Matthias Luthardt in Mainz


Am Donnerstag, den 06.05. ist Matthias Luthardt zu Gast bei der Mainzer Filmwissenschaft. Um 20.00 Uhr wird der "Pingpong"-Regisseur unter dem Titel "Öffnet die Augen!" im Hörsaal des Medienhauses (Wallstr. 11) von seiner Filmarbeit in Afrika vortragen.

Im Mittelpunkt steht der medienpraktische Umgang mit der entwicklungspolitischen "Hilfe zur Selbsthilfe".

Kein Eintritt, für Hinz und Kunz!

DVD: “All Tomorrow’s Parties” – Indie-Musikfest

“All Tomorrow’s Parties”, Großbritannien 2009, Regisseur: Jonathan Caouette.


“All Tomorrow’s Parties“ heißt ein Titel von Velvet Underground, dem Andy-Warhol-Bandprojekt – Warhol erkor in der Tat „All Tomorrow’s Parties“ zu seinem Lieblingssong. Aus der auf très chic, très kitsch und auf „brand yourself“ reduzierten Welt der Factory, aus einer Welt, die Kunst und Kultur im vielleicht passendsten Moment der Geschichte revolutioniert hat, und nicht zuletzt aus der Welt, wo Stars aus Kunst- und Musikgeschäft mit wenigen Ausnahmen noch nicht aus dem Kreis der Fans abgehoben hatten, ja, aus dieser Welt stammt der Name eines der profiliertesten Musikfestivals weltweit.

Angefangen hat alles 1999 unter dem Namen „Bowlie Weekender“ in einem Feriendorf in England, wo die Band Belle & Sebastian als Kuratoren ein Musikfestival organisierten. Von da an stand die Idee fest, und gleich im Jahr darauf fand zum ersten Mal unter der Leitung von Barry Hogan „All Tomorrow‘s Parties“ statt – seit 2002 nicht nur in Großbritannien, sondern auch in den USA.

Das Programm – ein Indie-Manifest:
Musik ist kein Geschäft: Schluss mit den weltberühmten Bands als Headliners. Schluss mit den riesigen Bühnen, auf denen „Streichholz“-Bands vor einer riesigen Masse zappeln, während ihre Lieder vom Wind in die nächste Stadt getragen werden. Schluss mit den dreckigen Zelten. Schluss mit den Plastikbechern und mit Markenbier.
Musik verbindet. Sowohl die Bands als auch die Besucher wohnen in Ferienhäuser nebeneinander. Die Bands spielen auf kleinen Bühnen, hautnah. Performances gibt es teilweise in oder vor den Wohnungen der Bands, wo sich die Nachbarschaft gemütlich dazu versammeln kann. Jedes Jahr werden Bands und Künstler als Kuratoren ausgesucht, die ihre Lieblingskünstler zum Festival einladen. Seit 2007 dürfen die Fans mitkuratieren.

Zum zehnjährigen Jubiläum entstand „All Tomorrow’s Parties – Der Film“, ein einzigartiges Experiment, das den Geist der Veranstaltung völlig widerspiegelt. Regisseur Jonathan Caouette hat sich von Fans und Bands Filmmaterial zuschicken lassen. Dazu kamen die vom Festivalteam gedrehten Rollen. Über 600 Stunden Film in HD, DV, Super 8 oder mit dem Handy gefilmtes Material wurde innerhalb eines Jahres auf diese Weise gesammelt und zu einem Dokumentarfilm geschnitten.
Ein Mosaik aus Split-Screens enthüllt die Essenz von „All Tomorrow’s Parties“: eine ungeheuer bunte Mischung aus Menschen und Bildern, allein durch die Musik verbunden. Alltagsszenen und Interviews mit den Machern, Künstlern und Fans schaffen einen Rahmen um diese zersplitterte und doch einheitliche Welt des Festivals. Immer wieder zwischendurch Performance-Aufnahmen: eine kleine, jedoch delirierende Masse an Menschen steigert mit dem Bass ihre Vibrationen bis zum frenetischen Moment des Einsatzes eines Lieblingskünstlers oder des fieberhaft ersehntes Sounds, der alle zu einer Entität zusammenschmiedet, nur um sie gleich in Aufnahmen des Ferienorts, der verschiedenen Künstler, oder Fans, oder des Himmels, oder des Meeres aufzulösen. Dann steigt alles erneut, mal in aller Ruhe auf einer Wiese vor einem Ferienhaus, wo ein Künstler seine Gitarre mit Gesang begleitet, oder in einem Spielkasino, wo ein Ensemble mit Akkordeons, Zymbal und Trompete der Kulisse eine völlig neue Dimension verleiht, und es geht weiter bis zu großartigen Momenten des gemeinsamen Marschierens durch das Feriendorf mit der Lieblingsband, Bruchteile aus deren Repertoire mitschreiend.

Wer kommt denn alles zu diesem Festival? Voller Achtung vor Kunst und Künstler werden die Namen der gefilmten Bands erst am Ende ihrer Filmmomente eingeblendet, von Namen, von denen man irgendwo schon gehört hat, bis hin zu Namen, die man unter den persönlichen Ikonen aufbewahrt. „All Tomorrow’s Parties“ kennt keine Genres, keine Statussymbole, keine Vermarktungsstrategien. Kuratoren sind alle die mitmachen, alle Bands kommen irgendwann in die Lage, dazu aufgerufen zu werden, die Fans dürfen auch abstimmen, aber es geht weiter bis hin zu Künstlern wie Matt Groening – oder dieses Jahr in den USA: Dort wird Jim Jarmusch seine Lieblingsmusiker zu „All Tomorrow’s Parties“ zwischen dem 3. und 5. September einladen.

Die DVD ist mit einem 40 Seiten umfassenden Booklet in englischer Sprache ausgestattet, in dem die Entstehung des Films und des Festivals erklärt werden, die Plakate, jährliche Aufrufe und die teilnehmenden Künstler vorgestellt werden. Zusätzlich gibt es in den Extras 52 Minuten Performances ausgewählter Künstler, die Höhepunkte bis abstruse Momente des Festivals schildern.

Die große Fragen, die bei einer solchen Art von Veranstaltung unvermeidbar sind, werden im Film in einem Interview mit deutschen Besuchern gestellt: Wie sieht es mit Vermarktung von Künstlern aus? Wird so ein Festival sich in einer Welt der marktorientierten Veranstaltungen erhalten können? Kann man die etablierten Institutionen auf die Dauer umgehen? Soll man diese niederbrennen? Was soll aus der Musik werden? Eine Antwort darauf haben die Befragten nicht, und doch: die Problematik verstärkt sich weltweit, andauernd, denn das Internet und die Entwicklungen der letzten Zeit vor allem in der Musikbranche kündigen an: Musik als Geschäft ist bedroht. Bietet die Abkehr vom Kommerz eine Rettung für Künstler und Fans?


Ciprian David



„All Tomorrow’s Parties“, Großbritannien 2009,
Regisseur: Jonathan Caouette. Kamera: Lance Bangs, Jason Banker, Jonathan Caouette, Marc Halford, Vincent Moon, Marc Swadel. Produktion: Luke Morris.
Darsteller: (Mitwirkende): Animal Collective, Battles, Belle & Sebastian, Lightning Bolt, The Boredoms, John Cooper Clarke, Mark Coldham, David Cross, Dirty Three, George Eady, The Gossip, Grinderman, Grizzly Bear, The GZA, The Mars Volta, Mogwai, The Octopus Project, Portishead, Sun Ra, Jah Shaka, Shellac, Slint, Seasick Steve, The Stooges, Two Gallants, Yeah Yeah Yeahs, Sonic Youth, Claire Riordan
Extras:
Ungekürzte Live-Songs von The Gossip, Portishead, Iggy And The Stooges, Grinderman, Les Savy Fav, u. a.
Audio-Kommentar der Festival-Organisatoren Barry Hogan und Deborah Kee Higgins
40-seitiges Booklet (englisch)
Zugangscode für umfangreiches exklusives Online-Bonusmaterial

Anbieter: Rapid Eye Movies
Vertrieb: Rapid Eye Movies
Länge: 82 Minuten
Erscheinungsdatum: 16.04.2010


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Dokumentarfilm "Auf der sicheren Seite" in Frankfurt

Zum Kinostart wird am 29. April Regisseur Lukas Schmid seinen Dokumentarfilms "Auf der sicheren Seite" im Frankfurter Mal Seh'n-Kino vorstellen.

Zum Film:
Seit 2007 lebt die Mehrheit der Menschen weltweit in Städten. Auf allen Kontinenten wachsen immer mehr Städte zu Megacities heran. Die Privatisierung des städtischen Raumes wird immer häufiger zum Ausweg aus den ungelösten Problemen zwischen den verschiedenen Gesellschaftsschichten. Die Auflösung der städtischen und sozialen Gemeinschaft schreitet voran: hohe Mauern, Elektrozäune, Videoüberwachung und bewaffnete Sicherheitskräfte sind eine Antwort der höheren Einkommensklassen auf diese Entwicklung. In sogenannten "Gated Communities" wird ihnen ein Leben "auf der sicheren Seite" garantiert.

Der Dokumentarfilm von Corinna Wichmann und Lukas Schmid zeigt Innenansichten von drei Gated Communities auf drei Kontinenten:
Wir treffen die Immobilienmaklerin Brenda in ihrer Community DAINFERN, in Johannesburg / Südafrika, einer Stadt mit den höchsten Mordraten der Welt.
Wir begleiten Mr. Misra durch seine Community PALM MEADOWS in der überbevölkerten und chaotischen Stadt Bangalore / Indien.
In Las Vegas lernen wir Stacy kennen, der in seiner exklusiven Community SPANISH TRAIL nach wahren Freunden sucht.

Der Film zeichnet ein komplexes Bild der Gated Communities. Durch das detaillierte Porträt von Bewohnern und Bediensteten, von Lebensumständen inner- und außerhalb der privatisierten Areale bietet der Film eine selten mögliche Innenansicht des Lebens "Auf der sicheren Seite".

Bundesweiter Kinostart: 29. April 2010

Infos und Kinotermine finden Sie auf der Seite des Verleihs RealFiction: www.realfictionfilme.de.

Grindhouse-Nachlese April 2010: „A Lizard in a Woman’s Skin“ von Lucio Fulci und „In the Folds of the Flesh“von Sergio Bergonzelli

Grindhouse-Doppelnacht in Mannheim, 17. April 2010: „A Lizard in a Woman’s Skin“ / Una lucertola con la pelle di donna” von Lucio Fulci und „In the Folds of the Flesh“ / „Nelle pieghe della carne” von Sergio Bergonzelli – ausgesucht, organisiert und mit einer Einführung versehen von Boris Becker – nein: nicht das Tennis-As!


Im Nachhinein gesehen enthält der Titel „A Lizard in a Woman’s Skin“ schon die Lösung dieses Giallo-Rätselfilms. Carol hat darin schlimme Träume von nackten Menschen allüberall, von der schönen Nachbarin Julia, von Liebe und Gewalt; sie hasst Julia und ihr Lotterleben, und allnächtlich lässt sie – im Traum – sich von ihr verführen… Ihr Psychodoc kann das schön erklären, wie sie zwischen der Lust des Es und dem Zwang des Über-Ich pendelt. Das hilft aber nicht, als sich einer ihrer Träume als wahr herausstellt: Sie träumt, die verhasste Julia ermordet zu haben, und tatsächlich: Julia wurde ermordet. Hat sie geschlafwandelt? Legt sie jemand rein? Oder ist alles gar nicht wahr? Und wer sind die beiden Hippies, die Carol ebenfalls in ihrem Traum gesehen hat? Ist ihr Mann der Täter; ihre Tochter; ihr Vater?

Regisseur Lucio Fulci entspinnt von hier aus ein Netzwerk an falschen Fährten, an psychologisch-pathologischer Motivik, sein Mordkomplott wird zum um sich wuchernden Konstrukt zwischen Gewalt und Rache, Eifersucht, Obsession und Neurose, Traum, Imagination, Halluzination, Lüge und Täuschung – er versuche, hat Boris Becker in seiner Einführung zum Film erklärt, mit Erfolg Dario Argento nachzuahmen, mit der durchgestylten, hochartifiziellen, aber spannungseffektiven Inszenierungsweise: Carols Traum/Trauma-Psychose wird in die Bilder hinübergeführt, in lange Gänge, große, leere Hallen, Wendeltreppen, Spiegelungen, bizarre Kameraeinstellungen…

Das hat auch was von Hitchcocks hochstilisierten Spannungsräumen, auch von den Themen her: Obsessive Angsthasslust gegenüber der frivolen Blonden, Psychologisch-Pathologisches, das sich nach außen kehrt, Tod und Tabu; und es gibt eine Verfolgungsjagd durch eine verwirrend labyrinthische katholische Kirche, von den Katakomben durch den leeren Gotteshaussaal hinein in die Orgel, in geheime Kammern hinter den Orgelpfeifen, bis hoch aufs Dach – inklusive einem Priester mit Gewehr…

Natürlich will Fulcis Film niemals Kunst sein, und natürlich ist er in vielerlei Hinsicht billiger gemacht als Hitchcocks durchgeplante, kunstvolle Thriller, der Effekt ist das Wichtige, der Reiz fürs Publikum, Nacktheit und Gewalt – Lucio Fulci wurde später durch Zombihorror berühmt, hat aber, das betont Becker, sein Handwerk von der Pike auf gelernt. Er weiß also, was er tut, das ist nicht selbstverständlich in dem Segment, das Fulci bediente: Filme fürs sensationsgierige Publikum, die aktuelle gesellschaftliche Diskurse ausbeuten für effekthaschende Sex- und Crimegeschichten. Wobei Fulci hier – wissentlich oder nicht – auch einen Kommentar abgibt über das Unbehagen der High Class gegenüber den freidenkenden, sich auslebenden Hippies, indem er die Vorurteile gegenüber der Gegenkultur zu wahnhaften Obsessionen der Hauptfigur werden lässt, bei der Abstoßung und Anziehung eine fatale Verbindung eingehen. Wobei zugleich – auch das zeichnet die Grindhouse-Filme aus – eindeutige Deutungen unmöglich sind: Die Hippies sind dermaßen auf Acid, dass sie sich selbst alles mögliche zutrauen und von Liebe und Frieden nicht viel übrig bleibt; während der Oberklasse, der Carols Familie zugehört, unter der Oberfläche ebenfalls alle möglichen Verbrechen zugetraut werden dürfen.

Exploitation, Trash, Grindhouse: das bringt das Mannheimer Cinema Quadrat seit nunmehr zweieinhalb Jahren, angefangen hat es im Herbst 2007, nach den Post- und Meta-Grindhousefilmen von Tarantino und Rodriguez. Seither läuft hier allmonatlich in einem Doppelprogramm Obskures, simpel gemachtes Genrekino, Horror, Thriller, Kung Fu, Blaxploitation, Sexploitation… Alles Filme, die man sonst kaum in Deutschland zu sehen bekommt, es sei denn, man ist ein Sammler wie Boris Becker, der aus seinem privaten 8000-Filme-Archiv hauptsächlich Werke zeigt, die in Deutschland nicht so einfach erhältlich sind.

Was die Grindhouse-Nächte zu unvergesslichen Kinoerlebnissen macht mit Filmen, die mal auf sehr direkte, dann wieder auf einfallsreich verspielte Weise originelle Ideen anderer verwursten; in denen auch mal die großen Ambitionen des Regisseurs mit den produktionstechnischen Realitäten aufs Komischste zusammenkrachen; in denen dann wieder mit den Mitteln des Genrekinos nach den Sternen zu greifen versucht wird; in denen sich große Wahrheiten hinter plakativen Plattheiten verbergen; oder in denen sich schlicht der Spaß der Filmemacher auf den Zuschauer überträgt – der Film wird gedreht, egal welche Mittel da sind, egal, wie schlecht Schauspieler und Ausstattung sind, no matter what. Das ergibt höchst skurrile, einfallsreich durchgedrehte, völlig verrückte Werke, die in den versteckteren Ecken der Filmgeschichte darauf warten, gefunden zu werden. Spektakuläres und Spekulation, Reißerisches und Zerrissenes, Populäres und Popkulturelles dienen der Sehlust der Zuschauer, deren niederste Sinne angesprochen werden: Filme als Zeitgeisterbahnfahrten. Grindhouse-Filme nehmen billigend in Kauf, lächerlich zu wirken; mitunter ist eine mögliche unfreiwillige Komik wissentlich einkalkuliert; und ab und zu sind die Filme zugleich als Persiflagen ihrer selbst gestaltet. Und deshalb kann ihnen die Zeit nichts anhaben, ja: die Jahrzehnte seit ihrer Veröffentlichung fügen ihnen weitere Ebenen von Trash-Charme und Pop-Nostalgie hinzu.

Diesmal nun also Gialli, die italienische Variante des Sex-, Crime- und Psychokinos; wobei beide Filme dieses Abends, laut Becker, eher ungewöhnlich sind, eher am Rande stehen, weil es nicht um ein klassisches Whodunit um einen Täter in schwarzen Handschuhen geht.

Tatsächlich begibt sich der zweite Film des Abends noch tiefer in freudsche Abgründe als der erste: Der Titel „In the Folds of the Flesh“ bezieht sich auf ein zu Beginn eingeblendetes Freud-Zitat, wonach sich Traumata aus der Kindheit tief in einen hineinfressen. Genau das bebildert Regisseur Sergio Bergonzelli, geradezu obsessiv verfolgt der Film die Untaten, die sich aus früheren Untaten ergeben. Und er lässt sich dabei sichtlich – selbstverständlich sichtlich, denn verborgen, subtil oder nebenbei geschieht in solchen Filmen gar nichts –, er lässt sich also inspirieren von der Schwarzen Romantik: ein dunkler, burgartiger Turm ist der Schauplatz, die Hauptfigur Lucille mit blassem Gesicht, von dunklen Haaren umrahmt, schwarz gekleidet, die Geheimnisse einer mörderischen Familie – all das ist der Motivik der Gothic Novel entnommen, und ähnlich verworrene Familienverhältnisse wie in diesem Film finden sich mitunter auch bei E.T.A. Hoffmann.

Freilich hat Bergonzelli hier alles nochmal überdreht, wirft alles zusammen, so dass der Zuschauer zunächst recht verwirrt ist – wie sind die Verhältnisse nochmal: Das ist doch Inzest zwischen Colin und Falesse, oder sind die doch „nur“ Stiefgeschwister? Falesse jedenfalls ist gierige Nymphomanin, Colin total ein total vermurkster Künstlertyp, die Mutter hält alles bedeckt – so zum Beispiel das Verschwinden von Vater André, der mitunter Mister A. genannt wird, so dass auch hier das familiäre Bild sich verdunkelt. Es beginnt jedenfalls mit seinem abgeschlagenen Kopf, die Leiche wird von Lucille im Garten vergraben, am Fenster die starrenden Augen des jungen Colin: kein Zweifel, hier wird in seinem Gehirn die Saat des Grauens gepflanzt, die dreizehn Jahre später aufgehen wird… Dann nämlich wird kein männlicher Übernachtungsgast das Haus am nächsten Morgen wieder lebendig verlassen, dazu ist Falesse zu rasch mit dem Messer zur Hand, das sie in der sexuellen Erregung unterm Kopfkissen vorzieht, und Colin hat ja noch die Geier im Käfig im Garten, und im Schuppen befindet sich das Säurebad…

Bizarr? Kommt noch besser. In mehreren Volten am Ende wird eröffnet, dass keiner je das war, was er zu sein vorgab / zu sein meinte, und dass die Traumata eines jeden nur Schein waren, nur eingebildet, mit allerdings nicht weniger horrender Wirkung. Nur einer der Schocks aus der Vergangenheit war real, er hat Mutter (vielleicht auch nur Gouvernante) Lucille wahnsinnig gemacht, damals: als ihre ganze Familie in den deutschen Gaskammern umkam, während sie von den SS-Leuten vergewaltigt wurde. Hier buddelt der Film wirklich tief, tief in die Historie und tief in der Kiste des Exploitation-Krimskrams – Naziverbrechen, werden zu Volksbelustigung, zur hanebüchenen Motivation von Horror-Verbrechen, zum ultimativen psychosexuellen Kick. Tugendwächtern würde das moralinsauer aufstoßen – hier aber ist das derart spielerisch, in seiner pathetischen Dramatik so unernst eingebaut, dass der Tabubruch nur ein weiteres tieftönendes Brummen in der eklektizistischen Partitur des Filmes ist – das auch noch in die Psychopathologie der Handlungsgegenwart transponiert wird in einer unglaublichen Szene, im Mord an einem gewalttätigen Zeugen der familiären Untaten: der liegt in der Badewanne, und Zyklon B, handlich in Vitamintablettenform, macht ihm den Garaus. Nicht einfach so: sondern pünktlich zur vollen Stunde, wenn die Türflügel der Kuckucksuhr aufgehen und die tödlichen Pillen ins Badewasser stoßen, wo sie sich zu buntfarbenem Gas auflösen. Wie die Leiche dann beseitigt wird? Dazu bietet Colin die – O-Ton – „Endlösung“ im Gartenschuppen-Säurebecken an.


Harald Mühlbeyer


„A Lizard in a Woman’s Skin“ / "Una lucertola con la pelle di donna" - a.k.a. "Schizoid"
Italien/Spanien/Frankreich 1971.
Regie: Lucio Fulci.
Darsteller: Florinda Bolkan, Georges Rigaud, Stanley Baker.
98 Min.

„In the Folds of the Flesh“ / „Nelle pieghe della carne”
Italien/Spanien 1970.
Regie: Sergio Bergonzelli.
Darsteller: Eleonora Rossi Drago, Pier Angeli, Fernando Sancho.
88 Minuten

Kino: Überlegungen zu „Kick-Ass“ – Hilfe! Es ist ein Teeniefilm!

„Kick-Ass“, USA/GB 2010. Regie: Matthew Vaughn


Wie kam eigentlich das Gerücht in die Welt, bei Matthew Vaughns Kino gewordenem Superheldencomic handele es sich um eine Parodie oder überhaupt ein Werk der Genre- und Selbstreflexion? Vermutlich wird es keinen 18jährigen auf der Welt geben, der „Kick-Ass“ nicht sofort in seine Top5-Liste der begeisterndsten Kinoerlebnisse aufnehmen wird. Vaughns Film ist witzig, schnell und hinreißend in der Eleganz, mit der er Teeniedramatik, spätpubertäre Wildheit und absurdeste Gewalteinlagen jongliert.

Aber eine Parodie? Als solche müsste „Kick-Ass“ die Superheldenmotivik auf Kollisionskurs mit der Realität bringen und humoristische Funken schlagen, wo dabei Allmachtsfantasien zu Bruch gehen. „Kick-Ass“ jedoch macht genau das Gegenteil: er feiert den Sieg der Superheldenlogik über die Realität. Mit parodistischen Elementen kokettiert der Film gerade am Anfang, geht aber letztlich kaum weiter als z.B. „Spider-Man“, etwa, wenn sich (wieder einmal) ein Nachwuchssuperheld beim Üben den Fuß verknackst.

Es geht in „Kick-Ass“ um den Schüler Dave, dessen einziges Talent nach seinen eigenen Worten darin besteht „von Mädchen komplett ignoriert zu werden“. Weil er im Alltag Zivilcourage vermisst und es allgemein für eine ausprobierenswerte Idee hält, beschließt er eines Tages als maskierter Rächer Kick Ass um die Häuser zu ziehen. Gleich sein erster Einsatz bringt ihn schwer verwundet ins Krankenhaus. Erst als er in den bizarren Waffennarren Big Daddy und Hit Girl weitaus professionellere Verbündete findet, kann er den Kampf gegen den städtischen Drogenpaten Frank D’Amico aufnehmen.

Übermäßig originell erscheint der Plot zunächst nicht. Was macht Vaughn also anders? In mancherlei Hinsicht haben Comicadaptionen die großen Literaturverfilmungen abgelöst. Kaum eine erfolgreiche Graphic Novel oder Comicreihe, die nicht ihren Weg ins Kino fände. Um das Geschichtenerzählen oder echtes Interesse an den Figuren geht es dabei allerdings nur in Ausnahmefällen. In erster Linie stehen Comics für die publikumswirksame Bekanntheit eines Szenarios mit einem Portfolio audiovisuell gut adaptierbarer Attraktionen. Die Initiationserzählung des Helden variiert dabei hingegen nur im Bereich von Nuancen, und erst in Fortsetzungen darf man auf eine über das Erwartbare hinausgehende Handlung hoffen. Dieses ebenso straffe wie erfolgreiche Gerüst lässt wenig Raum für eigene Schwerpunktsetzungen der Regisseure und Autoren, und im Ergebnis gleichen die Versuche, Subtilität in die Effektspektakel zu schmuggeln, den Tricks, mit denen die Hitchcocks und Curtiz’ den rigiden Hays-Code zu umgehen versuchten.

Diese Zwischenräume zwischen den orgiastischen Prügeleien kostümierter Vigilanten bieten Platz für Porträts narzisstischer Industrieller („Iron Man“), für die Entfaltung eines Polizeithrillers („The Dark Knight“) oder eines Ensemblestücks über Diskriminierung („X-Men“). „Kick-Ass“ verhält sich im Grunde wie das unabhängig produzierte Punk-Gegenstück zum eher zahmen Konsensriesen „Spider-Man“. Vergleiche mit den Musikindustriebegriffen „major“ und „indie“ liegen nahe, nur das hier eben die enormen Produktionskosten den üblichen Weg vom Nischen- in den Mainstreambereich auf den Kopf stellten.

Ohne ein großes Studio im Rücken (oder Nacken) sowie eingestuft als nicht jugendfrei (zumindest in Übersee) kann sich „Kick-Ass“ nun mit in ihrer Beiläufigkeit erfrischenden Drastik um Teenagerthemen kümmern. Da wird masturbiert, gevögelt und geflucht, dass es eine Freude ist, doch gerade dadurch wirkt „Kick-Ass“ bei allen sonstigen Überzeichnungen ziemlich realistisch im Sinne von: normal. Halbstarke verhalten sich hier mal tatsächlich wie Halbstarke und sind dabei nicht halb so unsympathisch wie man es befürchten könnte. Auch jenseits der Zwanzig macht es noch Spaß, Dave bei seinen hilflosen Anbandelungsversuchen mit seiner Mitschülerin Katie zuzusehen.

Alle naturalistischen Anwandlungen kommen natürlich zum Erliegen, wenn der heimliche Star von „Kick-Ass“ die Bühne betritt. Hit Girl, gespielt von der zum Zeitpunkt der Dreharbeiten erst elfjährigen Chloë Moretz („(500) Days of Summer“), ist eine Kampfmaschine von solcher Wucht, dass wohl selbst Quentin Tarantinos Braut die Kleine zur Mäßigung anhalten würde. Nicht so ihr Filmvater, den Nicholas Cage in seiner (abgesehen von Werner Herzogs „Bad Lieutenant“) motiviertesten Vorstellung seit Jahren gibt.

Gerade, dass Vaughn nicht das mit einer wesentlich interessanteren Hintergrundgeschichte ausgestattete Hit Girl zur Hauptperson von „Kick-Ass“ macht, zeigt, dass es ihm weniger um eine Parodie als eben um einen Teeniefilm ging. Denn wo Hit Girl in ihrer Freizeit die Vorteile einer schusssicheren Weste am eigenen Leib ausprobiert, da genießen die anderen jungen Vigilanten im Einsatz vor allem, mit einem getunten Mustang durch die Stadt zu brausen und der Zahl ihrer Facebook-Freunde beim Wachsen zuzusehen.

Neben „The Dark Knight“ ist „Kick-Ass“ jedenfalls der in seinen actionfreien Szenen bis dato funktionstüchtigste Comicfilm. Und sollte er sich längerfristigen Kultstatus erwerben können, so dürfte dies weder an seinen wiewohl toll inszenierten Kampfeinlagen liegen noch an einer wie auch immer beschaffenen Metahaltung zum eigenen Genre, sondern einfach daran, dass Matthew Vaughn mit „Kick-Ass“ einen unprätentiösen, extrem unterhaltsamen Teenagerfilm vorgelegt hat. Kein Stück weniger. Aber auch nicht mehr – vielleicht abgesehen von Hit Girl.

Cord Krüger


„Kick-Ass“, USA/GB 2010.
Regie: Matthew Vaughn. Drehbuch: Matthew Vaughn, Jane Goldman (nach dem Comic von Mark Millar und John Romita Jr.). Kamera: Ben Davis. Musik: Marius De Vries, Ilan Eshkeri, Henry Jackman, John Murphy. Produktion: Adam Bohling, Tarquin Pack, Brad Pitt, David Reid, Kris Thykier, Matthew Vaughn.
Darsteller: Aaron Johnson (Dave Lizewski / Kick Ass), Mark Strong (Frank D’Amico), Chloë Moretz (Mindy Macready / Hit Girl), Nicholas Cage (Damon Macready / Big Daddy), Christopher Mintz-Plasse (Chris D’Amico / Red Mist), Lyndsy Fonseca (Katie).
Verleih: Universal.
Länge: 117 Minuten.
Kinostart: 22.04.2010.

Kino: „Young Victoria“ - Die Liebe einer Königin

„Young Victoria“, GB / USA 2009, Regie: Jean-Marc Vallée


Keine andere berühmte Monarchin trägt diesen Namen, keine andere englische Königin regierte so lange wie sie, nur Elisabeth I. hat einen ähnlichen Status inne wie sie inklusive der nach ihr benannten Epoche. Beim Lesen des Titels weiß man’s: es geht um Queen Victoria – um die Mädchenjahre einer Königin.

Und so ist die Titelheldin auch das absolute Zentrum der Geschichte, nur am Rande geht es um ihre Zeit, ihr Land, ihr weiteres Leben. Die kleine Victoria wächst ohne das Wissen um ihre Stellung in der englischen Thronfolge auf, streng behütet und abgeschirmt von ihrer Mutter (Miranda Richardson) und deren machthungrigem Sekretär und Geliebten Sir John (Mark Strong). Diese versuchen sie auch weiterhin unter Kontrolle zu halten, als endgültig feststeht, dass Victoria (Emily Blunt) Königin werden wird, weil ihre Onkel keine weiteren Kinder zeugen. Stur schafft es die trotz ihrer bisherigen Abgeschnittenheit von der Welt erstaunlich selbstbewusste Victoria, sich der Einflussnahme zu widersetzen. Als sie dann 18jährig gekrönt wird, verlässt sie sich auf den Rat des Premierministers Lord Melbourne (Paul Bettany).

Doch ist es bei all dem Beziehungsgeflecht am Hof und den unterschiedlichen persönlichen und politischen Interessen der Menschen, die sie umgeben, sehr schwer für sie zu entscheiden, wer ihr wirklich hilfreich beisteht und wer sie nur als Spielfigur zu seinem Vorteil ausnutzt. Ihr Onkel mütterlicherseits zum Beispiel, König Leopold von Belgien (Thomas Kretschmann), plant seit Jahren, Victoria mit ihrem deutschen Cousin Prinz Albert (Rupert Friend) zu verheiraten. Beide jungen Leute wissen von diesen Absichten und sträuben sich gegen diese Verbindung, weil sie die Fremdbestimmung ablehnen. Und trotzdem sind sie sich bei ihrem ersten Treffen sofort sympathisch. Es dauert einige Zeit, bis Victoria wirklich glauben kann, dass Albert nicht vorhat, sie zu kontrollieren, sondern sie zu unterstützen. Doch als sie in ihre erwachsenen Rollen eingewachsen sind, ein Kind haben, endet der Film mit der Aussicht auf die lange, gute Liebe und Zusammenarbeit des Paares.

Die Handlung hält sich ungefähr an den historischen Ablauf, doch verspricht der Film natürlich keine Genauigkeit in faktischen Details. Auch gibt er anders als thematisch verwandte Filme wie „Elizabeth“ keinen genauen Einblick in die komplizierten Machenschaften innerhalb der Politik und des Hofstaates. Außerdem stellt er nicht den Prunk und die Dekadenz der Herrscher dar, wie dies zum Beispiel in „Marie Antoinette“ geschieht. „Young Victoria“ wirft keinen Außenblick auf die Epoche, daher wäre es unnötig den Lebensstil der Königin genau zu rekonstruieren und kritisch zu betrachten, er konzentriert sich eher auf die Gefühle und die Liebe seiner Figur. Dies macht den Film zu einer kurzweiligen Liebesgeschichte vor historischem Hintergrund. Es ist vielleicht auch mit das Interessanteste an Victorias realer Person, dass eben aus einer arrangierten Ehe in Wirklichkeit eine tiefe Liebe und Zweisamkeit entsprang im Gegensatz zu den vielen anderen Beispielen aus den Königshäusern Europas.

Der Film erzählt diesen Beginn ihrer Liebesgeschichte mit einigen eher ungewöhnlichen Kameraoperationen. So zeigen die Bilder viel weniger als in vergleichbaren Filmen große Panoramen der Bälle und Festessen, ebensowenig pompöse Details der Kleider und Dekorationen. Sehr oft sind Victoria und auch Albert und ihr Onkel, König William und sein Gefolge, in Großaufnahme zu sehen, um sie herum alles unscharf, die gefüllten Tische, die anwesenden Würdenträger und schönen Damen. Dies macht die Begrenzung auf die privaten Gefühle der Personen deutlich und verbildlicht außerdem das für sie oft nicht zu durchblickende Leben in ihrer Position.

Zuletzt sei ein Hinweis erlaubt für all diejenigen, die sich in Kürze über die spannende und langjährige Geschichte der britischen Monarchie, und ihrer Königinnen im Besonderen, informieren wollen. Dazu bietet Marita A. Panzers Buch „Englands Königinnen“ erstaunlich unterhaltsame kurze Darstellungen der Biografien der Königinnen mit Auszügen aus historischen Dokumenten und verständliche Verweise auf die politische und gesellschaftliche Lage sowie die familiären Hintergründe.
Wer allerdings nur oder zudem Lust auf eine historische Liebesgeschichte mit den obligatorischen, aber nichtsdestoweniger schön anzusehenden, im übrigen oscarprämierten Kostümen, ebenso schönen Bildern mit teilweise herausragenden Aufnahmen und durchweg hochkarätigen Schauspielern hat, ist bei „Young Victoria“ gut aufgehoben.


Elisabeth Maurer



„Young Victoria“, GB / USA 2009, Regie: Jean-Marc Vallée
Regie: Jean-Marc Vallée. Drehbuch: Julian Fellowes. Kamera: Hagen Bogdanski. Musik: Ilan Eshkeri. Produzenten: Sarah Ferguson, Tim Headington, Graham King, Martin Scorsese.
Darsteller: Emily Blunt, Rupert Friend, Paul Bettany, Miranda Richardson, Mark Strong
Verleih: Capelight
Laufzeit: 105 min
Start: 22.4.2010


Das Buch Englands Königinnen: Von den Tudors zu den Windsors von Marita A. Panzer können Sie in unserem Online-Shop bestellen.

DVD: „Tropa de Elite“ – Aufräumen in den Slums

„Tropa de Elite“, Brasilien, Niederlande, USA 2007, Regisseur: José Padilha.

Im Durchschnitt dauert es zwischen der Vorführung eines Films auf der Berlinale und seinem Kinostart hierzulande einige Monate. Außerdem untersteht das Kino einer Geographie der Welt, die anders ist, als man in der Schule lernt: So brauchen zum Beispiel europäische Filme durchschnittlich acht Monate länger als ihre US-amerikanischen Verwandten, um in den deutschen Kinos anzukommen. Es liegt natürlich nicht am Ozean, der die letzteren zwingt, per Flugzeug zu reisen, während die ersteren sich für die sparsame Bummelbahn entscheiden dürfen. Wäre es aber so, dann kann man sich sicher sein: „Tropa de Elite“ überquerte den Atlantik mit dem Dampfschiff. Der Gewinner des Goldenen Bären 2008 war erst im Sommer letzten Jahres in wenigen Programmkinos zu sehen, die DVD-Scheibe ließ bis zum April diesen Jahres auf sich warten.

Ein Dokumentarfilm über Gewalt in den Slums von Rio de Janeiro sollte der Film zuerst sein. Stattdessen wurde er ein Millieudrama in Actionkleidung. „Tropa de Elite“ verfolgt die letzten Dienstmonate des Kapitäns Nascimento (Wagner Moura), Leiter einer Spezialeinheit der Polizei, und den Aufstieg zweier potenzieller Kandidaten für die Nachfolge: Matias (André Ramiro) und Neto (Caio Junquiera). Zwischen Polizeirevier, Slums und Ausbildungslager zeichnet der Film ein Universum, in dem Gewalt, Verbrechen und Korruption die wichtigsten Operatoren einer sich nie in ihrer Gesamtheit ändernden Gleichung sind. Da die Erzählperspektive bei den Polizisten liegt, werden diese zu bipolaren Variablen; die zwei Pole hierbei: Korruption oder Gewalt.

José Padilha drehte vor „Tropa de Elite“ Dokumentarfilme. Das sensible gesellschaftliche Thema, das er mit diesem Film anging, bei dem die Polizei als Prisma des Gezeigten fungiert, stellte sich aber schon in der Vorbereitungsphase des Films als eine unüberwindbare Schranke heraus, so musste er sich eine fiktionale Kappe für das Projekt nähen. Das Recherchematerial musste ohne Aufnahmegeräte und ohne Angaben zu den Interviewten gesammelt werden, die betroffenen Institutionen verweigerten jegliche offiziellen Angaben. Woher aber diese Sensibilität? Der Film schildert einen Teufelskreis der brasilianischen Gesellschaft. Fern von Politik im konventionellen Sinne richtet „Tropa de Elite“ seinen Blick auf die Welt der über 700 Slums in Rio de Janeiro. Die meisten davon werden von Drogenhändlern kontrolliert. Die sehr armen Bewohner dieser Slums werden durch Gewalt und Ausweglosigkeit gezwungen, sich in der Welt der Drogenhändler zu integrieren und Plätze in ihren Organisationen zu beziehen. In dieser Welt ist Politik ein Luxus, denn die Verbrechensorganisationen kämpfen wie kleine Völkerstämme um die Ansprüche auf Territorien.

Dagegen tritt die Polizei an, ein Apparat, der allein in Rio de Janeiro über 40.000 Menschen beschäftigt, Menschen, die schlecht verdienen, schlecht ausgerüstet und schlecht trainiert sind. Menschen, die in die Slums fahren, um auf viel besser gewappnete Gegner zu treffen. So ist es kein Wunder, dass sich die Maschinerie der Polizei unter den Umständen verwandelt und zu einem Spiegelbild ihrer Gegner wird. Anstatt die Drogenhändler zu bekämpfen, treffen sie mit diesen Vereinbarungen, die ihre Solde ergänzen. Sie kämpfen nicht gegen Verbrecher, sondern untereinander um Reviere, in denen sie mittels Schutzgeldererpressung noch was dazu verdienen können. Die mittleren und oberen Schichten der Bevölkerung finanzieren einerseits das Ganze über Drogenkonsum, während sie andererseits die Polizei als korrupt missachten.

Doch das System bietet eine Lösung an, Gewalt kann man mit noch mehr Gewalt übertrumpfen, oder, genauer gesagt, durch die BOPE. Die äußerst brutal und umfassend zu Bekämpfung des urbanen Verbrechens trainierte Einheit ist eine martialische Gruppe, die die Korruption der Polizei verabscheut und sich dadurch für berechtigt hält, kurzen Prozess mit beiden Seiten zu machen, je nach Bedarf. Die BOPE organisiert sich nach faschistischem Modell durch Entindividualisierung ihrer Mitglieder, bedrückende Disziplin und elitäres Selbstbild.

Trotz der rasanten Kameraführung und ungeheuren Dynamik der Handlung, die den Film zu einem einzigen Schrei verwandeln, findet José Padilha in „Tropa de Elite“ den angemessenen Blickwinkel, um möglichst alle Facetten der geschilderten Gesellschaft, aber vor allem die Ausweglosigkeit des tragischen, über viele Jahre entstandenen Systems als Ganzes auf der Leinwand leuchten zu lassen. Von der a priori zur gewordenen Selbstverständlichkeit der Korruption bei der Polizei, durch deren Netze sich Matias und Neto erfolgslos zu kämpfen versuchen, über die Ignoranz der wohlhabenden Studenten, die durch Drogenkonsum oder sogar aktiv den Kreislauf des Verbrechens unterstützen, nicht aber bereit sind ihre Vorurteile gegenüber der Welt hinter der Mauer der Familienvilla abzulegen, aber auch über die trostlosen Einwohner der Slums bis hin zur Unfähigkeit der BOPE, ihre Vergehen gegen Menschenrechte zu reflektieren, durchleuchtet der kritische Blick des Regisseurs alle verschwiegenen Wahrheiten einer Gesellschaft.

Ewig bestehen allein die gesellschaftlichen Strukturen, jede für sich starr und unfähig, sich auf Veränderungen oder Besserungen einzulassen. So werden die Frischlinge Matias und Neto durch die ganzen Mechanismen dieses Universums geschleudert, von allen zurückgewiesen, bis sie selber willig sind, Partei zu ergreifen und sich für die gewaltverherrlichende BOPE zu entscheiden. Dass dieser Entschluss zunächst wie eine Befreiung wirkt, um dann mit Hilfe des Charakters Nascimento von Grund auf hinterfragt zu werden, ist, wovon der gewonnene Goldene Bär zeugt, einem hervorragenden Film zu verdanken.

Eine Provokation war „Tropa de Elite“ in Brasilien. Gedreht vor Ort, in mehr oder weniger direkter Kooperation sowohl mit den Drogendealern in den Slums als auch mit der Polizei, verneinte das Projekt durch die Entstehungsbedingungen die Aussagen des eigenen Inhalts. Nach Veröffentlichung, wie Regisseur Padilha im Interview auf der DVD erklärt, von vielen Institutionen angefochten und in mehrere Gerichtssäle geschleudert, schaffte er es dennoch zu einem fiebernden brasilianischen Publikum. Allein eine in der Postproduktion entwendete Raubkopie fand elf Millionen Zuschauer im Inland noch vor dem offiziellen Kinostart. In den USA spielte der Film knapp über 8.000 Dollar ein. Die fast 60.000 Euro, die der Film in Deutschland einspielte, sind wahrscheinlich doch der kuriosen Geographie des Kinos zu verdanken.


Ciprian David


„Tropa de Elite“, Brasilien, Niederlande, USA 2007
Regisseur: José Padilha. Drehbuch: José Padilha, Rodrigo Pimentel, Bráulio Mantovani, John Kaylin nach einer Vorlage von Rodrigo Pimentel, André Batista, Luiz Eduardo Soares. Kamera: Lula Carvalho. Musik: Pedro Bromfman. Produktion: José Padilha, Marcos Prado.
Darsteller: Wagner Moura (Kapitän Nascimento), André Ramiro (André Matias), Caio Junquiera (Neto), Milhem Cortaz (Kapitän Fabio).

Extras:
Interview mit dem Regisseur
Beitrag über den Film aus der Sendung ttt – titel thesen temperamente
Trailer

Anbieter: Senator.
Vertrieb: Universum Film
Länge: 111 Minuten
FSK: 18.
Erscheinungsdatum: 02.04.2010


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DVD: "Der Dorflehrer" – All You Need Is Love

"Der Dorflehrer" / "Venkovský Učitel", Tschechien/Deutschland/Frankreich 2008. Drehbuch und Regie: Bohdan Sláma.


„Klar kann ich Dir verzeihen. Und jetzt lass uns einfach ficken. Komm, wir müssen ja nicht gleich von Liebe reden!“
„Für mich ist es nichts ohne Liebe.“

Zwischen all den großen Problemen dieser Welt merkt niemand, dass es überall Menschen gibt, deren Liebe nicht erwidert wird, sagt der Regisseur Bohdan Sláma im Making of des DVD-Bonusmaterials. Und darum geht es ihm in diesem Film.

In die kleine Welt eines Dorfes kommt am Anfang des Films Petr (Pavel Liska), um seine neue Stelle als Biologielehrer anzutreten. Als schüchterner Fremder stellt er sich den Kindern vor, sichtlich bedrückt von der Anwesenheit des Schulleiters fängt er seinen Unterricht an. Ein Schneckenhaus zeigt er den Schülern dabei. Ein Schneckenhaus, das keine Schnecke ist, auch keine Weinbergschnecke, sondern einfach ein Haus, eine Chronik eines Lebens, das einmal in ihm stattgefunden hat. Die Menschen sind Teil der Natur, erklärt er so die Botschaft des Films, und die Natur soll man kennen, um sich zu selber zu kennen.

Viel weiß man nicht über den neuen Dorflehrer. Er hat seine Stelle in einem Gymnasium in Prag gekündigt, um auf dem Land zu unterrichten. Fragen dazu beantwortet er mit Schweigen. Plötzlich wohnt er bei Marie (Zuzana Bydzovská), und eine sanfte Annäherung scheint zwischen den beiden stattzufinden. Die Melancholie, mit der Pavel Liska seinen Charakter wunderbar bekleidet, findet in Maries Hingabe zu ihren alltäglichen Arbeiten eine Spiegelung, doch als diese den ersten Schritt zu ihm wagt, weicht er aus.

Ein Besuch von Petr bei seinen Eltern in Prag erklärt alles genauso abrupt, wie der Film bisher verlief. Petr ist unfähig, eine Beziehung einzugehen, weil er sich selber nicht kennt, weil er es deswegen bisher noch nie geschafft hat, jemanden zu lieben, und weil diese Unfähigkeit, Liebe zu erwidern, ihn zu einem einsamen Menschen macht. Zum zweiten Mal lässt der Film seine Botschaft aussprechen, diesmal von Petr Eltern: Einsamkeit ist schrecklich. Zwei anständige Menschen sollten doch über Differenzen hinaus die gemeinsame Brücke für eine Beziehung finden.

Von nun an liegen alle Karten auf dem Tisch, und der Zuschauer darf entspannt einer im Film zentralen Frage nachgehen: „Wie macht man das?“ Glauben, Selbstschätzung oder Liebe treten nebeneinander als Aspekte des sich in einer Beziehung auf jemanden Einlassens, und sie werden auf mehreren Ebenen mehr oder weniger metaphorisch variiert. Marie, mit ihrer unglücklichen Vergangenheit, eine zwischen den Hürden des Alltags hin und her schwebende Nomadin, die diese Hürden mit unermüdlicher Kraft angeht, genießt nur die kleinen Momente des Glücks, die ihr das Dasein anbietet, und bietet dadurch ein einzigartiges Beispiel der Poesie des Lebens auf dem Land. Petr, als der ständig Andere, der nicht Akzeptierte, befindet sich auf einer fortwährenden Suche nach der Nächstenliebe. Maries Sohn (Ladislav Sedivý), in seiner pubertären Unsicherheit, unternimmt die größte Reise seines Lebens, um zu erfahren, dass das Ziel dieser Reise woanders lag. Gar die auf ihre Züchter angewiesenen Tiere werden zu Vorführern des Strebens nach einer Verbindung zu einem liebeswürdigen Nächsten.
Eine ständig sanft, oft im Kreis bewegte Kamera umwebt und verfolgt diese Suchenden, hat ihre Horizonte immer im Blick, vergleicht sie immer mit der Umwelt um sie herum, zeigt ihnen immer, dass die gesuchte Weite sich in der unmittelbaren Nähe befindet. Eine Nähe, die sich bei einem kleinen Eingeständnis der Gemeinsamkeit in Freude erfüllen könnte.

Die von Bohdan Sláma gewählte Perspektive des Suchenden erzeugt in „Der Dorflehrer“ ein einzigartiges, einheitliches Bild des Menschen, das die Unterschiede zwischen Großstadt und Dorf verschwinden lässt, und gleichzeitig mit sanften, aber sehr sicheren Bewegungen das Klischee der Pseudoidyllik des Landes in den Augen des Städters sprengt. Es gilt durchweg: „Für mich ist es nichts ohne Liebe.“


Ciprian David


"Der Dorflehrer" / "Venkovský Učitel"

Tschechien/Deutschland/Frankreich 2008.
Drehbuch und Regie: Bohdan Sláma. Kamera: Diviš Marek. Musik: Vladmír Godá. Produktion: Pavel Strnad, Petr Oukropec, Thanassis Karathanos, Karl Baumgartner.
Darsteller: Pavel Liška (Petr), Zuzana Bydžovská (Marie), Ladislav Šedivý (Laja), Marek Daniel (Der Freund), Tereza Voříšková (Beruška).
Extras: Making of, Trailer.
Vertrieb: Neue Visionen
Länge: 110 Minuten


Eine weitere Kritik zum Film finden Sie HIER.

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Nippon 2010: 150 Filme in fünf Tagen

Nach fünf mit Filmen, Konzerten, Kultur, Jubiläumsveranstaltungen und Parties vollbeladenen Programmtagen kam gestern bei Nippon Connection 2010 der Moment, an dem die Gewinner in den zwei Wettbewerb Kategorien bekannt gemacht wurden.

Den Nippon Cinema Award, vergeben vom Publikum, dotiert mit einem vom Bankhaus Metzler gestifteten Preisgeld in Höhe von 2000 €, erhielt Shinsuke Sato für den Animationsfilm „Oblivion Island: Haruka and the Magic Mirror“.
Die Japanese Visual Media Translation Academy (JVCA) stiftete als Preis die Untertitelung des nächsten Films des Gewinners des in diesem Jahr eingeführten Nippon Digital Award. Gewonnen hat Tetsuaki Matsue mit dem Film „Live Tape“.

Neben den zwei großen Gewinnern liefen bei Nippon Connection 2010 Filme, die eine sehr breite thematische Palette abdeckten, Filme, die vor allem in ihren Erzählstrukturen sehr unterschiedlich waren, davon erwähnenswerte Titel wie Momoko Andos Regiedebüt „A Piece of our Life – Kakera“ und Satoko Yokohamas „Bare Essence of Life“, die mit ihren viel mehr um Bilder als um Handlung gestalteten Dramaturgien und Motiviken Ostasien-Fans begeistert haben dürften, oder der poetische „The Blood of Rebirth“ von Toshiaki Toyoda, der gleichzeitig ein Diskurs über Liebe, Natur und Tod darstellte. Es gab aber auch sehr westliche Filme, wie Miwa Nishikawas „Dear Doctor“, der ausgesprochen unterhaltsamen „Toads Oil“ von Koji Yakusho oder Keralino Sandorovichs „Crime or Punishment?!?“, die ein breites Publikum angesprochen haben, wie es beispielhaft auch der Gewinner des Nippon Cinema Awards illustriert.

150 Filme in fünf Tagen sind unmöglich zu sichten, geschweige denn, über alle zu berichten. Auch hat sich bei uns Reportern einiges angestaut, was noch auf die Niederschrift wartet. Daher werden noch einige Texte zu den erwähnenswerten Filmen folgen, die wir während diesen fünf großartigen, und, vor allem, großartig langen Tagen nicht besprochen haben.
In diesem Sinne verabschieden wir uns offiziell von der Nippon Connection 2010 und freuen uns, in einem Jahr wieder dabei sein zu dürfen.

Ciprian David

Nippon 2010: “Sawako Decides” – Das Fräulein vom Land

“Sawako Decides” / “Kawa no soko kara konnichi wa”
Japan 2009, Regie: Yuya Ishii


Mit „Sawako Decides“, dem bei dem hochangesehenen PIA Filmfestival prämierten Film von Yuya Ishii, leuchtete zum letzten Mal die Leinwand der Nippon Connection 2010.

Der Film erzählt mit viel Humor die Geschichte von Sawako, gespielt von Hikari Mitsushima, die auch in „A Piece of Our Life –Kakera“ bei der diesjährigen Nippon Connection zu sehen war. Nach 5 Jahren, 5 Freunden und 5 Berufen in Tokyo ist Sawako zur Überzeugung gekommen, sie sei ein unterdurchschnittlicher Mensch, und gefällt sich in dieser Situation zusammen mit ihrem unsympathischen Freund und dessen abweisender kleinen Tochter. Kenichi, ihr Freund, arbeitet in einer Firma, die Spielzeuge herstellt, wird aber bald gekündigt, nachdem er eine Mutter mit Rädern als Spielzeugauto erfindet. Natürlich behauptet er, dass er nicht die Schuld daran trage und auch überhaupt nicht gefeuert worden sei, sondern eben das Ökoleben für sich entdeckt daher seinen Job gekündigt habe und sich jetzt aufs Land zurückziehen möchte. Besonders günstig ist der Moment, denn Sawakos Vater liegt im Sterben und seine Firma braucht eine führende Hand.

So befindet sich Sawako in der Situation, zwischen Trennung und der Reise nach Hause zu wählen. Eine Reise, die sie nicht besonders gerne machen möchte, weil sie seit fünf Jahren, nachdem sie mit dem örtlichen Kapitän der Tennismannschaft durchgebrannt ist, nicht mehr mit ihrem Vater geredet hat. Aber als unterdurchschnittlicher Mensch hat man nicht so viel herumzuwählen und Kenichi besteht darauf aufs Land zu ziehen, also geht es ab in ihren Heimatsort.

Dort wird Sawako mit Verständnismangel von allen Seiten konfrontiert, von den Angestellten der Firma ihres Vaters, wo sie jetzt die Geschäfte führt, bis hin zum zufällig vorbeifahrenden Fischer. Die Situation nimmt mehr und mehr kafkaeske Dimensionen an, die sich zusätzlich in einem politischen Kontext integrieren lassen, denn „Sawako Decides“ ist auch ein Film über die globale Finanzkrise. Somit gehört er den Filmen an, die dieses Jahr bei Nippon Stadt und Land vergleichen.

Voller Geschick weckt die Handlung des Films im Zuschauer den Wunsch, dass Sawako endlich gegen die verständnislose Welt um sie herum rebelliert. Dafür ist aber natürlich die Rebellion gegen das eigene Selbstbild nötig. Dass Sawako dieses nicht findet, ist in erster Linie ausschlaggebend für die Art, wie der Film mit Standardsituationen umgeht: sein Humor besteht meistens darin, dass Sachen verkehrt passieren, wie beispielsweise, dass Sawako als Chefin von ihren eigenen Untertanen geschimpft wird. In zweiter Linie lässt sich Sawakos Ablegen der Unentschlossenheit und der Unsicherheit trotz des Fehlens ihrer Rebellion gegen sich selbst als eine Aussage zur Bekämpfung der Finanzkrise lesen: wie sie selber sagt, sind wir alle unterdurchschnittlich, uns geht es schlecht, darum müssen wir uns umso mehr bemühen, dass wir alles auf die Reihe kriegen.

Alles in allem ist Sawako Decides sehr gelungenes Unterhaltungskino mit leisen politischen Tönen. Aus Natur, Wirtschaft und Exkrementen schmiedet Regisseur Yuya Ishii eine packende, rührende, aber vor allem skurrile Parabel der Wirtschaftskrise.


Ciprian David



“Sawako Decides” / “Kawa no soko kara konnichi wa”
Japan 2009
Regie: Yuya Ishii
Darsteller: Hikari Mitsushima, Masashi Endo
112 Min.

Nippon 2010: „Zero Focus“ – Ein Ehemann verschwindet

„Zero Focus“ / „Zero no shoten”
Japan 2009 , Regie: Isshin Inudo

Tag für Tag werden die Filme bei Nippon Connection immer westlicher in ihrer Konzeption. Angefangen hat es gestern mit „Oblivion Island“, gesehen an dem Tag, an dem passenderweise mein Notizbuch verloren gegangen ist, und Film für Film baute sich diese Tendenz im Programm auf bis hin zu Isshin Inudos „Zero Focus“, eben in Nippon Cinema als Wettbewerb-Film gezeigt.

„Zero Focus“ bezeichnet die Suche des Kameraobjektivs nach den frisch verheirateten Kenichi und Teiko, eine Suche, die wenige Tage später in der Handlung auf Teiko (gespielt von Ryoko Hirosue, bekannt in Deutschland aus „Nokan – Die Kunst des Ausklangs“) übertragen wird. Kenichi ist während einer Dienstreise spurlos verschwunden. Die durch sinnlich ansprechenden Meeresaufnahmen angekündigten Episoden der Ermittlungen führen nach Kamazawa und decken eine immer tiefer verstrickte Konstellation von obskuren Charakteren auf, die mit dem mutmaßlichen Sterben Kenichis in Verbindung zu sein scheinen. Ein Kriminalfilm voller Wendepunkte ist „Zero Focus“, die im Namen des Films beschriebene Unklarheit verbleibt für einen großen Teil des Films auch beim Zuschauer.

Die Ermittlungen Teikos sind gleichzeitig eine Reise, die sie ihren verschwundenen Ehemann kennenlernen lässt, denn ihre Ehe war arrangiert worden. So erfährt sie nach und nach von seiner Vergangenheit und von den zwei Frauen, mit denen sein Schicksal verbunden ist. „Zero Focus“ ist aber gleichzeitig ein Epochenbild.

Mit Archivaufnahmen anfangend dokumentiert der Film das Japan nach dem Zweiten Weltkrieg, im Mittelpunkt die Verhältnisse zwischen Männern und Frauen. Parallel zu Teikos Suche nach Klarheit bezüglich des Todes und Lebens ihres Mannes kandidiert in Kamazawa zum ersten Mal in der japanischen Geschichte eine Frau als Bürgermeister. Kräftig unterstützt wird sie von Sachiko (Miki Nakatani, „Memories of Matsuko“ LINK), eine der zwei Frauen, die mit Teikos Ehemann durch ihr Schicksal in den Jahren nach dem Krieg verbunden waren. Während er als Polizist Frauen verhaften sollte, die mit amerikanischen G.I.s gegen Entgelt sexuelle Verhältnisse pflegten, arbeiteten diese zwei Frauen genau in dieser Branche.

Durch sie kam Kenichi dazu, dievor allem für Frauen bittere Seite des Krieges näher kennenzulernen und sich als Japaner mit ihnen verbunden zu fühlen, und es entwickelte sich ein Verhältnis zwischen den dreien. Wie aber die Kandidatur einer Frau für den Bürgermeisterposten bebildert, änderten sich die Zeiten, die Verhältnisse und die allgemeine Einstellungen der Menschen. Diese Änderungen betrafen aber nicht Kenichi und die zwei Frauen, die durch ihre Verbindung zueinander ständig an ihre belastende Vergangenheit erinnert wurden. Die Ehe mit Teiko wird aus dieser Perspektive, als sein Versuch, ein neues Leben mit einer jungen Frau anzufangen, durchleuchtet. Und dieser Versuch kostete ihn das Leben. Ebenso geschieht es mit den zwei Frauen, die, gefangen in der Vergangenheit, nicht ein Teil der Gegenwart werden können, ein Teil der Welt, in der Frauen und Männer gleichberechtigt sind.

Ein melodramatischer Kriminalfilm ist „Zero Focus“, der handwerklich mit viel Geschick umgesetzt ist und immer wieder durch etwas unkonventionelle Kameraeinstellungen überrascht, und der nicht zuletzt durch die Besetzung ein breites Publikum überzeugt.


Ciprian David


„Zero Focus“ / „Zero no shoten”
Japan 2009
Regie: Isshin Inudo.
Darsteller: Ryoko Hirosue, Miki Nakatani, Tae Kimura, Hidetoshi Nishijima, Takeshi Kaga.
www.zero-focus.jp
130 Min.

Nippon 2010: „One Million Yen Girl“ - Die Geheimnisvolle wehrt sich

„One Million Yen Girl“, Japan 2009. Regie & Drehbuch: Yuki Tanada


In sehr klaren, einfach komponierten Einstellungen nähert sich „One Million Yen Girl“ seiner introvertierten Hauptfigur, der 21-jährigen Suzuko, die ihre Umwelt irritiert und in den Bann schlägt mit ihrer Aura des Geheimnisvollen, was sie zu einer optimalen filmischen Hauptfigur macht. Der Zuschauer verfolgt - genau wie die anderen Figuren im Film - fasziniert ihre Handlungen und versucht sich ein Bild zu machen, was hinter der undurchschaubaren Schale im Inneren vorgeht.

Angenehm geradlinig und ohne aufdringliche visuelle Spielereien lockt der Film uns in Suzukos Welt. Nichts ist da einfach: Der Versuch mit einer Freundin zusammenzuziehen missglückt, sie gerät in Konflikt mit der Justiz, muss eine Million Yen bezahlen und zieht durchs Land, um das Geld bei Aushilfsjobs zu verdienen. Sie arbeitet am Strand, bei der Pfirsich-Ernte usw.

Der Film hat also eine grundsätzlich episodische Struktur, wir verfolgen Suzukos Reise, die natürlich auch eine innere, seelische Reise und Entwicklung bedeutet. In den Begegnungen mit den Figuren am „Wegrand“ muss sie lernen, sich ihrer Haut immer besser zu erwehren. Hinter den höflichen Gesprächen mit Kunden, Arbeitgebern und Nachbarn verbirgt sich oft ein knallharter Überlebenskampf, in dem jeder seine heimlichen Interessen verfolgt, manche gar zu Tiefschlägen ansetzen. Immer deutlicher wird dabei das Bild einer jungen Frau, die mit zerbrechlicher Vorsicht und strahlender Ehrlichkeit jeder unangenehmen Situation begegnet.

Anhand eines Briefwechsels mit ihrem jüngeren Bruder erhält der Film eine Ebene, auf der Suzuko ihre Situation in Worte fassen und für sich, für uns und ihren Bruder reflektieren kann. So kann sie sich ganz langsam aus ihrer defensiven Haltung befreien, wagt dann auch die Beziehung zu einem Jungen.

Der Film ähnelt seiner Hauptfigur: So elegant einfach und gerade dadurch bewundernswert vielseitig, so komplex und doppeldeutig und auch so direkt und kompromisslos wie Suzuko ist auch die feinsinnige Regiearbeit der Regisseurin Yuki Tanada. Auf eleganteste Weise lässt sie die Ambivalenzen und Doppeldeutigkeiten in den menschlichen Beziehungen aufschimmern, lässt uns mitfiebern, ohne die großen ästhetischen Hämmer zu brauchen - im Gegenteil: Der Film wirkt entspannt, fast beiläufig und traut sich auch, vieles in Andeutungen zu lassen. Langsam steigert sich die Spannung und hält an bis zum Schluss - sogar darüber hinaus. Das letzte Bild gibt nämlich noch einmal Anlass zum Diskutieren …


Martin Urschel

„One Million Yen Girl“, Japan 2008.
Regie & Drehbuch: Yuki Tanada. Kamera: Kei Yasuda. Musik: Eiko Sakurai, Ko Hirano.
Darsteller: Yu Aoi, MiraiMoriyama, Ryusei Saito, Terunosuke Takezai, Takashi Sasano.
Länge: 121 Min.

Nippon 2010: Tetsuaki Matsues “Live Tape” – Ein Mann, seine Gitarre und zwei Sonnenbrillen

„Live Tape“, Japan 2009, Regie: Tetsuaki Matsue – Gewinner des NIPPON DIGITAL AWARD 2010


Zu Beginn von Testuaki Makues Dokumentar-Experiment „Live Tape“ steht der Tod: Ein junge Frau (Tsugumi Nagasawai, die einzige Schauspielerin des Films) in einem rosafarbenen Kimono betet am Neujahrstag 2009 im Kichijoji Hachiman-Schrein in Tokio für die Seelen der Verstorbenen, passiert auf dem Weg nach draußen zahllose Passanten und einen jungen Musiker, der mit einer dunklen Sonnenbrille auf der Nase und einer Gitarre in der Hand neben dem Tor steht. Die Kamera verliert die Frau aus dem Blick und bleibt an diesem Musiker haften, der unvermittelt zu singen beginnt. Der Titel des ersten Songs, der in weißer Schrift eingeblendet wird, bildet zugleich den Titel des Films: „Live Tape“. Als der Sänger sich in Bewegung setzt, bricht die Kamera mit ihm auf und wird ihn begleiten, den ganzen Weg durch die mit Menschen gefüllte Innenstadt bis in den Inokashira Park, wo auch der Film sein Ende finden wird, das doch kein Endgültiges sein wird.

Aber auch bei der Initiierung und Durchführung des Projektes „Live Tape“ spielte der Tod eine nicht unwesentliche Rolle, genauer: der Tod des Vaters des Regisseurs Tetsuaki Matsue, seiner Großmutter und eines guten Freundes im Jahr 2008, kurz vor Beginn der Dreharbeiten. Die Arbeit an dem Film half ihm dabei, damit umzugehen, etwa dadurch, dass er seine Darstellerin Tsugumi Nagasawai an seiner statt für die Verstorbenen Fürbitte leisten und den Singer-Songwriter Kenta Maeno durch den Stadtteil Tokios wandeln lässt, in dem er aufgewachsen, mit seiner Familie durch die Gassen und Straßen geschlendert ist. Auch der Beginn dessen Karriere ist vom Tod überschattet. Denn in einem seiner ersten Songs, „Weather Forecast“, verarbeitet Maeno den Verlust seines Vaters, der mit 57 Jahren an einem Herzinfarkt verschieden ist, noch bevor er in Pension gehen und sein Leben in Muße beenden konnte.

Ähnlich wie in Alexander Sokurows „Russian Ark“ ist die Bewegung durch den Raum somit auch eine durch die Zeit, in die Vergangenheit Matsues und in die Maenos, indem dieser auf dem Weg durch die Straßen Tokios Lied an Lied aneinanderreiht, Songs, die untrennbar mit seiner Biographie verbunden sind, Abschnitte seines Lebens, seiner Karriere widerspiegeln. Und wie Sokurows Film besteht Live Tape aus einer einzigen Einstellung, ebenfalls mit Digitalkamera gedreht, in seinem Ansatz aber wesentlich persönlicher, kein Gang durch Kultur- und Geistesgeschichte wie Sokurows Gang durch die Sankt Petersburger Eremitage. En passant wird zudem ein Stück Zeit konserviert, ein Stadtteil und seine Menschen, am Neujahrstag 2009.

Wie ein japanischer Bob Dylan, mit Wuschelkopf und Sonnenbrille wandert Maeno an Menschen, Autos, Häusern, Schaufenstern vorbei, zieht sich einen Softdrink aus einem Automaten, setzt auf Bitten des Regisseurs seine charakteristische dunkle Brille ab und schenkt sie einem kleinen Jungen, der gerade mit seiner Mutter vorbei kommt. Bis er wie zufällig vor einem Ladencafé auf einen anderen Musiker trifft. Scheinbar spontan stimmen sie zu zweit einen Song an, die rauchende Ladenbesitzerin im Hintergrund. Danach werden sich ihre Wege wieder trennen, Maeno alleine weiterziehen. Ähnliches wird sich wiederholen. Nach dem Lautenspieler mit einem Saxofonisten, später mit seiner gesamten Band, den David Bowies, auf die er am Ende im Park treffen, die Akustikgitarre kurz gegen eine E-Gitarre austauschen wird, ehe er, wiederum akustisch, mit dem Song „Tokyo Sky“ den Film melancholisch aber hoffnungsvoll ausklingen lassen wird. Die Kamera wird sich dort auch von ihm lösen, das Geschehen im Park aufzeichnen, den kleinen Jungen, der seiner Großmutter ausbüxt, Radfahrer, promenierende Pärchen. Der Tod ist nicht zwangsläufig das Ende, die Erde dreht sich weiterhin, das Leben geht weiter.

Ähnlich wie Maeno in seinen Songs Gedanken, Beobachtungen wie in einem Bewusstseinsstrom aneinanderreiht, registriert die Kamera das Geschehen um ihn herum, bleibt vieles dem Zufall überlassen, treten die Umgebungsgeräusche akustisch in den Vordergrund, werden wieder leiser. Gedreht wurde mit kleinem Team, nur an den Stationen, wo Maeno auf seine Mitmusiker trifft, kamen zusätzliche Mikrofone zum Einsatz. So wirkt das Ergebnis erfrischend unprätentiös, steht nicht aufdringlich das Wort KUNST in übergroßen Lettern an jeder Wand. Möglicherweise muss man auch an der Musik Maenos Gefallen finden, um sich mit ihr und der Kamera treiben zu lassen. Dem aber, dem dies gelingt, wird beides, Musik und Bilder, noch nach Ende des Films eine Weile beglückt mit sich tragen.

Im anschließenden Q&A mit Matsue und Maeno gab der Regisseur bereitwillig Auskunft über Hintergründe und Entstehung des Films und meinte, er habe sich im Grunde beim Dreh wie eine Art Zuschauer gefühlt, der sich im Vertrauen auf alle Beteiligten dem Geschehen eher ausgeliefert als dieses kontrolliert, es quasi „live“ verfolgt habe, in der Hoffnung, dass alles gut gehen werde. Zudem sei der Titel auch in dem Sinne zu verstehen, dass der eigentliche Film erst bei der Betrachtung, quasi „live“ im Kopf des Zuschauers entstehe. Live konnte man sich auch nach dem Film ein weiteres Mal von den musikalischen Qualitäten Kenta Maenos überzeugen, der ein kurzes aber intensives Konzert gab, nachdem er vorher im Q&A eher durch Stoizismus und ironisches Understatement geglänzt hatte.
Am Ende dann noch die Bitte, man möge doch im Anschluss eine seiner CDs kaufen, da er nicht wisse, wie lange er wegen des aktuellen Flugverbots noch hier in Deutschland ausharren müsse und er den unfreiwilligen Aufenthalt irgendwie ja finanzieren müsse. Sprach's, gab auf Wunsch des Publikums nochmals "Weather Forecast" zum Besten, wanderte dabei durch die Stuhlreihen - und verschwand.


Christian Moises


„Live Tape“
Japan 2009. Regie: Tetsuaki Matsue, Musik: Kenta Maeno.
Darsteller: Kenta Maeno, The David Bowies, Tsugumi Nagasawai.

Nippon 2010: “Oblivion Island: Haruka and the Magic Mirror” – Auf der anderen Seite

“Oblivion Island: Haruka and the Magic Mirror” / “Hottarake no shima - Haruka to maho no kagami”
Japan 2009, Regie: Sinsuke Sato


Jeder verlegt mal seine Sachen und jeder kennt die Wutausbrüche und den von solchen Situationen verursachten Stress. Doch wie oft passiert es, dass man etwas symbolisch Wertvolles verlegt, um daraufhin solche Zustände zu erleben? Genau darum geht es in „Oblivion Island“.

Eine Kindergeschichte erzählt von einem armen Bauer, der von seiner Großmutter einen Kamm als Erbe bekommen hat. Und diesen Kamm hat er irgendwann verlegt. So sehr litt er darunter, dass er täglich den Altar des Gottes Inaru besuchte und um seinen Kamm betete. Irgendwann brachte ein Fuchs dem Bauern seinen Kamm zurück. Doch, wie die Geschichte weitererzählt, sind es eigentlich diese Füchse, die alle Sachen, die die Menschen vergessen, einsammeln und ihrem Gott bringen. Dieses war eine der letzten Geschichten, die Haruka von ihrer sterbenden Mutter vorgelesen bekommen hat. Und genau wie dieser Bauer hatte Haruka von ihrer Mutter auch ein Geschenk bekommen, einen kleinen Spiegel.

Nicht nur ihre Mutter verliert Haruka, sondern, nach Jahren, auch diesen Spiegel. Doch eines Tages erinnert sie sich daran, und besucht, wie in der Geschichte, Inarus Schrein, um ihn, wenn nicht um die Mutter, dann mindestens um diesen für sie so wertvollen Spiegel zu bitten. Dort nickt sie ein kleines bisschen ein…

Von nun an landen wir in einer – zumindest auf die jüngste Vergangenheit zurückblickend – sehr erfrischenden und unterhaltsamen „Alice im Wunderland“-Geschichte. Denn die Kindergeschichte wird wahr, ein kleines fuchsähnliches Wesen wird von der eben aufgewachten Haruka ertappt, als es ihren Schlüsselbund einsammelt. Daraufhin verfolgt sie das Wesen, und nach einem kurzen Pfad steht sie vor dem Eingang zur anderen Welt.

Nun verlässt „Oblivion Island“ die Alice-Motivik und führt uns in eine asiatische mythische Welt ein. Es heißt, die Wesen in der anderen Welt könnten keine Gegenstände herstellen und müssen sie sich daher aus der Welt der Menschen nehmen, genau, wie Träume sich von der Realität nähren, genau wie Bilder, wie Film die Realität braucht, um zu existieren. Doch diese Welt wird von einem tyrannischen Baron regiert, der ständig in seinem mit Luftballons gefüllten Schiff über seinen Untertanen, den Kreaturen von Oblivion Island, schwebt. In dieser Welt muss Haruka ihren Spiegel suchen. Und das kommt sehr ungelegen, denn Spiegel sind auch mit einer symbolischen Bedeutung versehen: sie bewahren Erinnerungen, vor allem die von den Menschen vergessenen Erinnerungen auf, und sie besitzen die magische Kraft, Objekte beleben zu können. So entdecken Haruka und ihr neuer Freund Theo, das Wesen, das sie zu Oblivion Island geführt hat, den monumentalen Plan des Barons, mithilfe von 10.000 Spiegeln 1.000 Roboter zu animieren und mit ihnen als Armee die menschliche Welt all ihrer Sachen zu berauben.

Mit lockerem Humor und vor allem durch eine Aneinanderreihung von auf die Welt von Oblivion Island zurechtgeschnittenen Filmzitaten, in einer aus den diversesten und buntesten Gegenständen auf postmoderne Art zusammengebastelten Welt erreicht Regisseur Shinsuke Sato nicht nur alle Altersgruppen im Publikum, sondern auch den anspruchsvollen Zuschauer, der mehr von einem Film erwartet als Kriegsfilm- oder „Herr der Ringe“-Zitate, putzig mit Plüschtieren umgesetzt. Denn Oblivion Island ist gleichzeitig eine melodramatische Reflexion über Wertvorstellungen und Gefühle, aber auch, und nicht zuletzt, eine diskursive Parabel der Medienrealität und vor allem des Mediums Film.


Ciprian David


“Oblivion Island: Haruka and the Magic Mirror” / “Hottarake no shima - Haruka to maho no kagami”
Japan 2009
R: Sinsuke Sato.
D (Sprecher): Haruka Ayase, Miyuki Sawashiro, Naho Toda.
100 Min.

Nippon 2010: „Bare Essence of Life“ – Dünger fürs Leben

„Bare Essence of Life“ / „Urutora mirakuru rabu sutôrî“
Japan 2009, Regie: Satoko Yokohama


Nicht zum ersten Mal lässt sich ein Film von Satoko Yokohama bei Nippon Connection sehen. Ihr Debütfilm „Chiemi and Kokkunpatcho“ zog gerade durch das Frankfurter Festival die Aufmerksamkeit eines internationales Publikum auf sich. Mit „Bare Essence of Life“ flimmert nun das lange erwartete Kinodebüt der Regisseurin im Nippon Cinema Wettbewerb.

Ein Wecker, und noch ein Wecker, und noch ein Wecker … sie erinnern den jungen Bauer Yojin an das Vergehen der Zeit, der dann, nach dem Aufwachen, mit einem weißen Tuch bedeckt wie ein freier Vogel, wie ein spielendes Kind durch die Straßen seines Dorfes herumflattert. Denn Yojins Zeit vergeht anders und Evolution ist auch nicht seine Stärke. Selbst die Landarbeit führt er den Anweisungen seines verstorbenen Großvaters über einen Kassettenrecorder folgend durch, ohne dass die Aufnahmen ihm wirklich helfen, denn immer wieder entfalten sich in seiner wundersamem Fantasie neue, ablenkende Gedanken, denen er sofort nachgeht.

Er und seine Oma ziehen mit ihrem Wagen jeden Tag um 14 Uhr los durch das Dorf, um Gemüse zu verkaufen, die Oma am Steuer, Yojin, gewappnet mit einem Megaphon, auf der Ladefläche, so verdienen sie ihr Geld. Zur Belustigung der Zuschauer bezieht Yojin sein ganzes Universum in seine Aktivitäten immer mit ein, so dass ihr Gemüse mal besser ist als der Dorfarzt, oder mal zur Gelegenheit dienen soll, dass alle sich versammeln und Freunde werden.

Etwas zu impulsiv ist der vom japanischen Teenager-Schwarm Ken’ichi Matsuyama mit beeindruckender Leichtigkeit und Präzision gespielte Yojin. James-Dean-like rebelliert er bei jeder Gelegenheit, meistens aber nicht gegen die Polizei wie in „Denn sie wissen nicht was sie tun“, sondern gegen den Pestizidhändler. Dieser mag ihm ohne Geld nichts für die Besserung seines Kohlbeetes geben, damit es „evolviert“ und gutes Gemüse liefert, so wie die hellgrünen Felder die vom Helikopter aus mit Chemikalien bespritzten werden; was den Titel des Films lebendig bebildert.

„Bare Essence of Life“ ist ein großes Beispiel der stark an Bilder angelegten Erzählweise im japanischen Kino. Sehr gekonnt und doch mit ungeheurer Sanftheit mit Bildmetaphern arbeitend, schafft der Film eine romantische Poesie um Yojins Welt. Diese Welt wird bald Änderungen erfahren mit der Ankunft einer Fremden: Eine junge Frau, deren erste Anlaufstelle das Haus der Psychoanalytikerin in Yojins Dorf ist. Die junge Frau trauert, ihr Freund wurde bei einem Autounfall getötet. Noch schlimmer, er war dabei mit einer anderen Frau zusammen. Und dazu noch, als Auftakt in die surreale Welt, die sich dem Zuschauer entfalten wird, ging sein Kopf während des Unfalls verloren. Machicko, die Tokyo und ihre Trauer gegen das kleine Dorf zu tauschen versucht, ist die neue Kindergärtnerin. In der magischen Welt des Dorfes verhalten sich aber die Kinder wie Erwachsene bis hin zum Verschwinden der Grenze zwischen Kindern und Erwachsenen: Mädchen reden wie alte Läster-Tanten. Yojin liegt natürlich genau dazwischen. Und als Gemüseverkäufer kommt er in Kontakt mit der jungen, von Komiko Asô gespielten Kindergärtnerin, wodurch sich ihm und ihr eine neue Welt aufmacht.

Diese Welt betritt sie zunächst skeptisch, vor allem, weil der aufdringliche Yojin sich auf der Stelle für verliebt erklärt und seine Heiratspläne offenbart. Zunächst bleibt es beim gemeinsamen Nachhauseweg; doch wird die zwischen den beiden aufkeimende Romanze schon bei der ersten Begegnung meisterhaft inszeniert: Während Machiko Yojins Oma beim Rückwärtsfahren hilft, wiederholt dieser ihre Befehle durch sein Megaphon, wie eine Spiegelung, die auf die gegenseitige Hilfe, die sich die beiden auf emotionaler Ebene geben werden, verweist. Sie, die Kindergärtnerin, die selbst traumatisiert ist, wird beginnen, ihn zu begleiten; sie wird, in der Symbolsprache des Films, für ihn Dünger sein, der die Entwicklung fördert, und Pestizid, das die Flausen aus seinem Kopf vertreibt.

Yojin sieht sich als ein Teil der Natur. Seine Arbeit im Gemüsebeet ist ein Kampf mit gleichgestellten Gegnern, ob diese Raupen oder Kohlköpfe sind. So lässt er sich einmal als Spiel zwischen den Kohlköpfen im Gemüsebeet begraben. Er ist ein Beobachter der Welt um sich herum, aber nicht nur das: wie wir alle, interpretiert er sie. Und seine Gedanken lassen ihn auf die Idee kommen, dass Machiko ihn mehr mag, wenn er sich mit Pestiziden duscht, um, wie sie sagt, sich wie alles andere zu entwickeln. Mit diesen Pestizid-Duschen wird Yojin immer apathischer, seine Impulsivität strahlt er immer seltener aus, er wirkt immer ernster, sein Lebensrhythmus verlangsamt sich, bis hin zum transzendentalen Moment des Treffens mit Machikos verstorbenen Exfreund, der wortwörtlich kopflos durch die Landschaft umherirrt und ihm Hilfe bei der Eroberung von Machickos Herz verspricht. Yojin bekommt sogar die Schuhe des Verstorbenen, in denen er herumläuft bis sein Leben komplett verschwindet und sein Herz zu schlagen aufhört.

Doch kurz danach geschieht das Wunder: Yojin ist auferstanden, er ist putzmunter und hat Machikos Herz erobert. Bloß auf Essen empfindet er keinen Appetit mehr. So vergehen mehrere glückliche Tage zwischen den beiden, dem Menschen, dessen Herz nicht mehr schlägt und der doch am Leben ist, und der Frau, die ihre Trauer in Liebe verwandelt hat, bis eines Tages, während eines euphorischen Ausbruchs Yojins bei einem Spaziergang im Wald, er für einen Bär gehalten und von einem Jäger erschossen wird. Seine Todesfeier wird durch die anwesenden Kinder zur sprudelnden Darstellung des Lebens, sein Gehirn vermacht er Machiko, die ihn der Natur wiedergibt.

Eine poesiegeladene Tragikomödie ist Yokohamas Film. Durch die natürliche Abwechslung von Komik und Romantik, aber vor allem durch die metaphorischen Motiven, die überall in den Bildern zu erkennen sind, und nicht zuletzt durch ein exzellentes Schauspiel Ken’ichi Matsuyamas wird „Bare Essence of Life“ ein hervorragendes Beispiel für die Aussagekraft von bewegten Bildern. Der Mensch wurde selten so explizit und zugleich unterhaltsam als Teil der Natur im Film inszeniert.


Ciprian David

„Bare Essence of Life“ / „Urutora mirakuru rabu sutôrî“
Japan 2009
R: Satoko Yokohama
D: Ken'ichi Matsuyama, Kumiko Asô
120 Min.

Nippon 2010: „Oh, My Buddha!“ - Der Charme der 70er und das Problem, keine Probleme zu haben

„Oh, My Buddha!“, Japan 2008. Regie: Tomorowo Taguchi


Ein Mädchen liegt im Sterben, immer wieder stoppt ihr Herz, immer wieder kehrt sie zurück ins Reich der Lebenden, sobald ihr Name gerufen wird. Natürlich ist es ihr Wille, der sie am Leben hält - sie wartet auf ihren Freund Jun, der schließlich kommt und ein kitschiges Liebeslied auf seiner Gitarre spielt, sodass sie getrost sterben kann. Bereits die Eingangsszene von „Oh my Buddha“ etabliert die meisten der wichtigen Themen des Films, auch wenn der Film sich in eine ganz andere Richtung bewegen wird.

Natürlich ist die drastisch kitschige Eingangsszene nur ein Tagtraum der Hauptfigur Jun - der hat nämlich eben keine Freundin, erst recht keine, die ihn herbeisehnt, und er leidet darunter, kein Unglück zu haben. Elend gibt Musikern etwas, worüber sie singen können, sinniert er, was also sollte man tun, wenn man ein glückliches Kind zweier offenbar glücklicher Mittelstand-Eltern ist?

Ganz problemfrei ist sein Leben natürlich nicht, denn neben dem Keine-Freundin-Haben hat Jun auch Probleme mit den „Jocks“ an seiner Schule, die mit „Humanities“ wie ihm nichts zu tun haben wollen und ihn bei jeder Gelegenheit verprügeln. Einen Ausweg aus dem trüben Alltag scheint die Hippie-Kultur zu bieten – wir befinden uns im Japan der 1970er. Der Nachhilfelehrer döst lieber auf Juns Bett und klärt ihn über Kondome auf, als über Mathe zu sprechen - und Juns Schulfreunde haben die Idee, zu einer Insel zu fahren, auf der es angeblich „free sex“ gibt - „wie in Schweden“!

Der Regisseur Tomorowo Taguchi ist international bekannt als Schauspieler (u.a. „Tetsuo“) und hat mit „Oh, My Buddha!“ seinen zweiten Spielfilm vorlegt. Er verfilmt den autobiographischen Roman eines Freundes und porträtiert damit sowohl die Zeit seiner eigenen Jugend als auch den Mittelstand, von dem er sagt, er werde viel zu selten in Filmen gezeigt - weil der Mittelstand zu wenig Probleme hat und darum im Film schnell langweilig wirken kann.

„Oh, My Buddha!“ ist allerdings so beschwingt, so energiereich gespielt und pointiert erzählt, dass er keine Sekunde langweilt. In gewisser Weise bietet der Film alles, was „8000 Miles“ bieten wollte, wobei hier allerdings mit sehr viel mehr Raffinesse gearbeitet wurde. Der Film lässt genug Luft, um das gut gebaute dramaturgische Gerüst mit reichlich Leben zu umhüllen. Jede Figur hat ihre eigenen kleinen Momente und wird von den Schauspielern und der Regie liebevoll ausgestaltet. Der Musik werden ganze Szenen zugestanden, was völlig angemessen ist, da der Wandel vom frühen „softeren“ Bob Dylan zum veritablen Rock eins der großen Themen des Films darstellt.

Für ein westliches Publikum ist dabei wahrscheinlich besonders spannend, zu beobachten, wie sich die 70er - mit allem was dazugehört - in Japan geäußert haben. Bob Dylan wird diskutiert, von freier Liebe geschwärmt und gesungen; gleichzeitig schlägt aber bei jeder Gelegenheit die anerzogene Scheu wieder durch. Als ein Mädchen Juns Arm umfasst, schreckt er zurück: „Die Leute schauen alle!“

„Oh, My Buddha!“ ist eine Komödie, ein Musik-, Coming-of-Age- und Liebes-Film, der gekonnt seine Effekte erzielt und es gleichzeitig schafft, persönlich zu wirken. Tomorowo Taguchi hat bereits angekündigt, dass er weiter als Regisseur arbeiten will, auch wenn der Job mit sich bringt, dass man nie zum Essen komme. Man darf gespannt sein, in welche Richtung er sich weiterbewegt.


Martin Urschel


„Oh, My Buddha!“, Japan 2008.
Regie: Tomorowo Taguchi. Drehbuch: Kosuke Mukai nach einem Roman von Jun Miura. Musik: Yoshihide Otomo.
Darsteller: Daichi Watanabe, Kazunobu Mineta, Shigeru Kishida, Chiemi Hori, Lily Franky
Länge: 114 Min.
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