Kino: „Ein Prophet“ – Das Innen und das Außen

„Ein Prophet“ / „Un prophète“
Frankreich 2009, Regie: Jacques Audiard


Schon am Anfang, im Vorspann, wird Orientierung in „Ein Prophet“ zum Schlüsselwort. Der Bildschirm bleibt zunächst schwarz, doch Geräusche sind aus dem Off zu hören. Über die Anfangs-Credits werfen unsichtbare Gestalten ihre Schatten, verstecken sie teilweise und beziehen damit den Zuschauer in diese Suche nach Orientierung mit ein. Dann folgen die ersten Bilder: Eine schnelle Folge von Nahaufnahmen, die den Hauptcharakter gleichzeitig vorstellen und verstecken, zeichnen die engen Grenzen von dessen zukünftigen Lebensraums.

Er wird gerade ins Gefängnis geführt. Durch die Gitter des Polizeiwagens sucht sein Blick die Außenwelt, doch diese streift zu schnell an dem Wagen vorbei, sein Horizont hört bei diesen Gittern auf. Viel erfährt man nicht über Malik El Djebena (Tahar Rahim), außer dass er 19 Jahre alt ist, dass er zwei Polizisten mit einem Messer angegriffen haben soll. Verwandte hat er nicht, Bekannte ebensowenig, sein einziges Gut sind 50 Franc, und er scheitert noch daran, diese ins Gefängnis zu schmuggeln. Denn Malik ist im Hinblick auf die Verhältnisse im Gefängnis noch nicht geboren.

Seine Taufe ergibt sich aus den Konfliktinteressen zwischen den Gruppen von Insassen, die das Gefängnis dominieren. Somit wird der Film zu einer Sozialstudie, die Korsen auf der einen Seite, unter der Führung von César Luciani (wunderbar von Niels Arestrup verkörpert), auf der anderen die Moslems. Nachdem Malik von zwei Moslems seiner Schuhe beraubt wird, gehen die Korsen auf ihn zu und stellen ihn vor eine Wahl. Entweder tötet er einen anderen Insassen und kommt im Gegenzug in den Genuss ihres Schutzes, oder sein Leben wird durch sie ein schnelles Ende finden. Er wählt das Leben und dieser Mord soll seine Wiedergeburt, seine Taufe sein.

Malik El Djebena ist kein Mörder. Seine Versuche, sich vor der Tat zu drücken, scheitern alle, und die Welt um ihn herum fängt an, sich ihm zu öffnen: Die Macht der Insassen reicht bis zu den Gefängniswärtern. Er muss sich also auf die Mordtat vorbereiten, sie verarbeiten. Und diese Vorbereitung inszeniert Regisseur Jacques Audiard sehr konsequent, indem er das Innere des Protagonisten durch die Darstellung des Äußeren ausdrückt. Verkörpert durch die Rasierklinge, die als Mordwaffe dienen soll, lässt das Gewissen des werdenden Mörders zuerst ihn selber den Schmerz dieser Verwandlung spüren: Malik muss diese Klinge in seinem Mund verstecken, und dies zu beherrschen braucht Übung. Doch es gelingt ihm. Für wenige, sehr intensive Augenblicke erlebt er im Sterben des anderen Insassen, eines Bruders im Glauben, seine Wiedergeburt.

Von diesem Moment an interessiert sich der Film mehr für Malik selbst. Man erfährt, dass er nicht lesen kann, doch er wird es lernen. Zusätzlich lernt er Italienisch, um seine Beschützer zu verstehen. Die Räume und Flure des Gefängnisses werden zum Kindheitsort des neuen Malik El Djebena, dem Araber unter den Korsen, wie ihn die anderen Araber sehen, und gleichzeitig dem Korsen unter den Arabern, wie ihn die Korsen langsam annehmen werden. Doch bis dahin bleibt dieser Blick von außen definitorisch für seine Identität, dieser Blick, mit dem sein Leiden sich von ihm losgelöst hat und zu einer Rasierklinge geworden ist. Die Rasierklinge ist aber zurückgetreten, an ihrer Stelle steht der prägende Moment seiner Wiedergeburt. Sein neuer Begleiter ist der Geist seines Opfers. Dieser Geist ist gleichzeitig Doppelgänger und Mentor, erklärtihm die Welt und beschützt ihn, dieser Geist ist sein prophetisches Bewusstsein. Und wie der Titel ankündigt, ist dieses Bewusstsein der Schlüssel des Films.

Doch was ist das Prophetische? Es ist das Führen eines Opfers aus dem Leben hinaus, den sakralen Moment des Opfers miterlebend, und sich dadurch von diesem Sakralen anstecken lassen, es ist aber gleichzeitig das bloße Überleben. Und Überleben heißt, die Welt um sich herum zu durchblicken, in ihrer Struktur, vor allem aber in ihrer Entwicklung, denn das ist es, was Malik von nun an macht.

Ganz unten anfangend, als Lakai für César, erweitert er nicht nur seine Sprachkenntnisse, sondern auch seinen Blick in die Machtstrukturen des Gefängnisses, in die Interessenkonflikte zwischen den Gruppen, in die Reichweite des Netzes, das César zum thronenden Patriarchen über diese Masse an Brutalität, Macht und Geld macht. Nach und nach wird er zu Augen und Ohren des alten César, seine Interessen liegen zunächst innerhalb des Gefängnisses, dann, aufgrund seiner abgesessenen Zeit und guter Führung, auch außerhalb, während des ihm durch die Hilfe von César gegönnten Freigangs.

Draußen lernt Malik, dass dort dieselbe Ordnung herrscht wie im Gefängnis, die Machtmenschen dieselben sind, dass die Gitter bloß zu einer Metapher einer zuerst so präsenten Welt werden können. Als Araber unter den Korsen ist er der ideale Mittelsmann, und sein Bewusstsein lässt ihn dies zu seinem eigenen Vorteil nutzen. Er fängt an, immer mehr auf eigenem Fuß nebenbei zu handeln, mit allen Parteien vernetzt, und gewinnt nach und nach die Makroperspektive auf diese Gesellschaft der Macht und des Geldes, die Perspektive, die den einzelnen Gruppen immer versteckt blieb.
Malik geht sogar über diese Welt der rauen Gewalt hinaus, lebt sich in einer Familie ein, in der Familie eines ehemaligen Mitinsassen, der bald sterben und ihm, wie einst sein Opfer am Anfang des Films, eine neue Perspektive eröffnen wird. Immer mehr definieren ihn seine Taten anstatt der Blick von außen, immer mehr tritt sein Doppelgänger in den Hintergrund bis hin zum Verschwinden, immer mehr nähert sich der Moment, wo er den alten Patriarchen konfrontieren muss, um seine Stelle einzunehmen, um das fragmentierte Alte zu ersetzen und es zum einheitlichen Neuen zu verwandeln. Und erst wenn dieser alte César, der zu sehr an seine Macht geglaubt hat und nicht mehr dahinter zu schauen vermochte, im Gefängnishof am Boden liegt, sein Statussymbol völlig ablegend, erst dann ist Malik frei, ein Mensch mit vollen Rechten, erst dann öffnet sich für ihn das Gefängnistor zum letzten Mal, ihn in das Absolute der Freiheit hinaus lassend.

„Ein Prophet“ ist ein Epos von großer Intensität und Stärke, ein Film, der durch seine Struktur und Geschichte, aber auch Regie und Kameraführung imponiert, ein Film aber, der gleichzeitig mit großer Aktualität und analytischem Gespür einen tiefgehenden Einblick in die sozialen Verhältnisse in französischen Gefängnissen wagt, und dadurch die große Frage der Globalisierung aus einer neuen Perspektive durchleuchtet.


Ciprian David



„Ein Prophet“ / „Un prophète“

Regie: Jacques Audiard. Drehbuch: Thomas Bidegain, Jacques Audiard. Originaldrehbuch: Abdel Raouf Dafri, Nicolas Peufaillit. Musik : Alexandre Desplat. Kamera : Stéphane Fontaine. Produktion: Lauranne Bourrachot, Martine Cassinelli, Marco Cherqui.
Darsteller : Tahar Rahim, Niels Arestrup, Adel Bencherif.
Verleih: Sony
Kinostart : 11.03.2010
Länge: 155 Min.