Fritz Langs „Nibelungen“-Filme – Deutsche Oper Berlin, 27. April 2010

„Die Nibelungen“, Deutschland 1924
Regie: Fritz Lang.


Soviel Glamour wie bei der Uraufführung der neuesten „Metropolis“-Version im Februar war diesmal nicht. Keine doppelte Premiere in Berlin und Frankfurt, kein gleichzeitiges Public Viewing am Brandenburger Tor – obwohl das Wetter für Freiluftkino sicherlich besser gewesen wäre als im bitterkalten Winter –, auch keine gleichzeitige Ausstrahlung auf arte, nicht einmal glanzvolle Prominenz – lediglich zwei MdBs wurden namentlich begrüßt. Nein: Fritz Langs „Nibelungen“-Filme haben nicht den großen Namen, ziehen nicht den großen Film-Mythos nach sich wie der nachfolgende Super-SciFi-Klassiker (wiewohl sie umso tiefer im urdeutschen Mythos wühlen). Festlich war sie aber doch, die Gala in der Deutschen Oper am 27. April, wo der zweiteilige Film von 1924 – „Siegfried“ und „Kriemhilds Rache“ – wieder-uraufgeführt wurde, begleitet vom hr-Sinfonieorchester unter der Leitung von Frank Strobel.

Die Friedrich Wilhelm Murnau-Stiftung Wiesbaden brachte damit innerhalb weniger Wochen ein zweites großes Restaurierungsprojekt über die Bühne; schon seit 2005 saß Anke Wilkening an den „Nibelungen“-Filmen, organisierte eine weltweite Suche nach Kopien, sichtete Material, koordinierte Restaurierung und Rekonstruktion von Film wie von Musik; unterbrochen durch den Überraschungsfund fehlender „Metropolis“-Szenen im Jahr 2008. Durch das dadurch notwendige parallele Arbeiten an beiden Fritz-Lang-Großfilmen wurde die Sache nicht einfacher...

Lang hat einen zweiteiligen Film der Superlative geschaffen, einen der teuersten der Stummfilmzeit, mit innovativen und für damalige Verhältnisse erstaunlichen Special Effects – inklusive mächtiger Bauten, einem eigens geschaffenen Wald, einem Drachen, der es von der Wirkung her locker mit den Monstern aus „King Kong“ knapp zehn Jahre später aufnehmen kann.
Bereits für die Fritz Lang-Retrospektive der Berlinale 2001 waren die beiden „Nibelungen“-Filme aufgefrischt worden, nun sind sie wirklich runderneuert – dass die Filme nach wie vor ein paar Flecken, Laufstreifen und mitunter wackligen Bildstand aufweisen, ist wohl der Materiallage geschuldet. Noch immer fehlen zwei Szenen aus „Kriemhilds Rache“, die die Ufa damals schon, nach der Premiere 1924, herausgeschnitten hatte. Dafür wurde jetzt eine kurze Einstellung in einer Rolle mit Outtakes wiedergefunden: Kriemhild bricht nun am Ende nach Vollzug ihrer Rache nicht mehr einfach zusammen, sie wird von Waffenmeister Hildebrand hinterrücks mit dem Schwert erstochen.

Insofern ist die jetzige Version die ultimative – im originalen Orange viragiert, versehen mit der ebenfalls rekonstruierten originalen Orchestermusik von Gottfried Huppertz, die mit motivischen Melodiebögen die Handlung begleitet und vertiefend kommentiert – Frank Strobel war auch schon bei der „Metropolis“-Restaurierung beteiligt und auch nun verantwortlich für Musikarrangement und Orchestrierung. Klare Linien durch klare motivische Orientierung – das findet sich auch in den Zwischentiteln, wo den Personen bestimmte Symbole zugeordnet sind: Zu Siegfried der Adler, zu Kriemhild das Einhorn, zu Hagen der Wolf, zu Etzel das Pferd usw.

Siegfried will haben

Klare Ordnung, statische Ästhetik, ornamentale Figurenanordnungen bestimmen den ersten Film „Siegfried“; der allerdings dementsprechend die ersten drei, vier Akte lang recht langweilig ist. Bildhafte Tableaus, so schön sie auch sind, sind nicht abendfüllend; und wenn der Film eine Stunde lang mehr oder weniger nur Siegfrieds Heldentaten besingt, zieht sich das. „Sag mir den Weg nach Worms, sonst bist du deines Lebens quitt“ – die pathostriefenden, schon geradezu schwülstigen Zwischentitel entsprechen den Taten von Siegfried, der sich in Heldenposen gefällt und auch sonst immer gut drauf ist. Mit nacktem Oberkörper schmiedet er ein Schwert, das eine Feder zu teilen vermag, wirft sich in Positur, die blonde Haarpracht stellt sich kühn vom Hinterkopf ab, er ist starker Mann und Haudrauf: Held, Recke, Drachentöter wird er penetrant von den anderen genannt, er soll auf jeden Fall die heroische Identifikationsfigur sein. Und fällt dabei doch durch.

Denn „Die Nibelungen“ erzählen, wo sie im Vordergrund nur eine erbauliche Heldensage „dem deutschen Volke zugeeignet“ bebildern, stets mindestens eine weitere, andere Geschichte mit – wobei immer unklar bleibt, wie gewollt diese Doppel- und Dreifachcodierung der Handlung eigentlich ist. Siegfried soll einerseits der reine, pure Held sein – und folgt andererseits einer – heute höchst irritierend wirkenden – Ethik des Habenwollens, und zwar um jeden Preis. Er erpresst die Auskunft über den Weg nach Worms, weil er von Kriemhild gehört hat und sie sich zum Weibe nehmen will; nimmt Schwert und Schimmel, reitet durch den Wald, in 100 Meter Entfernung trinkt friedlich ein Drache an einem Bach, er rennt hin, haut den Drachen – sicherlich vom Aussterben bedroht! – tot; holt sich dann nonchalant beim Nibelungenzwerg, bevor er ihn umbringt, den Schatz und das Wunderschwert Balmung – obwohl er schon eines hat, obwohl er Balmung in beiden Filmen nie wieder benutzen wird.

Habgier, Besitzergreifen, Rücksichtslosigkeit spielen bei „Siegfried“ im Untergrund mit. Ist das eine bewusste Fritz-Lang-Interpretation des Helden? Oder rutscht es ihm nur einfach so durch? Die unfreiwillige Ambivalenz gerinnt manchmal zur unfreiwilligen Komik, etwa wenn der Film fast schon selbstreferentiell den Wormser Thronsaal zeigt, wo sich die Königsfamilie sichtlich langweilt: König Gunther klopft seine Finger nervös auf die Armlehne des Throns, Kriemhild stickt, Volker singt ein Liedchen, der grimme Hagen stiert vor sich hin.

Ja: Interessant wird „Siegfried“ erst, wenn der Titelheld nicht mehr der Macher ist, sondern am Hofe von Worms in Intrigen versponnen wird, die er nicht überblickt. Wenn er, der Naive, in Lügen, Gerüchte und Meineide hineinrutscht, wenn ihm in Hagen der überlegene Gegner heranwächst. Hagen, das wird mehr und mehr klar, ist der Antagonist und gleichzeitig Siegfried gleich: Auch er will vieles haben, er ist dem Willen zur Macht erlegen, wer ihm im Weg steht, bekommt einen Speer in den Rücken. Hier liegt der Knoten, der den zweiten Teil, „Kriemhilds Rache“, packend und intensiv, aber auch aufwühlend und schwer verdaulich macht.

Die deutsche Seele

Gunther hatte Siegfried Treue geschworen; Brunhild, die er nur mit Siegfrieds Heldenkraft hat bezwingen und zum Weibe machen können, verlangt vom König, Siegfried zu töten, um ihre Ehre zu retten; Hagen hat einen Plan, tötet – mit unwissentlicher Hilfe von Siegfrieds Angetrauter Kriemhild – den Helden; und Gunther schwört Hagen Treue, schützt den Mörder, umso störrischer, da er zuvor den Schwur gegenüber Siegfried schmählich gebrochen hat. Nun wiederum schwört Kriemhild Rache, sie will den Mörder ihres geliebten Mannes bestraft sehen – das ist die Lage am Ende von „Siegfried“. „Kriemhilds Rache“ erzählt nur von der obsessiven Leidenschaft der Destruktion, davon, wie das unentwirrbare Gemengelage von Schwüren und absoluter Ehrauffassung am Ende alle töten wird.

Kriemhild lässt sich auf eine Ehe mit dem Hunnen Etzel ein, bindet ihn mit einem weiteren Schwur an sich – wer sie kränkt, den soll er töten. Zur Geburt ihres Sohnes – obwohl ihr Herz nur an Siegfried hängt, ist die Ehe offenbar nicht ganz unglücklich – lädt sie also ihre Verwandten ein, verlangt vom Ehemann, diese niederzumetzeln, was dieser verweigert, scheucht dann die Hunnenkämpfer auf, provoziert die Wormser, bis Hagen, Hitzkopf der er ist, Etzels und Kriemhilds Sohn erschlägt. Jetzt gibt es kein halten mehr: mindestens eine dreiviertel Stunde lang wird nun gekämpft, getötet und gestorben, was das Zeug hält. Und auch hier wieder zwei Ebenen: Einerseits die Rachsucht von Kriemhild, der sie alles opfert, die Familie, sich selbst, auch gänzlich Unbeteiligte, ein Hass, der angesichts der tödlichen Intrige des ersten Films durchaus verständlich ist: eine Ausgestaltung des faszinierenden Kinotopos der Vergeltung in einer Ausführlichkeit, die in der Filmgeschichte kaum übertroffen wird. Und andererseits der mythisch-germanische Sumpf, in dem der Film watet, eine Verherrlichung von Ehre und Schwur, von Treue und Tod, die den Film tatsächlich – Kracauer lässt grüßen – zur protofaschistischen Erzählung werden lässt. Weniger wegen der Bildkompositionen, die den ersten Teil beherrschen, die Menschen zu rein ornamentalen Ausstattungsstücken degradiert. Eher schon wegen der Verabsolutierung der eigenen Weltanschauung ohne Rücksicht auf Verluste. Hier wandelt der Film tatsächlich auf dem Urgrund nationalsozialistischer Mythen, wovon die Filmemacher freilich noch nichts ahnen konnten. „Die Nibelungen“ sind vor allem auch ein Rückgriff auf nationalpolitische Grundsätze, die zur Katastrophe des Ersten Weltkriegs führten – und zwar ganz distanzlos und durchaus affirmativ.

„Nibelungentreue“: Das steht für das bedingungslose Bündnis des deutschen Kaiserreichs zu Österreich-Ungarn im Vorfeld des Ersten Weltkriegs, und statt nach Millionen Toten nun diesen Begriff kritisch zu behandeln, schwelgen Lang und seine Drehbuchautorin Thea von Harbou darin. Blenden dabei nicht aus, dass Nibelungentreue letztendlich zum Untergang, zum Triumph des Todes führt – nein, sie zeigen diesen Untergang, zeigen ihn aber als unausweichlich, als schicksalhaften Zwang; hinterfragen nur einmal in einem Zwischentitel die Unnachgiebigkeit der hasserfüllt miteinander Kämpfenden, um prompt antworten zu lassen: „Du kennst eben die deutsche Seele nicht.“ Wo es ums große Ganze geht, sprich: um Ehre und Treue, da dürfen auch mal Millionen in den Schützengräben verrecken.

Insofern erklärt sich, warum die „Nibelungen“ zu den erfolgreichsten Filmen der 1920er Jahre zählen, und zwar nicht nur in Deutschland, auch international: Denn jeder hatte eine Sinnfindung nach dem sinnlos erscheinenden Krieg nötig, und warum nicht die Fatalität des Schicksals nehmen, wenn damit wenigstens die Heldenhaftigkeit der Kämpfer gewahrt bleibt? Insofern erklärt sich aber auch, warum die Nibelungen heute nicht mehr so richtig vom Hocker reißen: Zur altbackenen Moral von der Geschicht’ kommen noch Darstellungen dazu, die dem Betrachter sauer aufstoßen können. Dass Alberich im „Siegfried“-Film ein jüdisches Erscheinungsbild zu haben scheint, ist vielleicht der spezifischen Post-Holocaust-Wahrnehmung des heutigen Zuschauers geschuldet. Die Hunnen aber sind direkt als Tiere gezeichnet, als kulturlose Kämpfer im Gegensatz zu den hochzivilisierten Wormsern, den Deutschen mit dem Identifikationspotential: Das Fremde ist das Andere, das potentiell gefährlich werden kann.

Und auch hier wieder die doppelte Bedeutungs- und Deutungsebene: Denn die einzige wahrhaft tragische Gestalt der Filme ist Etzel, der kriegerische Hunnenkönig, der Kriemhild und seinen Sohn so sehr liebt und der dann mit ansehen muss, wie alles den Bach runter geht. Der gar nicht recht begreifen kann, wie es zu dieser unermesslichen Metzelei am Ende kommt.

Auch einen noch weiteren Bogen kann man spannen. Quentin Tarantino, der Verwandler von alter Filmgeschichte in neue Filmgeschichte, ist sicher begeistert von Langs „Nibelungen“, von der gewaltigen Rache einer einzelnen Frau, die erbarmungslos alles opfert, was ihr je lieb und teuer war. Die heldischen Posen, die ideologischen Stolperer, die bildgewaltigen Tableaus haben den trashigen Camp-Charme, den Tarantino liebt; und sicherlich ist seine „Inglourious Basterds“-Version des Untergangs der Nazi-Elite in der Feuersbrunst eine Referenz an den Untergang der Nibelungen im brennenden Hunnenpalast. Gleich zu Anfang des „Siegfried“-Filmes die Feder, die auf die Schneide eines Schwertes herabsegelt und dabei entzweigeschnitten wird: Ist das nicht purer „Kill Bill“?

Harald Mühlbeyer


„Die Nibelungen“, Deutschland 1924
1. Teil: „Siegfried“ – 2. Teil: „Kriemhilds Rache“
Regie: Fritz Lang. Drehbuch: Thea von Harbou. Kamera: Karl Hoffmann, Günther Rittau. Musik: Gottfried Huppertz, restauriert von Frank Strobel. Produktion: Erich Pommer.
Darsteller: Paul Richter (Siegfried), Margarethe Schön (Kriemhild), Hanna Ralph (Brunhild), Hans Adalbert Schlettow (Hagen), Theodor Loos (König Gunther), Rudolf Klein-Rogge (Etzel).
Länge: 147 und 117 Minuten
Restauriert von der Friedrich-Wilhelm-Murnau-Stiftung, Wiesbaden.


Filmbilder- Credit: Friedrich-Wilhelm-Murnau-Stiftung

Premierenfoto-Credit: Friedrich-Wilhelm-Murnau-Stiftung / Thomas Rafalzyk