"Shutter Island" - Der Kampf mit der Welt



Martin Scorsese hat, „Shutter Island“ mitgezählt, in das Zentrum seiner letzten vier Spielfilme Leonardo DiCaprio gestellt und plant offenbar weitere Filme mit ihm. Die bisherigen Zusammenarbeiten spielen alle in unterschiedlichen Zeiten und gehören verschiedenen Genres an, doch kann natürlich eine Verbindung und auch eine Entwicklung in den Filmen untersucht werden.
In allen Filmen ist DiCaprios Charakter wirklich der Mittelpunkt, der der Handlung und auch der der Erzählhaltung. Seine Sichtweise, seine Handlungen werden dem Zuschauer gezeigt und mit ihm findet die Identifikation statt. Immer sind die Figuren auf einer Mission, im Kampf gegen eine äußere, undurchsichtige Gewalt, die sie an die Grenzen ihrer physischen und psychischen Kräfte führt oder sie gar übersteigt.

In „Gangs of New York“ (2002) ist Amsterdam in den Five Points des New Yorks von 1863 auf einem persönlichen Rachefeldzug. Während er sich in die Gang von Bill Cutting einschleicht, um diesen zu töten und damit seinen Vater zu rächen, entwickelt sich beinahe eine freundschaftliche Beziehung zu seinem eigentlichen Widersacher. Auf dem Höhepunkt dieses persönlichen Konflikts bricht die äußere Welt in Form des amerikanischen Sezessionskriegs in das Geschehen ein. Zwar kann Amsterdam seine Mission erfüllen, doch gleicht der Mord an Bill am Ende vielmehr einer freundschaftlichen Tat, oder gar einer Erlösung des Vaters durch den Sohn, da der Ältere den Untergang seines Weltgefüges, den Epochenumbruch, nicht ertragen könnte. Zurück bleibt der Held hineingeworfen in die äußere Wirklichkeit, seine alte Welt in Trümmern.

Auch Howard Hughes in „Aviator“ (2004) muss sich der äußeren Welt stellen. Angetrieben von einer Mischung aus Größenwahn und Genialität, widmet sich der reiche Erbe seiner Vision von Fortschritt und Entwicklung, sei es im Filmgeschäft oder in der Flugzeugindustrie. Immer im festen Glauben an seine Vorstellung kämpft er dabei gegen äußere Mächte wie die amerikanische Monopolfluggesellschaft Pan Am oder den Senat. Diese kann er bezwingen, doch hat er Probleme mit sozialen Beziehungen. Immer stärker wird sein Drang, alles zu kontrollieren, um dadurch die für ihn undurchschaubaren Weltzusammenhänge und menschlichen Verhaltensweisen zu ordnen. Sein Unverständnis der äußeren Welt zeigt sich durch seine sich ausweitenden Phobien vor echtem und ausgedachtem Schmutz. Zusätzlich verlässt ihn immer öfter das einzige, worauf er bisher Verlass hatte, nämlich sein Verstand, sein eigenes Ich.

„Departed“ zeigt DiCaprio als Polizist Billy Costigan auf einer Undercover-Mission. Hierbei ergeht es ihm ähnlich wie Amsterdam in „Gangs of New York“, denn er gewinnt das Vertrauen der Gangster und freundet sich auch mit ihnen an. Allerdings wird es hier viel undurchsichtiger, wer zu wem gehört, weil auch auf Seiten der Polizei Spione der Gangster arbeiten. So wird es auch für Billy immer schwieriger, seine Aufgabe weiter zu erfüllen und Gangsterboss Frank auszuschalten, einen Plan, den er ebenfalls aus persönlicher Rache verfolgt.
Es zeigt sich also, dass es in „Gangs of New York“ und „Departed“ um einen Mann geht, der eine persönliche Mission erfüllt, weil er sich dazu verpflichtet fühlt, durch private und moralische Zusammenhänge. Doch baut er dabei zwangsläufig eine Beziehung zu seinem Gegner auf, was ihn über seine eigene Persönlichkeit in Zweifel wirft. Bei Amsterdam spielt sich das Ganze in einer eigenen, abgeschiedenen Welt ab, in die die äußere plötzlich mit Wucht eindringt. In „Departed“ bewegt sich Billy dann in einem größeren Zusammenhang, doch diese verworrene Welt macht einen Durchblick noch viel schwieriger. Ebendieser sieht sich auch Howard Hughes in „Aviator“ ausgesetzt, und ihn zerstört der Konflikt mit der äußeren Welt beinahe vollständig.

Natürlich ist anzumerken, dass sich auch in Scorseses früheren Filmen, besonders in seinen ebenfalls zahlreichen Arbeiten mit Robert De Niro wie „Taxi Driver“ (1976) und „Wie ein wilder Stier“ (1980) Thematisierungen ähnlicher Kämpfe finden lassen. Auch dort erzählt er von Männern, die sich der Welt entgegenstellen und sich ihr nicht beugen wollen. Mit den DiCaprio-Rollen betrachtet Scorsese nun dies in einer neuen Form und durch neue Geschichten. Die De Niro-Filme stellen auch einen Kommentar ihrer Entstehungszeit dar, zum Beispiel thematisiert „Taxi Driver“ die Vietnamproblematik. Die neueren Filme spielen bis auf „Departed“ alle in vergangenen Zeiten. So beschäftigt sich Scorsese darin unter anderem mit dem Beginn des modernen Amerikas oder mit dem Land vor den Herausforderungen des 2. Weltkriegs und dem Kalten Krieg. Auf der anderen Seite können ihre Geschichten von Männern, die mit der Orientierung in der Außenwelt kämpfen, aber auch als abstrahierter Kommentar zu den immer verwirrenderen und komplexeren Lebenszusammenhängen in der modernen Welt gelten. Diese waren auch in den 1970er-Jahren schon erkennbar, jedoch nicht derart ausgeprägt wie zu Beginn des neuen Jahrtausends. Scorsese bietet den Zuschauern DiCaprio als Projektionsfläche an, zur Beschäftigung mit den Ursprüngen unseres modernen Lebens, aber auch mit den Problemen der heutigen Zeit. Durch die wiederholte Arbeit mit diesem Schauspieler liegt die Vermutung nahe, dass, neben allen freundschaftlichen Beziehungen, die natürlich auch eine Rolle bei der Besetzung gespielt haben mögen, er für Scorsese die derzeit perfekte Verkörperung des Mannes in seinen Geschichten von dem menschlichen Kampf um Identität zu sein scheint.

- - - Ab hier wird ein bisschen gespoilert - - -

„Shutter Island“ ist in seiner Erzählhaltung von den bisherigen Zusammenarbeiten am extremsten, denn wie sich herausstellt, ist vieles von dem, was der Zuschauer präsentiert bekommt, nur ein Schauspiel und wird durch die subjektive Sicht des Hauptcharakters umgedeutet. Teddy Daniels (Leonardo DiCaprio), US-Marschall, muss zusammen mit seinem neuen Partner Chuck Aule (Mark Ruffalo) das Verschwinden einer Patientin aus einem Hochsicherheitsgefängnis für psychisch schwer gestörte Straftäter untersuchen. Das Gefängnis liegt auf Shutter Island, einer nur durch eine einzige Anlegestelle betretbare Felseninsel, auf der alte Bürgerkriegsfestungsgebäude zu einer absolut ausbruchssicheren Anstalt umfunktioniert wurden. Trotzdem ist die Patientin, die ihre drei Kinder getötet hatte, entkommen. Der durch seine Mithilfe bei der Befreiung von Dachau und den Feuertod seiner Ehefrau traumatisierte Daniels findet immer mehr Ungereimtheiten in den Vorgängen des Gefängnisses. Er vermutet hinter dem Treiben des Oberpsychiaters Dr. Cawley (Ben Kingsley) geheime Menschenexperimenten im Auftrag der Regierung, außerdem hat er auch persönliche Rache im Sinn, denn er vermutet den Brandstifter, der für den Tod seiner Frau verantwortlich ist, als Insasse der Anstalt zu finden.
Hier ist es das Wetter als äußere Gewalt in Form eines schlimmen Unwetters, das ihn zunächst an die Insel fesselt, ihm dann aber durch einen Stromausfall Zugang zu allen Räumlichkeiten der Anstalt ermöglicht. Allerdings wird es auch für ihn immer komplizierter, Freunde und Feinde auseinanderzuhalten, selbst seinen Partner Chuck verdächtigt er am Ende.

Wie in „Gangs of New York“ befindet sich auch Daniels in einer begrenzten Welt, und wie bei Amsterdam und dem Polizisten Billy in „Departed“ ist seine Mission eine zutiefst persönliche. Er hat enorme Schwierigkeiten, die Ordnung zu durchschauen, doch schafft er es, sich einen Sinn hinter allem zu konstruieren. Allerdings sind hier im Gegensatz zu den drei anderen Filmen seine Überlegungen falsch. Sein Geist ist erschüttert, so stark, dass er seine Identität verleugnet und sich eine Phantasiewelt erdenkt. Aber er krankt nicht an der Unmöglichkeit, mit der äußeren Welt zurechtzukommen, so wie es Howard Hughes ergeht. Sein Problem ist er selbst, seine Taten, seine Schuld. Hier sind die äußeren, verworrenen Mächte, gegen die er kämpft, eigentlich seine Helfer, die ihn zur Wahrheit und damit zu sich selbst führen wollen. Sein wahrer Feind ist seine eigene Person.

Scorsese zeigt in den Filmen DiCaprio als Mann, der gegen äußere Mächte seine Identität und seine Weltvorstellung zu verteidigen sucht, ohne dabei die Übersicht und die Kontrolle zu verlieren. Mit „Shutter Island“ aber vollzieht er eine Wendung, denn hier ist die Hauptfigur erstmals ein Täter, der längst völlig die wirkliche Welt aus dem Blick verloren hat. Um dies zu erzählen, lässt er die Zuschauer durch seine Sicht sehen und mit ihm sehr langsam die reale Wahrheit erkennen. So zweifelt auch das Publikum bis zum Schluss an dem Gezeigten, will sich nicht völlig von den früheren Sinnstiftungen aus Daniels Phantasie befreien. Dies liegt an der Art der Inszenierung, die den Zuschauer psychisch und körperlich den Weg der Hauptfigur mitfühlen lässt. Der Kameramann Robert Richardson, der für Scorsese schon „Aviator“ filmte und sonst mehrfach mit Tarantino und Oliver Stone zusammenarbeitete, entwirft zusammen mit Production Designer Dante Ferretti („Aviator“, „Gangs of New York“) sehr klare Bilder, die die Rauheit und Feindlichkeit der Umgebung ausdrücken. Der Wind vom stürmischen Meer, der kalte Regen, die scharfen, glatten Felsen, alles wird dem Zuschauer durch die Bilder direkt erfahrbar gemacht. Dazu die ungewöhnliche Musik, die eher einzelne Klänge und Geräusche anstatt eine Melodie darstellt und die unheimliche und ausweglose Atmosphäre der Gefängnisinsel unterstreicht. Das Publikum wird so sehr stark in die Geschichte und die Gedankengänge des Protagonisten hineingezogen, eine andere Perspektive und Wahrnehmung wie die seine ist nicht möglich.

Dennoch baut Scorsese die gesamte Zeit über sehr geschickt kleine Andeutungen auf die Brüchigkeit des präsentierten Zusammenhangs ein. Schon in den ersten Einstellungen bemerkt der sehr aufmerksame Zuschauer einen winzigen Anschlussfehler. Während einer Halbtotalen von Daniels und seinem Partner auf der Fähre, die sie zur Insel bringt, ist in Daniels Profil schon ein Lächeln zu erkennen. In der darauffolgenden Nahaufnahme blickt Daniels aber noch ernst, bevor er dann schief grinst. So etwas, in vielen Filmen auftretend, mag zunächst als Zufall abgetan werden. Doch Scorsese lässt seine langjährige, oscarprämierte Cutterin Thelma Shoonmaker immer wieder solche Anzeichen einarbeiten, viele wesentlich auffälliger, als dass sie als Fehler gelten können. So wird der Hinweis auf die Unbeständigkeit dieser erschaffenen Welt und der anscheinend objektiven Wahrheit auch auf filmischer Ebene gestreut. Zeit und Ort der filmischen Welt werden brüchig. Fällt es auf oder wird es bei Erkennen der wirklichen Vorgänge am Ende des Films erinnert, wird dem Zuschauer die Orientierungslosigkeit und die Verwirrung des Protagonisten noch deutlicher vor Augen gestellt, da er selbst Ungereimtheiten, eben auch in der erschaffenen filmischen Umgebung, wahrnimmt.

Man mag der Geschichte vorwerfen, nichts besonders Neues zu zeigen. Allerdings ist Scorseses Erzählweise derart intensiv und packend, zudem filmisch intelligent und stimmungsvoll komponiert, dass der Film einen starken Eindruck beim Zuschauer hinterlässt. Er liefert außerdem eine interessante weitere Komponente zu der bisherigen Zusammenarbeit zwischen Scorsese und DiCaprio, die nun den Mann in der kompletten Verwirrung seiner Identität zeigt.

Elisabeth Maurer

Regie: Martin Scorsese. Drehbuch: Laeta Kalogridis nach dem Roman von Dennis Lehane. Kamera: Robert Richardson. Produzenten: Brad Fischer, Mike Medavoy, Arnold Messer, Martin Scorsese.
Darsteller: Leonardo DiCaprio, Mark Ruffalo, Ben Kingsley, Michelle Williams
Verleih: Paramount
Laufzeit: 138 min
Start: 25.2.2010

Berlinale zum 60. - 11. bis 21. Februar 2010

Samstag, der 13., war schlimm bei den 60. Internationalen Filmfestspielen Berlin. Der dritte Tag war das erst: das ist natürlich fatal für den eifrigen Berlinalebesucher. Zuvor waren schon einige Filme vorübergegangen: der hüftlahme Eröffnungsfilm „Apart Together“ über die Rückkehr eines taiwanesischen Chinesen nach Shanghai, der nach fünf Jahrzehnten seine damalige Verlobte wieder besucht; „My Name Is Khan“, Bollywood in the US, eine Art Billigvariante von „Forrest Gump“ in schlecht (was nicht bedeutet, dass „Forrest Gump“ bedeutend gut war). Das war der erste Tag.

Dann, am zweiten, gleich zwei Höhepunkte der gesamten Berlinale – die zu erwarten waren. Man macht sich ja vor den Filmfestspielen seine Gedanken, verschafft sich einen Überblick über das Programm und weiß dann normalerweise auch, welche Filme interessant sein könnten, welche absolute must sees sind, welche als mögliche Lückenfüller in filmlose Stunden eingepasst werden können. Daher waren von vornherein Roman Polanskis „The Ghostwriter“ und die neue, vollständige „Metropolis“-Aufführung mit Live-Orchester leicht als Muss-Filme einzuordnen, und sie erfüllten die Erwartungen.


„Metropolis“: das ist natürlich in der Tat ein Ereignis, weil nun tatsächlich (beinahe) die originale Länge des Films zu betrachten war – mit hineingeschnitten das Material der schadhaften 16mm-Kopie, die 2008 in Argentinien aufgetaucht ist, zerkratzt und verregnet – Mängel, die schon in diese Kopie hineinkopiert und nicht mehr zu entfernen waren. Was sein Gutes hat: Denn nun ist durch die gelegentlichen Qualitätseinschränkungen im Filmmaterial offenbar, was in der vorherigen definitiven restaurierten Fassung von 2001 gefehlt hat. Nun endlich ist Langs Dramaturgie tatsächlich sichtbar, ein langsames Aufbauen des großen Konfliktes, das eineinhalb Stunden lang zu fesseln vermag – während die letzte Stunde des Films in Versöhnlichkeit und Banalität aufgeht, mit Herz und Hand und Hirn, die sich vermählen… Womit der Film – damals mit fünf Millionen Reichsmark unglaublich teuer, so dass er quasi die Ufa in den Ruin trieb – einiges gemein hat mit heutigen Blockbustern, die super aussehen, tolle Prämissen haben und am Ende in allgemeingefälliger Inkonsequenz auslaufen.

Der „Ghostwriter“ ist zwar, was das Drehbuch von Vorlagenautor Robert Harris und Polanski selbst angeht, nicht besonders gut geschrieben; die Inszenierung aber macht das mehr als wett, mit mindestens drei absolut meisterhaften Szenen, die zeigen, dass Polanski eben doch einer der besten Regisseure ist. Auch – oder gerade wenn – er keinen „politisch relevanten“ Film inszeniert, keine „gesellschaftlich wichtige“ Botschaft an den Mann bringen will. Na klar: Pierce Brosnan spielt hier einen an Tony Blair angelegten Ex-Premierminister, der vor dem Den Haager Menschenrechtsgerichtshof angeklagt wird – aber die Verschwörung, die dahinter steht und natürlich die CIA mit einschließt, ist völlig fantasie-filmisch, eine Steilvorlage der Wirklichkeit, um daraus einen spannenden Thriller zu machen, der zwar reale Elemente wie Irakkrieg, Menschenrechtsverletzungen, CIA-Foltersessions, Blairs Rechtfertigungsversuche etc. mit einschließt, aber nicht zu plakativer politisch-kritischer Aufklärung des Zuschauers nutzt, sondern als Elemente von Suspense und Thrill einsetzt. Ewan McGregor ist der Ghostwriter ohne Namen, der auf eine US-Atlantikinsel eingeladen wird, um die Memoiren von Alan Lang, früherer britischer Premierminister, zu verfassen. Sein Vorgänger ist auf mysteriöse Weise ums Leben gekommen – das sehen wir gleich zu Anfang des Films, eine dieser unvergesslichen Szenen –, und in dessen geheimem Nachlass findet McGregor Hinweise auf Ungereimtheiten in Langs Version seines eigenen Lebens. Und das führt ihn direkt in eine böse Verschwörung, inklusive dem Einsatz eines Luxus-BMW-Wagens, dessen Navigationssystem ihn auf eine weitere Fährte führt. Dabei inszeniert Polanski so überzeugend, mit Witz, Suspense und Atmosphäre, dass die Löcher der Story – etwa die Verführung McGregors durch die Ehefrau des Premierministers oder ein Schusswechsel am Flughafen aus heiterem Himmel – nicht ins Gewicht fallen.

Es zeigt sich in diesem Film auch, dass die Berlinale eben doch vollkommen berechenbar ist. Polanskis Film enthält eine Menge Punkte, die auf Kosslicks Checkliste stehen für potentielle Berlinale-Wettbewerbskandidaten: Stars; Drehort Berlin-Brandenburg; Regie-Altmeister; und als Bonuspunkt: der aktuelle Berlinale-Fahrzeug-Sponsor wird im Film prominent gefeaturet, hervorragend eingepasst in den Filmplot, wie es den Bond-Filmen mit ihrem Product Placement trotz jahrzehntelangem Experimentierens nie gelungen ist. (Ebenso deutlich war, warum der Eröffnungsfilm ausgewählt wurde: darin frönen die Protagonisten dem genussvollen Essen, was ja bekanntermaßen Hobby Numero 1 von Berlinalechef Kosslick ist; und zweitens geht es um ein geteiltes Land, und damit ist der Film natürlich prädestiniert für Berlin, auch wenn die China-Taiwan-Trennung nicht wirklich auf BRD-DDR übertragbar ist, zumindest nicht anhand von „Apart Together“.)

Es ist freilich nicht so, dass die Filme, die den inoffiziellen Berlinale-Auswahlkriterien genügen, unbedingt gut sein müssen. Aber enttäuschend müssen sie eben auch nicht sein, und das war das Problem an diesem verdammten Samstag. Scorsese stand auf dem Plan, und Thomas Vinterberg. Regisseure, von denen man denn doch was erwarten kann, sollte man meinen. „Shutter Island“ genügte immerhin den Punkten „bekannter Regisseur“ und „Regisseur, der schon mal da war“, zudem natürlich „Starpräsenz“: Leonardo Di Caprio in der Hauptrolle, das ist doch was. Dass der Film aber nur die schlechte Kopie eines Shyamalan-Filmes ist, das hat mich total runtergezogen. Di Caprio kommt als US-Marshall Teddy Daniels auf eine geheimnisvolle Insel, wo das sicherste Gefängnis für wahnsinnige und gefährliche Straftäter von ganz USA steht, voller Verrückter, und eine der Insassinnen ist verschwunden. Ihr muss Daniels mit seinem Partner Chuck Aule (Mark Ruffalo) auf die Spur kommen, ach, und da sind so viele Geheimnisse, ein Deutscher (Max von Sydow) ist einer der Chefs, Ben Kingsleys Anstaltsleiter arbeitet nicht mit ihnen zusammen, es gibt Ungereimtheiten, Vermutungen von Psychoexperimenten und unmenschlichen Lobotomie-Operationen, dazu Di Caprios Traumata von Dachau-KZ-Befreiung bis zu Feuersbrunst – und naja, irgendwann ist halt die Auflösung klar. Was aber Scorsese nicht stört, er macht weiter mit seinen inszenatorischen Geheimnistuereien, inszeniert nicht für seine Figuren, wie sie die Welt sehen und erleben, sondern nur auf den Effekt auf den Zuschauer hin – was einer der Hauptfehler des Films ist, dass sich Scorsese eben weder darauf einlassen kann, was der Zuschauer zu welchem Zeitpunkt des Plots schon weiß, noch, dass er sich wirklich einlassen würde auf seine Figuren – mehr kann ich hier nicht verraten, den Film verspoilern will ich ja auch nicht. Das sind jedenfalls Anfängerfehler, die ich eigentlich nicht einmal einem Regiedebütanten durchgehen lassen würde. Und Scorsese hat ja immerhin schon den einen oder anderen Film gedreht.

Und Vinterbergs „Submarino“ weist ähnliche Mängel auf. Auch hier tendiert der Regisseur dazu, am Ende alles zum dritten und vierten Mal zu erklären – mit dem Unterschied, dass einen dieser Film 110 Minuten lang überhaupt nicht interessiert. Ein ödes Sozialdrama, zuerst das Kindheitstraume zweier Brüder, dann verfolgt der Film diese beiden Jahrzehnte später in ihrem verkackten Leben: zuerst den einen, einen Gewalttäter, der seine Aggressionen nicht zügeln kann, dann den anderen, drogensüchtiger alleinerziehender Vater, der mit sich und der Welt nicht klarkommt. Sozial-Depri-Kino – was ja nicht das schlimmste wäre. Aber neben den Redundanzen – die auf fehlendes Gespür des Regisseurs für seinen Stoff schließen lassen – proklamiert Vinterberg eben auch eine ganz fatalistische Weltsicht, keiner seiner Protagonisten hat je die Möglichkeit, irgendwas zu entscheiden für sich und für seine Art, das Leben anzugehen. Das hat aber auf seltsame Weise auch nichts mit Anklage der Zustände in den untersten sozialen Schichten zu tun; denn auch die Umwelt, das Milieu, die Gesellschaft hat nichts zu entscheiden, kann nichts ändern, was das soziale Unter-die-Räder-Kommen der Filmprotagonisten angeht. Es ist alles, wie es ist – und das wird am Ende nochmals und nochmals postuliert, also: a movie without a cause. Hätte man von Vinterberg nicht etwas mehr erwarten können, sprich: mehr als nichts? Nicht nur wegen seines Meisterwerkes „Das Fest“ – auch „Dear Wendy“ von 2005, nach einem Drehbuch von Lars von Trier, war ja sehr schön, dieses durch und durch ironische Liebeslied an Schusswaffen.

Diese beiden Enttäuschungen haben mich so runtergezogen, dass ich abends freiwillig in einen Doris-Dörrie-Film gegangen bin. Mit dem Gedanken, danach entweder völlig hirntot das Kino zu verlassen, oder aber dabei Hoffnung erlangt zu haben: weil dann klar ist, dass es auf jeden Fall besser werden muss. Tatsächlich hat diese Radikalkur geholfen: denn immerhin hat dieser Film nicht enttäuscht. Dörrie bestätigt in „Die Friseuse“ wieder einmal alle Vorurteile, die man aus guten Gründen gegen sie hegen sollte, sie macht die Fehler, die sie immer macht – also beispielsweise das vordergründige Anliegen des Films (hier: die Würde fetter Frauen herauszustellen) durch Witze, die sich über genau dieses Anliegen lustig machen, zu konterkarieren (also zum Beispiel die dicke titelgebende Friseuse eben tatsächlich als fett und hässlich zu inszenieren, in ekelhaft bunten, äußerst geschmacklosen Kleidern). Drehbuchautorin Laila Stieler hat zuvor auch Andreas Dresens „Wolke Neun“ verfasst, reanimiert nun dieses Erfolgskonzept nicht mit Alten, sondern mit Dicken – doch wo es Dresen schafft, die Seniorenliebe tatsächlich als etwas ganz normales zu zeigen, da geht Dörrie voll ran und inszeniert das fette Dasein der Friseuse eben genau als das Besondere, das es eigentlich gar nicht sein soll. Und diese Unbeholfenheit bei Regie und Sujet hat mir geholfen, hat mich wieder aufgerichtet; so dass ich die folgenden Berlinale-Tage in einer zwar desillusionierten, aber nicht völlig depressiven Gefühlslage überstehen konnte.

Wobei stets klar war: Wirklich was Besseres wird nicht kommen. Denn die Berlinale ist nun mal berechenbar, und wenn die Beschreibungen für Panoramafilme wieder und wieder auf schwule/lesbische Themen hindeuten, oder wenn bei Forum-Filmen von langen, dreiviertelstündigen Kameraeinstellungen oder der Thematisierung des Zuschauerblicks die Rede ist, dann weiß man im Allgemeinen, was einen erwartet – und klar, es ist meine individuelle Grunddisposition, aber solche Filme sind eben nur in Ausnahmefällen ertragbar. Und nach den im vorhinein lancierten Filmbeschreibungen war eben klar: Es wird im weiteren Verlauf weder im Wettbewerb noch in den Nebenreihen irgendwelche Überraschungen geben, Filme, die man sich aus Interesse ansieht und dann von dessen Qualitäten, ja, geradezu: umgehauen wird. Tatsächlich erwies sich diese Vermutung als wahr, die Filme des weiteren Berlinale-Verlaufs entstammten tatsächlich der Kategorie „OK, aber in drei Monaten wieder vergessen“. Das war vielleicht das Schlimmste an dieser Berlinale: dass die Hoffnung zuerst gestorben ist, und kein Film sie wieder zum Leben erwecken konnte.

Bis dann die letzten beiden Tage kamen.

Da hat sich das Filmfestival zum Schlussspurt nochmal aufgerafft, hat solche Filme gezeigt, wie ich sie sehen wollte: “Au Revoir Taipei” aus Taiwan, “Mammuth” aus Frankreich und “Golden Slumbers” aus Japan waren die Rettung der Berlinale.

In „Au Revoir Taipei“, von dem US-Taiwanesen Arvin Chen gedreht, ausführend produziert von Wim Wenders, wird Paris als der Sehnsuchtsort der Liebe etabliert, den es nur in Filmen sein kann. Die Freundin von Kai ist dorthin gezogen, er verehrt sie nun von Taipei aus weiter, auch wenn sie nichts mehr von ihm wissen will. In einer Buchhandlung lernt er aus einem Buch französisch per Lautschrift und merkt nicht, wie sich die Buchhändlerin für ihn interessiert. Um Geld für ein Ticket nach Paris zu erhalten, lässt er sich auf einen Kurierdienst für einen alternden Gangster ein, und in dieser Nacht häufen sich die absonderlichen Ereignisse. Er trifft auf die Buchhalterin, muss das Päckchen gegen grell orange gekleidete Möchtegerngangster verteidigen, wird von trotteligen Polizisten mit Liebeskummer verfolgt – eine liebenswürdige Romanze entwickelt sich, und zugleich fließt die Gangsterkomödie mit ein, ein charmanter Stilmix, unterlegt mit swingenden Melodien wie aus Musicals der 30er, 40er Jahre. Locker laufen die Handlungsstränge aneinander vorbei, treffen sich unvermutet wieder; und die vorwiegend jungen Darsteller bieten perfektes komisches Timing: wie der Boss der unbeholfenen orangenen Kleinkriminellen am Telefon böse Drohungen ausstößt, was er alles mit einer entführten Geisel anstellen wird, und diese zugleich mit freundlichen Gesten beschwichtigt…

Einen ähnlichen Genremix bietet der japanische Film von Yoshihiro Nakamura mit dem schönen Titel „Goruden Suramba“ – der daher kommt, dass der Titel des Beatles-Songs „Golden Slumbers“ in japanische Schriftzeichen hin- und dann wieder in lateinische Buchstaben zurücktranskribiert wurde. Der Botenjunge Aoyagi gerät in einen Komplott: er wird zum Sündenbock für ein Attentat auf den japanischen Premierminister, Polizei, Geheimdienst, Medien haben ihn als Täter ausgemacht – tatsächlich scheint die Verschwörung bis in höchste Kreise zu reichen, die die TV-Sender mit immer neuem gefälschten Bildmaterial versorgen, das Aoyagi belastet. Er flieht, und keiner vertraut ihm mehr. Das ist einerseits ein spannender Thriller – und andererseits eine witzige Komödie, wie er sich verhält, welch skurrilen Typen er begegnet, wie er seine alten Freunde von der Uni von seiner Unschuld überzeugen muss. Und nebenbei spielt noch ein freundlicher Serienkiller eine Rolle, der ihm hilft, ebenso willkürlich, wie er tötet: „Na, überrascht?“ Diese Geschichte wird angereichert mit Rückblenden der vier Freunde aus Uni-Zeiten, Erinnerungen, die sie – obwohl sie sich jahrelang nicht gesehen haben – noch immer verbinden. Indem diese Erinnerungen an schöne gemeinsame Zeiten im Jetzt bei verschiedenen Personen an verschiedenen Orten ähnliche Gedanken generieren, so dass viele Kleinigkeiten ineinandergreifen, um am Ende eben doch Großes zu bewirken. Nein: nicht die Aufdeckung der Verschwörer, aber immerhin das Entkommen mittels eines Großfeuerwerks, immerhin das Überleben. Gespiegelt wird der Film durch das Leitmotiv des Liedes „Golden Slumbers“ vom „Abbey Road“-Album: wie da die zerstrittenen Beatles sich noch einmal zusammengerauft haben, noch einmal zusammen ihre Songs aufgenommen und ein großes Meisterwerk vollbracht haben.

„Mammuth“ ist der neue Film von Benoît Delépine und Gustave Kervern, mit einem phänomenalen Gerard Depardieu in der Hauptrolle mit passendem Spitznamen Mammuth, einen dumpfen, ungebildeten, langhaarigen, sehr fetten Dummling. Der wird in den Ruhestand geschickt, hat Langeweile, weiß nichts mit sich anzufangen und muss dann für seine Rentenansprüche noch ein paar Arbeitsbescheinigungen aus weit zurückliegenden Zeiten zusammensuchen: eine Reise durch Frankreich, zu den Orten seiner Vergangenheit, zu den früheren Arbeitsstellen als Türsteher, Jahrmarktarbeiter, Hilfsarbeiter. Eine Reise auf seinem alten Münch-Mammut-Motorrad, Baujahr 1973; begleitet von einem Gespenst, von den Bildern seiner ersten großen Liebe, die bei einem Motorradunfall gestorben ist: Isabelle Adjani spukt durch den Film. Die Regisseure haben sich hier ganz aufs Episodische eingelassen, kein großes Ziel treibt „Mammuth“ an, wie es noch im vorhergehenden „Louise Hires a Contract Killer“ war. Keine Antiglobalisierungs-Agitprop-Bizarrerien, sondern schlicht die reine Absurdität des Daseins wird hier präsentiert. Wie sich Mammuth auf einen seltsamen Wettbewerb am Strand einlässt mit einem, der wie er mit dem Metalldetektor unterwegs ist; oder, vor allem: wie er zu seiner Nichte zieht, die aus allerlei Gegenständen seltsame Kunstwerke erschafft, irgendwo zwischen fantastischem Einfallsreichtum und naivem Kitsch – die Künstlerin Miss Ming spielt diese Frau namens Miss Ming. Und zugleich ist diese Miss Ming ziemlich deutlich debil. Und sie verändert Mammuth: der hat am Ende eine Art indianischen Kaftan an und merkt, dass er selbst auch Kunst erschaffen kann, Schinken-Kunst: Schinken-Papier-Schinken-Papier-Schinken-Papier-Schinken-Papier usw. aufeinandergeschichtet. Irgendwie hat er was gelernt über sein Leben, darüber, wie er sein Leben lang runtergedrückt wurde, sich selbst unter einen Scheffel gestellt hat. Vielleicht – eine direkt plausible Moral kann dem Film auch wieder nicht entnommen werden.
Unvergesslich jedenfalls, wie sehr sich Mammuth in seine Vergangenheit versetzt, wenn er wie damals, vor 45 Jahren, mit seinem Cousin im Bett liegt und sie sich gegenseitig einen runterholen.

Mit diesen Filmen haben die Berliner Filmfestspiele erst so richtig angefangen; gerade, als die Berlinale zu Ende ging.

von Harald Mühlbeyer

“#9” - Postapokalypse now

„#9“ / „9 “ - Nicht zu verwechseln mit Rob Marshalls Star-Musical "Nine"!


Die Welt gleicht einem Trümmerfeld. Die menschliche Rasse ist nur noch in Form von Leichnamen präsent. Ohne die vereinzelt zwischen den Schuttbergen emporragenden verkohlten Baumgerippe würde man glatt daran zweifeln, dass es an diesem Ort überhaupt einmal eine Natur gegeben hat. Der Himmel ist bedeckt von dunklen Wolken, einzig erhellt vom Feuerschein brennender Ruinen und dem schwach durchdringenden Abendrot, was der postapokalyptischen Landschaft eine schrecklich-schöne Morbidität verleiht.

Hoch über diesem Endzeit-Szenario steht ein kleines puppenartiges Wesen an einem Fenster und wirft einen vorsichtigen Blick hinaus in die düstere Fremde. Kurz zuvor wurde das aus Jutestoff, Reißverschluss und allerlei mechanischen Bauteilen bestehende Männchen von einem Wissenschaftler zum Leben erweckt – als neunter Teil eines Schlüssels, mit dem man das Erbe der Menschheit – nämlich die menschliche Seele – retten könnte. Doch „9“ weiß nichts von seiner immensen Bedeutung, denn sein Schöpfer starb just in dem Moment, als der Winzling zum ersten Mal seine irisblendenartigen Augen öffnete.

In der Hoffnung, draußen auf Artgenossen zu treffen, wagt sich das Geschöpf ängstlich ins Freie – und hat Glück, denn es begegnet tatsächlich einer ihm ähnelnden Kreatur. Doch die Zweisamkeit währt nur kurz, denn sie werden von einem skelettartigen Maschinenraubtier angegriffen, das den Gefährten verschleppt. Schwer verletzt, oder besser: beschädigt, bricht „9“ zusammen, wird jedoch von dem technisch versierten Tüftler „5“ aufgelesen und wieder zusammengeflickt. In der Folge macht der Neuling mit weiteren Figuren Bekanntschaft: mit „1“, dem unberechenbaren Anführer der Gruppe, und dessen hünenhaftem Beschützer „8“; mit der geschickten Kämpferin „7“; dem Archivaren-Zwillingspaar „3“ und „4“; und dem traumatisiert wirkenden „6“, der stets ein geheimnisvolles Objekt zeichnet. Von ihnen erfährt „9“, was die Zivilisation zerstörte: Die von den Menschen kreierten Maschinen wandten sich eines Tages gegen ihre Macher und rotteten sie in einem erbitterten Krieg aus.

Leider treiben die mutierten Roboter weiter ihr Unwesen und trachten auch den Minipuppen nach dem Leben. Zwar können sie ihr entführtes Gruppenmitglied „2“ befreien, doch während der gefährlichen Rettungsmission entfesselt „9“ versehentlich eine kolossale Maschinenbestie, die nun gezielt Jagd auf die Zweibeiner macht, um diese letzten Überbleibsel der Menschen zu vernichten. Die Winzling-Truppe wird in ein nervenaufreibendes Abenteuer gestürzt, in dessen Verlauf sie nicht nur um die eigene Existenz bangen muss, sondern auch das von ihrem ‛Wissenschaftler-Vater’ erdachte Rettung verheißende Rätsel lösen muss.

Die Geschichte dieses Animationsfilms, der auf Shane Ackers 2006 für den Academy Award nominiertem Kurzfilm „9“ basiert, signalisiert sofort, dass der Faktor ‛Unterhaltung’ wohl nicht den Ausschlag zur Produktion des Films gegeben haben dürfte.(Zum Kreis der Produzenten gehört übrigens auch Tim Burton, der schon vielfach durch die Kreation düster-bizarrer Filmwelten in Erscheinung trat, und dessen neueste Arbeit „Alice im Wunderland“ demnächst in den deutschen Kinos anlaufen wird.) Vielmehr handelt es sich bei „#9“ um ein ambitioniertes Projekt, das sowohl durch seine bittere Thematik als auch deren adäquate ästhetische Umsetzung einen nachdenklich gestimmten Zuschauer hinterlässt. Leider wird es Ackers Film dadurch schwer haben, ein Publikum zu finden. Kinder scheiden ob der Drastik der Darstellung von vornherein als Zielgruppe aus, und Erwachsene werden bei ihrem Kinobesuch eher zu Blockbuster-Spektakeln wie „Avatar“ (Regie: James Cameron) tendieren als einen Film zu wählen, der ihnen den Spiegel vorhält.

Dabei kann sich „#9“ wirklich sehen lassen. Die ungewöhnliche visuelle Gestaltung dieser Animation entfaltet von Anfang an seine Wirkung. Besonders stark wirkt der Kontrast zwischen der verbrannten Ruinenwelt und den fast schon kitschig anmutenden warmen Lichtstimmungen, in die das Grauen getaucht wird. Unschöne Braun- und Grautöne stehen angenehm leuchtenden Rot- und Gelbtönen gegenüber – doch selbst diese entstehen oft nur als Beiwerk zerstörerischer Kräfte wie z.B. Feuer.

Und stets entdeckt man neue interessante optische Details. So legt Regisseur Acker sichtlich großen Wert darauf, den Objekten seines computergenerierten Kosmos eine beeindruckende Stofflichkeit zu verleihen. Das geschickte Sounddesign spielt hierbei eine entscheidende Rolle: das metallische Quietschen aufeinanderprallenden Stahls kündigt das herannahende Maschinenmonster an; das Rascheln des Jutestoffs verrät, an welchen Stellen sich die Puppenwesen in der schützenden Dunkelheit verbergen; das dumpfe Klacken des hölzernen Bischofsstabs lässt erahnen, dass sich Anführer „1“ in der Nähe befindet.

Im Gegensatz zu anderen Filmen versteckt „#9“ seine Botschaft nicht in subtilen Andeutungen und Metaphern, sondern findet klare, ausdrucksstarke Bilder und Worte dafür. Dies ist auch notwendig, denn in der Tat können gewissenlose Wissenschaftler, wenn sie ihre Fähigkeiten für die falschen Zwecke einsetzen, schlimme Dinge anrichten. Es bleibt zu hoffen, dass die Forscher unserer Tage und die der Zukunft bei ihrer Arbeit nicht aus lauter Macht- und Profitstreben ihre Seele vergessen, denn sonst droht der Menschheit womöglich das gleiche Schicksal wie der Zivilisation in diesem Film – und dann werden vermutlich keine kleinen Stoffwesen zur Tat schreiten, um unser geistiges Erbe zu retten.

Claudia Bosch

USA 2009. Regie: Shane Acker. Buch: Pamela Pettler. Musik: Deborah Lurie . Produzenten: Timur Bekmambetow; Tim Burton, Dana Ginsburg, Jinko Gotoh, Jim Lemley.
Laufzeit: 79 Min.
Verleih: Universal.
Kinostart: 25.02.2010.

"Louise Hires a Contract Killer" auf DVD - Lustiges Bonzenkillen



Mit ihrem neuen Film, der einen deutschen Titel trägt, der an Kaurismäki erinnert und den Zuschauer zu einer etwas falschen Voreinstellung dem Film gegenüber bringt, erweitern die zwei französischen Komiker und Regisseure Gustave de Kervern und Benoit Deléphine ihre mit ihren bisherigen zwei Filmen („Aaltra“ und „Avida“) eingeschlagene lakonische Richtung und treiben sie bis in den Surrealismus.

„Louise Hires a Contract Killer“ hat einen ganz einfachen Plot. Eine Fabrik wird geschlossen, also beschließen die gerade gefeuerten MitarbeiterInnen, sich an dem Chef zu rächen, indem sie ihn mit dem Abfindungsgeld von einem Auftragsmörder erledigen lassen. Damit und darüber hinaus sollte der Zuschauer aufhören, Kausalität oder Kohärenz in diesem Film zu suchen.

Eines der Zentren dieser filmischen Welt ist Louise (Yolande Moreau). Von ihr stammt auch die Idee zu der Verwendung der Abfindungsgelder. Louise heißt in Wirklichkeit Jean-Pierre und ist ein Mann. Sie war im Knast. Lesen lernt sie gerade von einem Schuljungen aus der Nachbarschaft. Leider war sie aber nicht fleißig genug und konnte die Mahnung zur Evakuierung ihres Wohnhauses nicht entziffern. Ach ja, eine Frau wurde Jean-Pierre, weil er sonst keine Arbeit finden würde. Das andere Zentrum des Films ist der Auftragsmörder Michel (Bouli Lanners). Michel ist eigentlich eine Frau. Er ist ein Spezialist des Sicherheitsdienstes, mittlerweile hat er aber alle Verbindungen zur Außenwelt gekappt. Seinen Arbeitsplatz als Sicherheitsmann: ein Trailer-Park.

Aus den niederen Schichten der Gesellschaft gehen also unsere Helden eine Reise nach oben in der kapitalistischen Hierarchie des Konzerns an, immer weiter nach oben von Chef zu Chefchef zu Chefchefchef immer den Boss des gerade umgelegten Boss entdeckend, so dass der Auftrag sich in eine endlose Schleife zu verwandeln droht. Ihre Orientierungslosigkeit dabei spiegelt nicht nur das bereits erwähnte Bildungsniveau, den entsprechenden Humor (der sich in diesem Film auf diese Weise diegetisch wunderbar selbst vor der Kritik erlöst), sondern auch ihre Identitätsprobleme bezüglich der eigenen Sexualität. Was auch immer die Ursachen dafür sein sollen, keiner der beiden findet alleine zu einem vollkommenen Individuum, oder zum Erfolg, alles wird ihnen nur als Paar gegönnt.

Nach und nach schafft es Michel, sich vor der Erledigung seines Auftrags – das Killen – zu drücken, indem er im Sterben liegende Bekannten aus seinem unsichtbaren Hut zaubert und ihnen einen glanzvollen Abgang gönnt, indem sie seine Aufgabe erfüllen: Todkranke morden für ihn, sie haben ja nichts mehr zu verlieren. Aber diese Art Freunde werden immer seltener, so wie die Sprache der Bosse sich zurückbildet, je mehr man sich der Spitze dieser industriellen Hierarchie annähert (irgendwann endet diese in einem bloßen „Buy / Sell“, die Kargheit des logischen Denkens der Unterschicht ironisch reflektierend), und er wird von Louise aufgefordert, endlich mal ein Mann zu sein und es selber zu tun. Das Mannsein schafft er natürlich nicht, dafür findet er aber zur resoluten Frau und erledigt endlich einen Boss, was ihm eine neue von Louise zu respektierende Identität vermacht, die zur Erzeugung eines Kindes (im Knast, nach der Verhaftung) führt.

Der Auftrag ist aber nie erledigt, die Hierarchie der Bosse wird zu einem ironischen Kommentar der finanziellen Krise und geht immer weiter. Übrig bleibt nur die Frage, was für ein Geschlecht das Kind hat, und die bittere Antwort für den Genderdiskurs: die Chefs sollen es entscheiden.

Am Ende noch die Widmung an Louise Michel, die französischen Anarchistin aus der Pariser Kommune des 19. Jahrhunderts, deren Männerkleidung und Aufrufe zur Verwendung radikaler Mittel gegen die konservative Regierung im damaligen Frankreich zur Geschichte wurden. Und die entfallenen Szenen auf der DVD, leider ohne deutsche Untertitel.

Ciprian David

"Louise Hires a Contract Killer" / "Louise-Michel", Frankreich 2008.
Regie, Buch: Gustave de Kervern und Benoit Delépine. Kamera: Hugues Poulain. Produktion: Benoît Jaubert und Mathieu Kassovitz.
Darsteller: Yolande Moreau, Bouli Lanners, Benoit Poelvoorde
Vertrieb: KOOL Filmdistribution
Laufzeit: 91 Min.
Veröffentlichung: 26.2.2010

Diese DVD können Sie bequem in unserem Online-Shop bestellen!

Mannheimer Grindhouse-Nacht mit Überraschung

Einen Überraschungsfilm verspricht das Team der Grindhouse-Doppelnächte im Mannheimer Cinema Quadrat für Samstag, 27.2., ab 21.30 Uhr.

Auf jeden Fall gezeigt wird The Brave and the Evil, Hongkong 1971:
Eine Diebesbande unter Führung des Kung-fu-Meisters "Teufelspeitsche" Chao I-fu überfällt einen Wagenzug mit Hilfsgütern, die für Hungernde bestimmt sind. "Eisenfaust" Pai Szu (Regisseur und Hauptdarsteller Wang Yu) verbündet sich mit der Tochter des erschlagenen Konvoiführers, um in die Festung der Räuber einzudringen und Rache zu nehmen. Kung-fu Action vom feinsten, komplett mit verwunschenem Landgasthof und hüpfendem Vampir.

Das ist schon mal vielversprechend. Und wird der andere Film, der als Überraschungsfilm deklariert ist, vielleicht tatsächlich ein Frauen-Gefangenencamp-Film sein, wie im papiernen Flyer angekündigt? Wir sind gespannt...

DVD: „Die Liebe der Charlotte Gray“ - Zu schön, um wahr zu sein



Der Film beginnt mit einem schnellen Kameraflug über blühende Lavendelfelder. Dann, während der Vorspann läuft, sind diese Lavendelfelder aus einem Zugfenster heraus zu sehen. Das Lila ihrer Blüten verwischt zu einem Rauschen, hier kann kein einzelnes Bild fokussiert werden, Innehalten ist nicht möglich. Dann eine Überblendung in eine Großaufnahme des makellosen Gesichts von Charlotte Gray (Cate Blanchett), die vorbeirauschenden Felder im Hintergrund mit flirrenden Lichtreflexen auf ihrer hellen Haut. Dazu ihr Voice-over: „Looking back, it all seems so simple…“. Es handelt sich um eine Szene am Ende der Geschichte. Die Anfangsbilder können als Illustration von Charlottes Erinnern gelten. Zuerst ein Sog, der sie zurückversetzt in ihre Zeit in Frankreich, während dem Krieg. Dann der Strom aus Ereignissen und Zusammenhängen, die damals nicht klar erkennbar waren und auch im Nachhinein wie eine Kette wirrer Entwicklungen erscheinen.

Im Folgenden wird die Geschichte von Charlottes Zeit als Widerstandskämpferin im Frankreich des Zweiten Weltkriegs erzählt. Die Engländerin meldet sich freiwillig als Kurierin in Frankreich, da sie fließend Französisch spricht, den Drang verspürt, mutige Taten zu vollbringen, aber vor allem, weil sie sich in den britischen Piloten Peter Gregory (Rupert Penry-Jones) verliebt hat und ihm nach Frankreich folgen will. Ihr Wunsch verstärkt sich, als sie erfährt, dass Peter abgeschossen wurde und nun vermisst wird. Glücklicherweise liegt ihr erster Einsatzort in der Nähe seines Absturzgebiets, und so erkundigt sie sich sofort bei ihrer Kontaktperson nach dem Verbleib ihres Liebsten. Doch Charlotte muss hier nun die Ernsthaftigkeit des Krieges und die Gefahr des Widerstands erleben, als die Frau, mit der sie sich treffen sollte, vor ihren Augen von den Deutschen verhaftet wird. Der junge Résistancekämpfer Julien (Billy Crudup) kann Charlotte erst einmal Unterschlupf bei seinem Vater verschaffen. Dieser versteckt auch zwei kleine, jüdische Jungen vor den Nazis, deren Eltern schon deportiert sind. Charlotte beginnt sich liebevoll um die Kinder zu kümmern und hilft außerdem Julien und seinen Leuten bei Anschlägen auf Nazitransporte. Dabei wird es immer schwerer, Freund und Feind zu trennen und die Jungen vor den Deutschen zu schützen.

Leider ergeht es dem Zuschauer mit der Handlung so wie mit den Bildern am Anfang. Es baut sich erst am Ende etwas Spannung auf, vorher reiht sich Ereignis an Ereignis, ohne dass sie die Geschichte voranbrächten, und es finden sich auch einige logische Brüche darin. Exemplarisch sei erwähnt, dass sich ein Schullehrer, der Charlotte damit erpresst, das Versteck der Kinder zu verraten, wenn sie nicht mit ihm schläft, von seinem Vorhaben der Vergewaltigung dadurch abbringen lässt, dass sie ihm sagt, sie sei ungewaschen und er solle auf den nächsten Tag warten, wenn sie sauberer sei. Solche und ähnliche Episoden schaden sehr der Glaubwürdigkeit des Erzählten.

Auch die Figuren bleiben recht oberflächlich und eindimensional. So ist zwar Cate Blanchetts ungewöhnliches und einvernehmendes Gesicht sehr oft in Großaufnahme zu sehen, doch erwecken diese Bilder keine Emotionen beim Zuschauer. Ähnlich verhält es sich mit den sehr oft eingesetzten Aufnahmen von Personen, die durch Fenster hinausschauen. Vielleicht soll damit ausgesagt werden, dass die Charaktere in die Welt blicken, doch nicht wissen, wohin ihr Weg führt, und die Zusammenhänge schwer durchblicken können. Der Krieg wirft die Figuren in eine Geschichte, die sie als andere Menschen entlässt. Daher kann Charlotte auch am Ende nicht zu ihrem Geliebten des Anfangs zurückkehren, sondern muss eine neue Liebe suchen. Diese alles verändernde Macht der Geschehnisse wird zwar in den Dialogen teilweise ausgedrückt, die Bilder können aber keine Tiefe, keine Wahrhaftigkeit und keine richtige Stimmung erzeugen.

Nicht, dass die Filmbilder unstimmig oder schlecht komponiert wären. Das genaue Gegenteil ist der Fall. Ausnahmslos jede Einstellung ist umwerfend schön, die verregneten Landschaften, das halbverfallene Schloss von Juliens Vater, die Straßen der französischen Kleinstadt und immer wieder Cate Blanchett in perfekten Kostümen. Es ist wohl gerade diese Schönheit, die der ohnehin dünnen Geschichte schadet und sie endgültig in puren Kitsch verwandelt. Alles wirkt verwunschen und einheitlich, nichts offenbart die wirkliche Zerstörung, die der Krieg in das Land und in die Menschen brachte.
Am Ende bleibt beim Zuschauer die Erinnerung an einen Sog aus schönen Bildern, nicht mehr, höchstens die Wehmut nach der bewegenden Liebesgeschichte in Kriegszeiten, die vielleicht hätte erzählt werden können.

Elisabeth Maurer

Die DVD enthält ein Making Of, sowie Interviews mit den Schauspielern und der Regisseurin.

„Charlotte Gray“, GB, AUS, BRD 2001
Regie: Gillian Armstrong. Drehbuch: Jeremy Brock nach dem Roman von Sebastian Faulks. Kamera: Dion Beebea. Musik: Stephen Warbeck. Produzenten: Sarah Curtis, Douglas Rae.
Darsteller: Cate Blanchett, Billy Crudup, Michael Gambon, Rupert Penry-Jones
Vertrieb: Senator
Laufzeit: 116 min
DVD-Veröffentlichung: 5.2.2010

"Book of Eli" - Am Ende war das Wort



Naturaufnahmen eröffnen diesen Film. Doch die Natur ist anders als wir sie kennen. Asche fliegt anstelle von Blättern durch die Luft, Asche ersetzt das Laub auf dem Boden. Eine magere, felllose Katze sucht im Wald, in der Nähe von menschlichen Skeletten, nach Nahrung. Sogar eine Atemschutzmaske liegt halb vergraben am Boden. Ehe sich das Gesamtbild unter dem Wort Atomkrieg zusammenfügt, gleitet ein Pfeil ebenso ruhig durch den Wald wie der Schütze auf seine Beute lauerte. Die Katze wird zur Nahrung. Die Nahrung wird zum Prinzip, zum Zweck, denn allein Nahrung braucht der Mensch um zu überleben, sagt uns der neue Film der Hughes-Brüder bis zu diesem Punkt. Und das war nur die Anfangssequenz.

Ein Wanderer (Denzel Washington) nimmt uns mit auf seine Reise, 30 Jahre nach der Nuklearkatastrophe, auf seine missionarische Suche nach einem adäquaten Ort, nach einem Ort, wo das Buch, das er seit Jahren mit sich trägt, zur Geltung kommen kann. In einer Siedlung trifft er im Anführer, Carnegie, auf seinem Gegenpart (Gary Oldman). Dieser sucht nicht selber, sondern schickt seine Verbrecherbanden los, um Bücher zu suchen. Er sucht das Buch des Wanderers, eher hoffnungsvoll als überzeugt, dass es das Buch überhaupt noch gibt. Alle Exemplare wurden spätestens nach der Nuklearkatastrophe verbrannt. Beeindruckt von der Nahkampf-Versiertheit des Wanderers (die oft dem rasanten Schnitt zuzuschreiben ist), will ihn Carnegie samt Buch in seinen Diensten haben. Sein Vorhaben, das Buch eigennützig zur Manipulationswaffe gegen die Menschen zu benutzen, führt jedoch zum Konflikt; neben das Schauspielerduo/-duett/-duell treten als Weiteres brutale Verfolgungsjagden.

Fast episodisch, aber durch die ideellen Ebene hervorragend verbunden, entfalten sich vor dem Auge des Zuschauers wunderbar fotografierte, höchst stimmungsvoll aufgebaute Szenerien, die den Film atmosphärisch ergänzen, und dazu noch ein breites Publikumssegment unter den Videospielern an sich ziehen.

Aber zurück zur Katze, zur Nahrung. Sehr früh im Film wird es deutlich, dass sich manche Menschen (vielleicht korrekter „postapokalyptische Nachfahren der Menschen“), wenn auch nicht viele, nicht mit Nahrung zufrieden geben. Und genauso wie die Mehrheit in diesen Zeiten der Not bereit ist, für Wasser und Essen zu töten, sind diese wenigen bereit, für das kleine Extra namens Kulturerbe dasselbe zu tun.
Exemplarisch, und im Gegensatz zu seinen thematischen Verwandten, versetzt der Film diesbezüglich die Menschheit in die Zukunft und gleichzeitig in eine Variation der Anfangsphase ihrer Evolution. Die Suche nach Nahrung wird für viele dermaßen zum Ziel, dass Kannibalismus ein weit verbreitetes Phänomen ist. Gedanken an Erotik oder die Fähigkeit zu lesen, werden zum Privileg der wenigen Erleuchteten, der Älteren, die die Welt vor dem Atomkrieg noch mitbekommen haben, und sich noch an einige Details des Monsters, das irgendwann als Kultur galt, erinnern können. Der für die Filmwelt historische Umbruch am Ende des Films ist nicht umsonst auch der Wiedererfindung der Druckpresse zuzuschreiben.

Aber was ist aus der Kultur nach dem Atomkrieg geworden? Natürlich wurde das meiste vernichtet, das war zu erwarten. Aber das was überlebt hat wie Erinnerungen, Wissen und, im Film von zentraler Bedeutung, das Lesen, all das hat sich im Schatten des täglichen Ringens um das Überleben verkrochen und stirbt seit 30 Jahren einen langsamen Tod. Die Beziehung zum Urtext ist verloren, die Menschheit als solche droht auszusterben.

In diesem Kontext kommt Eli (dessen Name durch das Lesen (!) des Etiketts in seinem Rucksack erfahren wird), dem Wanderer, eine ganz besondere Bedeutung zu. Er ist einer der wenigen, die lesen können, vielmehr, er lässt nicht vom kulturellen Gut der Menschheit ab. Sein Buch ist seine ausnahmslose tägliche Lektüre und die Sorgfalt, mit der er mit dem Buch umgeht (niemand außer ihm darf es berühren) macht Eli zum Medium. Er verliert keine Gelegenheit, Auszüge aus dem Buch zu rezitieren und bekommt, durch die Faszination der Wörter aus dem Buch, die sich offensichtlich auch auf seinem Charakter ausgewirkt haben, eine sakrale Aura in den Augen der anderen. Da der ursprüngliche Text nicht mehr vorhanden ist, gewinnt Elis Exemplar des Buches eine eigenständige Bedeutung, zusätzlich zur Wichtigkeit des Inhalts. Das Medium als Träger und Bewahrer des Inhalts tritt hervor und wird zum Objekt der Begierde im Film. Verdeutlicht wird diese Idee durch eine Verdoppelung mit leicht anderer Nuancierung: zusätzlich zu seiner täglichen Lektüre hört Eli jeden Abend auf seinem etwas modifizierten iPod Musik. So wird die Musik auch zu einer Gefangenen in einem Medium und, zusätzlich, abhängig von der selbstgemachten Batterie, die immer wieder (für einen sehr hohen Preis) nachgeladen werden muss.

Die Kraft, der Zauber der richtigen Wörter, des Textes, erinnern an Sartres autobiographischen Kindheitsroman „Die Wörter“. Denn hier wird der Text auch zu einem Mittel der Entdeckung der Welt, hier strahlt er auch durch die rezitierende Person bis in die Hörer, hier wird der Leser zum Medium der Offenbarung des Buches, und hier steigt dieses Medium auch von einer wundersam wie blind oder schlafend aussehenden Person ab.

„The Book of Eli“ gehört durch seinen ausgeprägt diskursiven Inhalt einer Reihe von US-amerikanischen Filmen an, die seit der Jahreswende frische Luft ins deutsche Mainstream-Kino bringen. Die Themen-Trilogie von „Avatar“, „Gamer - Play or be Played“ und „Surrogates - Mein zweites Ich“, die zusammen ein dialektisches Universum zum Thema Digitalisierung und virtuelle Welten anbieten, dann „A Serious Man“, der in seinem Schöpfer endlich eine Ergänzung zu Kafka findet, und dazu „The Book of Eli“ bezeugen eine neue Dimension des Films, die sich dem breiten Publikum jetzt anbietet.

Ciprian David

"Book of Eli", USA 2010
Regie: Albert Hughes, Allen Hughes. Drehbuch: Gary Whitta. Kamera: Don Burgess. Musik: Atticus Ross, Leopold Ross, Claudia Sarne. Produktion: Broderick Johnson, Andrew A. Kosove, Joel Silver, David Valdes, Denzel Washington.
Darsteller: Denzel Washington, Gary Oldman, Mila Kunis.
Verleih: Tobis
Laufzeit: 118
Start: 18.2.2010

WOLFMAN

Aus unserem phantastischen Erbe


Besonders in den Genres Fantasy, Horror, Science Fiction und ihren Mischformen, werden vor allem in den letzten Jahren hauptsächlich Geschichten auf Basis von schon bekannten Stoffen und Figuren entworfen, seien die Vorlagen andere Filme, Romane oder alte Legenden. Dieses Jahr zum Beispiel sind griechische Götter („Percy Jackson“, „Kampf der Titanen“) und Charles Dickens „Dorian Gray“ auf der Leinwand zu sehen, 2011 wird Sam Worthington den jungen Dracula verkörpern.
Bemängelt wird daran, dass die Filmproduktionen zu große Furcht vor neuen Stoffen haben; Geschichten, die ursprünglich aus Comics, Büchern, Fernsehserien, anderen Filmen stammen, haben ob ihrer Bekanntheit und einer schon existierenden Fangemeinde größere Chancen, Zuschauer in die Kinos zu locken. Außerdem bieten die genannten Genres genug Möglichkeiten, die immer spektakuläreren Spezialeffekte auszuschöpfen, die sich eigentlich nur auf großer Leinwand genießen lassen. So sind die Filmemacher ständig auf der Suche nach verwertbaren und eben auch wiederverwertbaren Geschichten. Natürlich gab es schon immer Wiedererzählungen und Fortsetzungen des gleichen Stoffes (es sei an die scheinbar unendlich vielen Dracula- oder Frankenstein-Verfilmungen der 40er und 50er erinnert), doch nie wirkte die Filmwirtschaft derart beängstigt in Anbetracht der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Umwälzungen und verlagerte daher die Produktion so sehr in Neuauflagen.

Die Frage ist, ob die finanziellen Überlegungen die einzigen Gründe dafür sind, dass wir uns fast ausschließlich bei den Geschichten vergangener Zeiten bedienen. Vielleicht ist ein Punkt erreicht, wo zu vieles eben schon einmal erzählt wurde. Oder es herrscht eine allgemeine Nostalgie vor, die immer nur schon einmal Gesehenes wiederbeleben will.



Bei „Wolfman“ nun handelt es sich um eine Neuverfilmung von „The Wolf Man“ von George Waggner aus dem Jahr 1941, klassischer Horrorfilm mit Überschneidungen zum Fantasygenre, da die Verwandlung eines Mannes in ein Monster behandelt wird. Der Einfluß dieses wegweisenden Werwolffilms zeigt sich zum Beispiel daran, dass ein für den Film erdachtes Zigeunersprichwort in jedem seither entstandenen Universal-Werwolffilm wiederaufgegriffen wurde, bis hin zu „Van Helsing“, nun eröffnen die Worte „Wolfman“. Zwar gab es also bisher keine direkte Neuverfilmung desselben Stoffes, doch wurde die Idee in einer Vielzahl weiterer Filme verarbeitet. Hier nun wird das Grundszenario von dem ursprünglichen Drehbuch von Curt Siodmak übernommen. Wie dort Horrorstar Lon Chaney Jr. (er ist der einzige, der alle vier klassischen Horrormonster in Filmen spielte: Werwolf, Vampir, Frankenstein und untote Mumie) kehrt Benicio del Toro („Che“, „Traffic“) als Lawrence Talbot nach Jahren der Abwesenheit zurück auf das Anwesen seiner Familie im Norden Englands, Anlaß ist der Tod seines älteren Bruders. Dieser wurde brutal in Stücke gerissen, von einem Werwolf, wie sich später herausstellt. Die Drehbuchautoren Andrew Kevin Walker und David Self variieren das Originaldrehbuch aber an mehreren Stellen. Es scheint interessant zu untersuchen, wie die Geschichte 70 Jahre nach ihrer ersten Verfilmung nun neu erzählt wird.

Die entscheidende Veränderung betrifft Lawrence Vater. Im alten Film ist Sir John ein rationaler, wissenschaftsinteressierter Mann, der sich am Ende der phantastischen Verwandlung seines Sohnes stellen und sogar als einzige Rettung der wirklichen Person von Lawrence zum Richter seines Kindes werden muss, bevor dieser anderen ein Leid zufügen kann. Der Vater muss die Weltordnung wiederherstellen und den durch ein Unglück auf Abwege geratenen Sohn wieder zu einem rechtschaffenen Mann machen, leider nur indem er ihn tötet. Die Neuverfilmung zeigt ein schwieriges Vater-Sohn-Verhältnis. Sir John (Anthony Hopkins) ist von Anfang an ein zwielichtiger Charakter. Der begeisterte Großwildjäger, der schon viel in der Welt herumgekommen ist, ist nach außen hin froh über das Wiedersehen mit seinem Sohn. Doch langsam erfährt der Zuschauer, dass ihre Beziehung schon lange belastet ist. Lawrence hat seit dem angeblichen Selbstmord seiner Mutter als er ein kleiner Junge war, eine unbestimmte Furcht vor seinem Vater, der ihn als Jugendlicher zudem in eine Irrenanstalt steckte, wo er mißhandelt wurde.



***Vorsicht, Spoiler!***

Später wird klar, was der Zuschauer natürlich vermutet: Sir John selbst ist der Werwolf, er tötete Lawrence Mutter und den älteren Sohn. Nun will er, dass Lawrence seine Nachfolge antritt und infiziert ihn daher mit einem Biß. Da sich aber Lawrence gegen das in ihm keimende Böse wehrt, kommt es zum Endkampf zwischen Vater und Sohn, in dem Lawrence seinen Vater tötet. Und hier ist es dann seine Geliebte Gwen (Emily Blunt), die ihn durch einen tödlichen Schuß von seinem Fluch befreien muss. Der Vater ist also Ursprung allen Unglücks und verwandelt sein eigenes Kind in ein Monster. Aber der Sohn gerät nicht nach dem Vater, gibt sich nicht völlig dem Rausch des Tötens hin und rettet so das Gute. Einerseits wird der Plot durch diese Änderung etwas komplizierter, was ein Publikum der Gegenwart eher zu fesseln vermag, die Verwandlung eines Mannes in ein Monster ist allein nicht mehr spannend. Auf der anderen Seite ist der Triumph der jungen Liebe, des jungen, gefühlvollerem, nachdenklicherem Mann über den starrsinnigen Alten offensichtlich eher zeitgemäß als der Sieg des weisen Älteren, des richtenden Vaters.

***Ende Spoiler!***

Eine weitere Veränderung betrifft die Zeit, in der die Geschichte angelegt ist. Der alte Film spielt ungefähr zu der Zeit, in der er entstand. Regisseur Joe Johnston („Jumanji“, „Hidalgo“) verlegt die Geschichte ins Jahr 1891. Es ist auffällig, dass das 19. Jahrhundert generell im Film im Vergleich zu anderen vergangenen Epochen recht stark vertreten zu sein scheint, vor allem im Fantasygenre. Dies liegt natürlich einerseits daran, dass viele der Stoffe in jener Zeit entstanden sind. Dafür wiederum liegen die Gründe auch an den Umwälzungen dieses Jahrhunderts. Die industrielle Entwicklung veränderte die Städte und die Lebensweise der Menschen entscheidend, neue Erfindungen ermöglichten bessere Kommunikation, schnelleres Reisen, effizientere Kriegsführung und so weiter. Doch trotzdem handelt es sich noch nicht um eine vollkommen rationale, moderne, freie Gesellschaft. Es gibt noch genug Raum für Unnatürliches und Phantastisches. Auch der neuen Technik, wie der Elektrizität, haftet noch ein Hauch von Magischem an. Das 19. Jahrhundert zeigt also die Gesellschaft am Vorabend der Moderne, doch noch nicht völlig befreit von dem Aberglauben früherer Zeiten. Das Erzählen der Geschichte in dieser Zeit ermöglicht eine dementsprechende Situierung der Charaktere.

Sir John ist eine Figur der alten Zeit, immer in Tierfelle gehüllt, keine andere Gerichtsbarkeit über seinen Rechten als Adeliger anerkennend, Tyrann aus einer alten Dynastie. Der Sohn aber macht schon durch seine Berufswahl klar, dass er sich von diesem Leben abwendet, denn er lebt von der Schauspielerei, nicht gerade der klassische Beruf für einen jungen Edelmann. Er erlaubt sich nicht, sich einfach über andere hinwegzusetzen, erkennt die Ordnung in der Gesellschaft an, respektiert die Rechte und die Freiheit der anderen. Somit ist Lawrence ein moderner Mann, der durch seinen Vater in die Rolle versetzt wird, die er nie wollte. Als Werwolf hat er kein Gewissen, verhält sich wie sein Vater, wird zurückgezogen in ein Verhalten aus düsteren, früheren Zeiten, die nicht vereinbar sind mit seiner Einstellung zur Welt. Doch die moderne Denkweise triumphiert über dem Bösen aus der Vergangenheit.

Wie erwähnt ist Lawrence im Gegensatz zu dem Film von 1941 Schauspieler. Das weist ihn aus als einen Charakter, der in der Welt herumgekommen ist, er kennt das alte Europa, aber auch das moderne Amerika. Außerdem ist es sein Beruf, in verschiedene Rollen, Zeiten, Denkweisen zu schlüpfen. Somit kann Lawrence auch als postmoderner Charakter gesehen werden, der eben aus der ganzen Menschheitsgeschichte schöpfen kann. Dies unterstreicht die Vorgehensweise der Filmemacher, die alte Legenden, klassische Filme, neue Techniken zu einem neuen Ganzen vermischen. Verbildlicht wird dies durch die Einrichtung von Sir Johns Schloß. Dieses bietet eine Anhäufung verschiedenster Gegenstände, Kunstwerke aus allen Erdteilen, aus allen Epochen. Das Motiv wird noch einmal aufgegriffen, als Gwen Antiquitätenladen in London zu sehen ist, ebenfalls eine Sammlung aus allen Zeiten.



So orientiert sich Joe Johnston bei der visuellen Gestaltung stark an dem Design der klassischen Horror- und Monsterfilme. Er übersetzt die Stimmung durch die Computertechnik in moderne Bilder. Dies gelingt ihm ausgesprochen gut, zwar werden die Bilder dadurch nicht außergewöhnlich, doch wird durch die wolkenverhangenen Himmel, die umrankten alten Häuser, die moosbedeckten Steine und die überall wallenden Nebelschwaden eine perfekte Atmosphäre für das Horrorszenario und die Vorstellung des 19. Jahrhunderts geschaffen.

Um also zum Ausgangspunkt zurückzukommen, so läßt sich sagen, dass mit „Wolfman“ eine gelungene Übersetzung des klassischen Werwolffilm in die heutige Zeit stattgefunden hat. Die Computereffekte ermöglichen die Perfektion der schon in den alten Filmen angelegten Stimmung. Auch die Modernisierung des Originaldrehbuchs macht die alte Geschichte für das junge Publikum interessant. So bleibt also „Wolfman“, wie es auch seine Vorlage aus dem 1941 anstrebte, ein Unterhaltungsfilm, doch den Vergleich mit anderen jüngeren Wiederbelebungen alter Geschichten muss er nicht scheuen, besonders das komplett stimmige Design machen ihn sehenswert. Zu klären bleibt natürlich die Frage, weshalb überhaupt eine derart inflationäre Neuauflage der alten Geschichten stattfindet. Vielleicht hat es damit zu tun, dass wir uns in einer ähnlichen Situation befinden wie die Menschen im 19. Jahrhundert. Diese mussten aufgrund der wissenschaftlichen Entdeckungen und der gesellschaftlichen Neuerungen ihr Weltbild neu ordnen. Angesichts der Umwälzungen erfreuten sich phantastische Geschichten großer Beliebtheit, denn sie spiegelten die Unsicherheit der Menschen in der neuen Welt. Viel wird darüber geredet und geschrieben, dass wir uns ebenfalls großen Herausforderungen gegenübersehen.

Das tägliche Leben, das Wirtschaftsgefüge, die Arbeitsbedingungen sind stark beeinflußt von der weltweiten Vernetzung, der Globalisierung, des Internets. Wir haben auf alles Zugriff, aber damit das Problem der Wahl. Jeder kann mit jedem kommunizieren, dadurch wird aber vielleicht der einzelne unwichtiger. Vielleicht ist für die Menschen alles zu zergliedert, zu unsicher, zu viel, sodass sie sich gerne alten Geschichten zuwenden. Geschichten, wo das Szenario klar ist, die Regeln des Geschehens definiert sind, eine Alltagsflucht in eine womöglich komplexe, aber dennoch abgeschlossene Welt ermöglicht wird. Um dieses Bedürfnis zu befriedigen, bieten sich natürlich die großen phantastischen Geschichten der Menschheit an, eben auch die vom Werwolf.

Elisabeth Maurer


Regie: Joe Johnston
Drehbuch: Andrew Kevin Walker, David Self nach dem Originaldrehbuch von Curt Siodmak
Kamera: Shelly Johnson
Musik: Danny Elfman
Produzenten: Sean Daniel, Benicio del Toro, Scott Stuber, Rick Yorn
Darsteller: Benicio del Toro, Anthony Hopkins, Emily Blunt
Verleih: Universal
Laufzeit: 102 min
Start: 11.2.2010

INVICTUS - UNBEZWUNGEN



Das Wunder von Johannesburg

„Aus dem Hintergrund müsste Stransky schießen. Stransky schießt. Drop goal!“ Vielen deutschen Zuschauern wird unweigerlich Fußball in den Sinn kommen. Sei es das Wunder von Bern 1954, der Titelgewinn eines gesamtdeutschen Teams 1990 oder jüngst die WM 2006. Südafrikas Ausrichtung der Rugby-Union-Weltmeisterschaft 1995 und Teilnahme an selbiger hat ein bisschen was von allen drei Ereignissen: die eigentliche Geburtsstunde eines Apartheid-freien Südafrikas, die erste Turnierbeteiligung einer theoretisch vereinten Nation, ein Großereignis im eigenen Land. Die einende Kraft von Sport; hiervon erzählt „Invictus“.

Die ersten Momente gehören südafrikanischen Jugendlichen. Auf der einen Seite der Straße spielen die Weißen in ihren elitär anmutenden Jerseys Rugby, auf der anderen Seite kicken die Schwarzen einen zerfledderten Fußball durch die Gegend. Eine Wagenkolonne fährt vorbei. Während die einen in Jubel ausbrechen, erstarren die anderen angstvoll. Der Rugby-Trainer warnt die Jungen und prophezeit, dass ihr Land vor die Hunde gehen wird. Gefahr von Subtilität besteht hier, wie auch fortan, nicht. Es ist Nelson Mandela, der hier am Tag seiner Freilassung vorbeifährt. Im nächsten Moment erlebt dieser seine Amtseinführung, erklärt das Ende der Apartheid, und flott befindet sich der Zuschauer im ersten Amtsjahr des ersten schwarzen Präsidenten Südafrikas.




Mandela (Morgan Freeman) versucht die Abschaffung der Apartheid zu verwirklichen und den Traum von der Rainbow Nation wahr werden zu lassen. Schwarz und Weiß sollen einander vergeben, anerkennen, friedlich zusammenleben und Südafrika in eine bessere Zukunft führen. Als Katalysator hierfür soll die anstehende Rugby-WM dienen. Durch den Erfolg des südafrikanischen Teams, genannt „Springboks“, erhofft sich Mandela eine Annäherung beider Lager. Nur sind die Springböcke weder Weltklasse, noch werden sie von der gesamten Bevölkerung unterstützt; als Symbol der Apartheid dürfen sie keine Anfeuerungsrufe der schwarzen Südafrikaner erwarten. Trotzdem ist Mandela vom sportlichen und politischen Erfolg überzeugt. Er lädt Francios Pienaar (Matt Damon), den Kapitän der Mannschaft, zu einer Art Missionsbriefing auf eine Tasse Tee ein. Dezent macht das Staatsoberhaupt klar, welchen Stellenwert das Abschneiden der Springboks hat.

Dem Zuschauer ist es längst klar. Gebetsmühlenartig wird die Magie des Ganzen heraufbeschworen, man kann es nicht missverstehen. Stattdessen herrscht andernorts Verwunderung: Hat Mandela, nach 27 Jahren Gefängnis, noch längerem Kampf gegen die Rassentrennung, und jetzt, mit der Chance und der Verantwortung als Präsident, nicht wichtigere Aufgaben als Teamchef im Geiste? Der Film selbst fragt das durch Nebenrollen zwar auch, antwortet aber sinngemäß „nö“. Mandela verlässt politische Treffen, um das Endergebnis des letzten Spiels zu erfahren, und nennt die Fokusierung darauf eine menschliche Überlegung. All dies kreiert eine sympathische Figur mit hehren Zielen, aber man fragt sich, ob das der historischen Figur gerecht wird.



Die politischen und gesellschaftlichen Umwälzungen in Südafrika – es bleibt nur eine Ahnung davon. Dabei setzt der Film interessante Kontrastpositionen in Szene. Ein Beispiel: der gemischt-rassige Bodyguard-Trupp Mandelas. Den neuen schwarzen Beschützer stellt der Präsident weiße Profis zur Seite. Unmittelbar herrscht eine brodelnde Stimmung im Leibwächterbüro. Im Verlauf des Films bleiben die Mitglieder dieser Gruppe aber blutleere Stellvertreter des großen Konflikts – und spielen irgendwann gemeinsam Rugby; Frank Capra wäre stolz. Eastwood nutzt den Konflikt der Partei nicht aus, sondern generiert eine stete Atmosphäre der Anschlagsgefahr um sie und Mandela, löst diese ergebnislos in einer kleinen Geschichtsumschreibung.

Im selbstgewählten Plotkorsett versteifen sich Regisseur Clint Eastwood und Drehbuchautor Anthony Peckham auf den sportpolitischen Aspekt von Mandelas Amtszeit und formen einen Vorschlaghammer der Gutmenschlichkeit. Über das Sportereignis sollen Mandela charakterisiert und die Apartheidsabschaffung erläutert werden. Zufriedenstellend gelingt letztlich weder das eine, noch das andere, noch ein mitreißender Sportfilm.

Eastwood sei durch die Arbeit an „Invictus“ zum Rugby-Fan geworden. Tatsächlich inszeniert er die Spiele optisch ansprechend und transportiert die Wucht der Aktionen. Herrlich erfrischend ist zudem der Verzicht auf einen Kommentator, der jeden Wurf und jedes Tackle in Worte fasst. Trotzdem lässt Dirty Harry einen Sinn für das Spielgeschehen und den Rhythmus einer Partie vermissen. Mitreißend gerät der Sport selten, der Funke will nicht überspringen. Akribische Sporthistoriker werden außerdem den ein oder anderen Fehler entdecken, von der heiß diskutierten Lebensmittelvergiftung der Neuseeländer ganz zu schweigen.



Für Morgan Freeman wurde bereits eine treffende Wendung gefunden: „Die Rolle seines Lebens, nicht der Film seines Lebens“. Der anerkannte Mime hat sich Mimik, Gestik und Duktus Mandelas präzise angeeignet. Nuanciert bleibt er sowohl fernab seiner Manierismen des weisen alten Lehrers, als auch abseits einer Imitation und spielt beeindruckend auf. Mandela selbst soll gesagt haben, dass nur sein Freund Freeman ihn darstellen könne. Man mag ihm angesichts dieses Films zustimmen.

„Invictus“ basiert auf John Carlins Buch Playing The Enemy: Nelson Mandela And The Game That Changed a Nation. Für den Filmtitel bediente sich Regisseur Clint Eastwood aber bei einem Gedicht von William Ernest Henley. Der an Tuberculose leidende Schriftsteller schrieb die kämpferischen, leidenschaftlichen Zeilen im Krankenbett. Er endet mit den Worten „I am the master of my fate, I am the captain of my soul“, die auch im Film rezitiert werden. Welch passendes Zitat für einen Film über Mandelas Kampf gegen die Rassentrennung, über seine unvorstellbar lange Haft, seine Freilassung und seine anschließende Güte und Weitsicht. So ein Film ist „Invictus“ nicht.

Maximilian Miguletz


USA 2009, Regie: Clint Eastwood; Buch: Anthony Peckham (Vorlage: John Carlin); Kamera: Tom Stern; Musik: Kyle Eastwood, Michael Stevens; Produktion: Clint Eastwood, Robert Lorenz, Lori McCreary, Mace Neufeld.

Darsteller: Morgan Freeman (Nelson Mandela), Matt Damon (Francois Pienaar), Tony Kgoroge (Jason Tshabalala), Patrick Mofokeng (Linga Moonsamy), Matt Stern (Hendrick Booyens), Julian Lewis Jones (Etienne Feyder), Adjoa Andoh (Brenda Mazibuko), Marguerite Wheatley (Nerine), Leleti Khumalo (Mary), Patrick Lyster (Mr. Pienaar), Penny Downie (Mrs. Pienaar).

Verleih: Warner
Laufzeit: 133 Minuten
Kinostart Dtl.: 18.02.2010

IMDb

DIE UNBEDINGTEN

Zeitlose Vergangenheit

(von unserer Partnerseite Terrorismus & Film

Nicht direkt ein Film zum Thema Terrorismus, aber in diesem Kontext überaus spannend ist der mittellange Film DIE UNBEDINGTEN, der auf dem 31. Festival Max Ophüls Preis vorgestellt wurde.

In fünfzig Minuten erzählt Andreas Jaschkes Abschlussfilm der HFF mit einigem Ausstattungsaufwand die Geschichte zweier Burschenschaftler, im als Mitglieder des Geheimbundes „Die Unbedingten“ für ein nationaldeutsches Bewusstsein eintreten. Denn es ist das Jahr 1819, das Land zersplittert, die Napoleonischen Kriege vorbei und der Restauration entgegen weht das Lüftchen liberaler Bürgerfreiheit. Das mögen die diversen Obrigkeiten natürlich nicht, die um ihre Macht fürchten – weder in Jena, wo Jakob (Benjamin Kramme) und Karl (Christian Nähte) studieren und wegen ihrer Ansichten und deren Verbreitung Verfolgung fürchten müssen, noch im Großherzogtum Baden, wo in Mannheim der Erfolgsdichter August von Kotzebue gegen die Studenten und ihr Gedankengut polemisiert.



Während Karl darauf brennt, ein Exempel zu statuieren, hat Jakob andere Sorgen: Sein Vater, ein Brauereibesitzer, ist mit der mittellosen Braut seines Sohnes nicht einverstanden. Weil Freiheits- auch Gesellschaftskampf ist, schließt sich Jakob Karl an. Dem Kotzebue soll’s an den Kragen. Geheimpolizist Geyer (Oliver Broumis) kommt jedoch zu spät – die Burschen sind ausgeflogen. Unterwegs Richtung Mannheim kann sie Luise (Anne Karris), der der Anführer der „Unbedingten“ den Attentatsplan verraten hat (sie könne ja doch nichts mehr tun, so langsam oder aber große ist die Welt damals), mittels Post-, Pardon!, Thurn-und-Taxis-Kutsche noch einholen. Ihren Jakob verführt sie, schließt ihn ein und erklärt Karl, ihr Geliebter habe es sich anders überlegt. Also geht Karl allein los. Ihn in seinem Plan aufhalten schaffen die beiden schließlich doch nicht mehr. Geyer, der zur rechten Zeit am Ort ist, will dies wiederum nicht. Denn der Rest ist Geschichte: Am 23. März 1819 wird August von Kotzebue von dem Studenten Karl Ludwig Sand als „Verräter des Vaterlandes“ erstochen – mit ein Anlass für die Karlsbader Beschlüsse, mit denen Pressezensur und Verfolgung von nationalistischen „Demagogen“ im Deutschen Bund für viele Jahre die Freiheit unterdrücken.

Gedreht u.a. in Bamberg ist Jaschkes kleiner feiner Film bisweilen etwas vollgestopft mit Komparsen in zeitgenössischen Kostümen, die lesen, apfelkauen oder sonstwie den Historienfilm als solchen ausstellen. Aber das ist im Grunde nur Wuchern mit den reichen Pfründen, denn Jaschke „zaubert“ nicht nur Orte und Bauten des Vormärz‘ hervor, wie es für einen Abschlussfilm fast unerhört ist, sondern bietet ein starkes und spannendes Thema, das gelungen erzählt und besetzt, nicht nur etwas für den Geschichtsunterricht ist , sondern gerade heute aktuell ist – oder sein sollte.

Da ist die Figur des Emporkömmlings Geyer, der nach oben buckelt und nach unten tritt. Er ist ein Geheimpolizist, der nicht von höherem Stand ist und nur von Nutzen, solange es die Staatsgefahr von Seiten der Studenten gibt. Weil er das weiß, lässt er Karl gewähren; mit gezückter Pistole wartet er ab, bis die Bluttat vollbracht ist, um als Held nun den Mörder Kotzebues Dingfest zu machen. Geyer ist eine fiktive Figur. „Ihrer“ Grundidee ist aber hintersinnig – Jaschke erklärte, allzu offen sei damals tatsächlich die Absicht, Kotzebue zu ermorden, bekannt gewesen. Und mit einem Schritt ist man schon beim 11. September 2001, genauer: seinen Verschwörungstheorien. Dass die Geheimdienst bestens Bescheid gewusst hätten, dass man nur einen Grund gebraucht hätte… usw. Fast gleichnishaft wirkt der kauernde Geyer mit seinem Blick auf Täter und Opfer, die Personifizierung, zum einen, der Staatsmacht, die die Schufte wohlwissentlich gewähren lässt, um sich selbst provoziert zu geben, um Rechtfertigung zu erhalten, ob für weitreichende Maßnahmen, für Karlsbader Beschlüsse oder Invasion am Golf.



Zum anderen ist Geyer der kleine Handlanger, der nicht wertgeschätzt wird, und der Macht erhält, dessen Ego gestreichelt wird, der es ihnen allen zeigen kann: wenn er einmal versagt, nur zuschaut. Das ist Tragik und Groteske des Geheimdienstgewerbes schlechthin, dass jeder vereitelte Terroranschlag und jede erfolgreiche Spionageabwehr unsichtbar und ungeschätzt bleibt. Die Motiv der Verführbarseins, des einmal (Nicht-) Hinschauens, ist dieser Logik immer eingeschrieben und die Paranoia, die diese provoziert ist eine geschichtlich universelle.

Eine weitere, spannende Verknüpfung bietet DIE UNBEDINGTEN über sich selbst hinaus. Attentäter Karl Sand wird dargestellt von Christian Näthe, der in DER BAADER MEINHOF KOMPLEX mitspielte, gerade und vor allem in der Szene, über deren Güte sich, was den Film betrifft, auch die meisten Kritiker einig sind. Mit bleichem Gesicht und kleinen Augen, kräftig und verletzlich zugleich nimmt er an der Seite von Jan-Josef Liefers er an der Schah-Demonstration in West-Berlin teil, erlebt die Prügel des „Jubelperser“ mit und das brutale Vorgehen der Polizei, als diese die Studenten auseinandertreibt und verfolgt, zu Pferde, mit Wasserwerfen. 1967 ist das; am Ende ist Benno Ohnesorg tot, die Konfrontation mit dem Staat hat sich, nicht nur symbolisch, zugespitzt. Ein Momentum der Radikalisierung; die terroristische Bewegung 2. Juni wird sich nach dem Datum benennen, Bomben zünden, Peter Lorenz entführen, den Staat erpressen, Menschen töten.



Ob bewusst oder nicht: Die zeitliche Verbindung d zwischen DIE UNBEDINGTE und der BAADER MEINHOF KOMPLEX durch Nähte, der hier wie da einen deutschen Studenten spielt, einer gegen die Obrigkeit, das ist ein spannender künstlerischer Kurzschluss der Geschichte, der, wie der Film DIE UNBEDINGTEN überhaupt etwas ins Gedächtnis ruft, was schnell vergessen wird, falls überhaupt erinnert: dass die Staaten, die durch Terroristen und Verschwörer heute herausgefordert werden, selbst oftmals erst durch verfolgte Konspiration, durch Blut und Gesinnung entstanden sind. Mann muss gedanklich nicht in die USA reisen, die als abtrünnige Rebellen gegen die Briten kämpften, nicht mal nach Algerien oder nach Israel. Des einen sein Freiheitskämpfer ist allein schon deswegen nicht des anderen Terroristen, weil der erfolgreiche Terrorist – zumindest aus demselben Blickwinkel – erst im Nachhinein zum künftigen Freiheitskämpfer wird. Oder (zumindest als solcher) vergessen wird. Wer war denn Karl Sand und Kotzebue, und waren die Studenten damals, als Burschenschaften nicht eher rechts, im Gegensatz zu den Linken, die gegen die Nazis waren; wie kommt’s das beide Opposition waren, sein konnten?

Das hat nichts mit fehlendem Geschichtswissen zu tun, sondern vielmehr mit den Volten der Geschichte selbst, die Dinge bisweilen umzudrehen und auf den Kopf zu stellen pflegt, ohne sich darum zu scheren, was wir im wahrsten Sinne daraus machen.

Vielleicht das eindringlichste Bild in DIE UNBEDINGTEN zeigt den Geheimbund beim Treffen. Des Nachts haben sich die eifrigen Studenten und in ihrer Anführer im heiligen Ernst versammelt; heimlich, vorsichtig müssen sie sein, es droht der Kerker und schreckt sie doch nicht, diese Umstürzler und Aufrührer, die auch bereit sind, den Dolch gegen Menschen zu richten, im flackernden Kerzenschein – vor einer schwarz-rot-goldene Fahne.

Die Website von DIE UNBEDINGTEN finden Sie HIER

Der Film wird am Mittwoch, 28.04.2010 um 23:40 Uhr im Bayerischen Rundfunk ausgestrahlt.


Bernd Zywietz