lebensuntüchtig und einfühlsam wie eine Parkuhr. Weshalb ihn seine Freundin Meike (klasse: Klara Menzel) vor die Tür setzt. Eigentlich tut sie noch nicht mal das, will nur eine Pause. Aber Kindskopp Lukas motzt und zieht aus, weiß aber auch nicht so recht, was mit sich und seiner Lebensplanung in Sachen Wohnraum und Finanzen anzufangen. Papa (ganz groß wieder mal: Charly Hübner) und Mama (auch gut, kenn' ich aber jetzt gerade nicht) müssen wieder helfen, Job suchen, Wäsche waschen, Hochhauswohnung renovieren, derweil der Sohnemann griesgrämig zuschaut.



UNKRAUT IM PARADIES ist ein bei aller Alltäglichkeit (mit Ausreißern) erstaunlich spannender Film, einer, der seinen Figuren rundum ernst nimmt und zu führen weiß – insbesondere in der einfachen wie vielschichtigen Beziehung zwischen dem „Helden“ und seiner Freundin. Diesem Lukas folgt man gerne, freilich mit Abstand, wenn er auf der Flucht vor dem Erwachsensein mit dem Kopf durch die Wand will und gerade dabei nicht weiß, wohin. Aber selbst dieser Zauderer Lukas ist jemand, der eher mal zuschlägt als dass er die Wange hin hält, der rüpelt, gerne auch in seinem sympathischen Familienkreis, wo Papa und Bruder dann zurückrüpeln.

Und eben die Lust am Zulangen, auch die vulgär-markige Sprücheklopperei war es, die die Kerle von den Max-Ophüls-Preis-Leinwänden öfter auszeichneten als jene Still-vor-sich-hin-Leidenden der letzten Jahre. Diese Gewalt und geringe Reizschwelle, das alles war dann zwar auch meist eher Schwäche als wahre Stärke, ein Holzweg und Sich-Verrennen, vor allem etwas ohne Zukunft. Aber befreiend wirkte es letztlich doch, so wie es sich darbot – wenn auch nur für den vom Sozialkinophlegma geplagten Zuschauer. Draufhauen, verbal oder physisch, war hier nämlich weniger oder zumindest nicht nur die immer gleiche Deformationsreaktion auf die „Verhältnisse“ und ihre Tristesse als ein Mittel der Selbstermannung, (seelische) Revierverteidigung und Ausbruchversuchs aus Lebensbahn und Verzivilisierung. Der Mann durfte dieses Jahr in Saarbrücken Subjekt statt Objekt sein – und ein wenig wieder Neandertaler.

Da waren die beiden bereits HIER vorgestellten beiden Großabnehmer in Sachen Auszeichnungen, SCHWERKRAFT und BIS AUFS BLUT. Gerade SCHWERKRAFT lässt den silbrigen Baseballschläger zur Keule werden, mit der der Banker Frederick nun so richtig entdomestizierend auf den Putz, auf Skinhead-Glatzen (ist das jetzt ein Pleonasmus?) und Raubopfer haut, wobei sich freilich der diebische und skurrile Fun beim Zuschauen immer mehr verflüchtigt, so wie auch Frederick im Stillen immer mehr klar wird, dass Gewalt hier nur zum besinnungslosen Taumeln gerät. Auch sein Freund und „Kollege“ in der Kriminalität kann sich mit einem finalen Schuss nicht – zumindest kann es so scheinen – aus der Vergangenheit entlassen, sondern verheddert sich gerade damit auf ewig in ihr.

Gewalt als Vitalitätsspritze braucht ähnlich wie in SCHWERKRAFT übrigens auch Andreas (Wotan Wilke Möhring) in Bogdana Vera Lorenz Kurzfilm HEIMSPIEL (D 2009). Jeden Samstag trifft er sich mit seinen Kumpels, um auf die gegnerischen Hools einzudreschen – oder selbst was einzufangen. Ganz schnell und hart geht das, dann ist die Keilerei um, alle rennen in Gruppen wieder von dannen, und zum Blut kann das Adrenalin schön pumpen. Andreas‘ Frau findet das nicht so toll, die Wunden und blauen Flecken – und Andreas‘ Arbeitgeber sich auch nicht. Denn in seinem zweiten, öffentlichen Leben ist Andreas Lehrer und lehrt die Kids, ob das so mit dem „Auge um Auge“ in Ordnung geht oder was uns die Geschichte in Sachen Helden- und Siegertum lehrt.



Doch da bekommt Andreas einen neuen Schüler, einer der Gegner und als solcher Mitverschwörer im Freizeitkriegertum. Die erste Regel eben: Man spricht nicht über den Fight Club. Ein kleiner, interessanter und intelligenter Film ist HEIMSPIEL, der unbequeme Fragen stellt, nach dem Blut und den Kick, dem Wohin und Woher in einer durchregelten Welt, und vor allem eine Film, der gut daran tut, viele davon – so wie sich selbst als eine Art Parabel – offen zu lassen.

BIS AUFS BLUT – BRÜDER AUF BEWÄHRUNG, dieser fulminante Film über zwei Freunde und ihre Würzburger Rapper-Gemeinde, kommt zwischen Drogendeals und US-Kasernen, Jugendknast und Disco-Gerangel natürlich auch nicht ohne harte Selbstinszenierung und die eine oder andere Dresche, gar Messerstecherei aus. Im Gefängnis musste Tommy erfahren, wie es ist, Opfer zu sein – der Zellenobermotz kann an ihrem Knacken hören, ob einer gute Zähne hat. Auch die sexistischen Posen sind wenig zimperlich, werden Frauen wie es der Umgangscode vorgibt, übelst zu Geschlechtsobjekten reduziert, ist „Ficken“ und „Fertigmachen“ dasselbe; quasi eine entglittene Version der Gleichsetzungen von Ficken und Schießen – Baader & Co. grüßen ungläubig von Ferne. Was aber mit den Knallköppen versöhnt ist, dass hinter dem Dominanzgebahren und Drohgebärden zwar Jungs stecken, die vielleicht in einer Prügelei mal mehr (Tommys Freund Sule), mal weniger taugen (Tommy), die es aber gerade auch umgekehrt proportional auf dem Kasten haben. So kann Sule seinen „Bruder“ mit Körpereinsatz beschützen, ist aber selbst derjenige, der zuletzt als kaputtgekokstes Loser im Knast nichts mehr zum Festhalten hat als seine Posen. Auch was die Frauen betrifft, ist da nicht halb soviel los, wie die markigen Sprüche gerne (selbst-) suggerieren: Als nach Sules Anmachsprüchen die kesse Gymnasiasten-Göre ihn tatsächlich auffordert, ihre Brüste anzufassen, langt er schnell und zögernd hin, und es fehlt nicht viel, dass er verschämt kichernd davonrennt.
Bei Tommy selbst wiederum ist Gewalt hilfloses Ventil; seine Ex-Freundin Sina stößt er weg, weil sie ihn nicht mehr will, er nichts anderes (mehr) darob zu tun weiß, und seiner Mutter verpasst er gar ein Veilchen. Dass er darüber einem als Figur nicht verloren geht, liegt an der Regie und an Darsteller Matschenz selbst, dem man voller Empathie schließlich zusieht, wie die Maske abfällt, der vorgeschobene Kiefer, die krause Stirn und er alle Beherrschung und Harschheit in der Verzweiflung sozusagen abfallen, er zusammenklappt ohne diese Maskulinitätskrücken, ein Häufchen Elend ist.
Zuletzt – Achtung, Spoiler! – ist er wieder im Jugendknast; als er in die neue Zelle kommt, sind die Augen wieder eng, der Panzer wieder angezogen. Zwei Jungs stehen vom Tisch auf – und mit einem Blick auf den Muskelprotz am Tisch haut Tommy sie zusammen. Nur um daraufhin ein Kopfschütteln vom vermeintlichen Bully einzufangen, der weiter in seinem Heftchen liest. Sich schämend ob der sinnfreien Gewaltprophylaxe verkrümelt sich Tommy aufs neue Bett, um für seine Karriere als Physiklehrer zu büffeln... Nicht nett im Miteinander, aber ein gelungener Gag, der in seiner Humorigkeit wunderbar entlarvt: selten so knapp – und, ja, doch – sympathisch wurden Testosteron-Scheuklappen wohl selten vorgeführt.

Als Ergänzung und Gegenentwurf zu BIS AUFS BLUT wirkt PICCO (D 2010) von Philip Koch. Constantin von Jascheroff (FALSCHER BEKENNER) spielt darin Kevin, der in den Jugendknast kommt und dort zum „Picco“ seiner Zelle wird, dem Neuling, der die Schikanen der anderen erdulden muss. Es ist eine umbarmherzige Welt, die zwischen Opfer- und Täter-Sein keinen Mittelweg kennt – wer sich eine Blöße gibt, hat schon verloren. Auch hier zählt Machismo alles; wehe, man kommt in den Ruch des „Schwulseins“. Koch entfaltet ein Panoptikum zwischen Fernsehzimmer und Hofgang, stellt einzelne Charaktere vor; einzelne Episoden wie das Beratungsgespräch mit der Psychologin oder der Besuch von Angehörigen lässt jeden den der vier Zelleninsassen zu seinem Recht kommen. Ein anderer des Trakts wird Opfer, wird gar vergewaltigt, ein tragischer Fall. Doch auch nur: eine Episode. Doch alles läuft auf den wahren Horror erst hin: Auch in Kevins Zelle wird es schließlich ein Opfer geben, schrecklich gemartert, zuletzt gar ermordet. PICCO erzählt in seinem letzten Akt eine der Knaststories, wie sie es zum Ekel und Grusel in die Medien schafften – drei Jungs quälen einen dritten, auf engstem Raum schaukelt es sich hoch, hin zu einer Schaudergeschichte vom Unterleib der Gesellschaft.



Sicher, Vergewaltigung mit Klobürste, zynisches Forderungen, er solle sich jetzt, die Schlinge um den Hals, gefälligst selbst erhängen, all das geht an die Nieren, dieses Maximum an Grausamkeit,, auch für das Publikum. Dass einige Zuschauer den Saal verließen kann man ihnen nicht verdenken. Doch der Vorwurf, der gegen PICCO und den Regisseur und Drehbuchautoren Koch in Saarbrücken erhoben wurden, laufen ins Leere: PICCO tut weh, ja, und klar: man hätte vieles nicht (so) zeigen müssen – sicherlich hätte man mit einem abstrakten Tanztheater und dem Li-La-Launebär ebenfalls auf das Thema hinweisen können. Aber PICCO delektiert sich nicht blind an seinen Schrecken und allem Desolaten, die Koch nach eigenem Bekunden aus diversen Jugendgefängnissen zusammengesammelt hat, so einfach macht er es sich nicht. Die Kamera schaut immer wieder weg, und gerade dieses Wegschauen, das als solches ausgestellt wird (bisweilen auch als das der Figuren), ist ein besonders schmerzliches. Darüber hinaus lässt PICCO zwar manche Figuren grausamer sein als andere – in Kevins Zelle vor allem den Oberbrutalo Marc (eindringlich realistisch: Frederick Lau – auch ein künftiger Nachwuchspreis-Anwärter). Aber ebenso wenig wie PICCO entschuldigt, klagt er an: Weswegen die Jungen einsitzen, bleibt stets ebenso offen, wie sie alle ihr Fett abbekommen, auch Marc, der eine DVD von seiner Freundin bekommt, auf der sie ihm nicht sexuelle Erleichterung bringt, sondern ihm – Überraschung – sein Kind vorstellt.
Schließlich überrascht auch PICCO, sind Täter und Opfer nicht, wie man es dramaturgisch, von der Rollenanlage her, erwartet. Gerade das macht PICCO und seine hermetische Wolfswelt so unbequem, der blanke ungeschützte Blick auf Facetten und Mechanismen des Hochschaukelns und des Enthemmens, von Abgestumpftheit, Sadismus, Triebabfuhr – im schlimmsten Fall aber von Jugendlichen, die letztlich zu gemeinsten Tätern werden, nicht im Rausch, sondern verzweifelt, kalkuliert, um selbst nicht Opfer zu werden. Großen Schauspieleinsatz bedarf es dazu. Neben Lau und Jascheroff bietet den u.a. Martin Kiefer, der als Andy mit einer ganz eigenen, einer lauernden, ironischen Variante von Überlebenshemmunglosigkeit glänzt. Ob und wie PICCO da in (s)einer Sozialkritik am Justizwesen zu pessimistisch ist, spielt angesichts dieser parabelhaften Qualität kaum mehr eine Rolle. Der Preis des Ministerpräsidenten hat PICCO jedenfalls verdient.


Bernd Zywietz