Filmfest München 2010 – Filmische Anklagen

Filme können die Welt nicht verändern, aber sie können Anklage erheben. Mit der kleinen Einschränkung, dass man mit Vorwerfen und Anprangern von Missständen, auch wenn man es in unterhaltsame Form packt, ohnehin nur die eigene Klientel erreicht; und damit offene Türen einrennt, zumindest bei Vorführungen im Ausland. Denn natürlich wissen wir, die wir als mündige Bürger brav die Zeitung lesen, von Berlusconis Medienmacht, seiner Quasidiktatur, seinen Ausrutschern, Selbstbeweihräucherungen und geschmeidigen Wiederauferstehungen. Sabina Guzzanti fasst das alles noch mal prägnant zusammen in „Draquila – L’Italie che trema“, anhand des schrecklichen Erdbebens von Aquila im April 2009, das Berlusconi gleich zu heftigsten Propagandazwecken ausschlachtete. Guzzanti betreibt die Gegenpropaganda, und das ist ja auf jeden Fall gut und richtig. Korruption, Bürgerrechtsbeschneidungen, Prostitutionsaffären, Medienmacht: das, was in Italien unter Berlusconi schiefläuft, beschreibt sie mit besonderem Blick auf die Evakuierten von Aquila, die teils in Hotels, teils in Zeltlagern untergebracht wurden, denen viele schöne neue Wohnungen versprochen wurden, die aber nicht für alle rechtzeitig vor dem Winter fertig waren, der Zivilschutz scheint sich zu einem Staat im Staate ausgewachsen zu haben, der unter diversen Notfallverordnungen Gesetze außer Kraft setzen kann, Vorschriften umgehen und Rechte beschneiden; Mafia natürlich auch dabei, und Desinformation der Bürger, denen vor dem Erdbeben gegen besseres Wissen Sicherheit vorgegaukelt wurde.

Das erzählt sie mit frischem Ton und mit vollem Einsatz der Macht der Bilder – im Grunde die Mittel, die auch Berlusconi einsetzt, wenn er Witzchen reißt und ca. 100 Mal im Erdbebengebiet Opfer umarmt. Suggestion auf beiden Seiten also, und die nicht gestellte Frage lautet, ob diese Mittel die richtigen sind, wenn man gegen die Propagandamacht Berlusconis antreten möchte. Bei der Aufführung in Cannes immerhin gab es diplomatische Verwicklungen, offizielle Proteste der italienischen Regierung – aber es bleibt etwas problematisch: Guzzanti sagt einwandfrei die Wahrheit über Italiens Zustand – aber das mit den Mitteln der Lüge, mit suggestiven Interviews, , mit Personalisierungen, Vermutungen, Herstellung von Zusammenhängen – das sind die Mittel, die per se der Manipulation verdächtig sind, und daher auf den kritischen Geist (wie mich) zweifelhaft wirken.

Mit einem viel wichtigeren Thema beschäftigt sich Alexandre O. Philippe, eines, das die gesamte Menschheit angeht: „The People vs. George Lucas“ handelt von der Enttäuschung der Fans wegen George Lucas’ Erweiterungen und Fortschreibungen des Star Wars-Kosmos – Filme, die Sinn stifteten, die Inspiration kreierten, an denen sich Millionen von Jugendlichen aufrichteten – und die ihrem Gott nun Verrat vorwerfen, ja: Vergewaltigung ihrer Kindheit. Womit sie ja Recht haben. Lucas hat halt im Grunde schon in der „Rückkehr der Jediritter“ ziemlichen Endorschmonzes fabriziert; aber andererseits, und das macht Philippes Doku wertvoll und klug: die Fans haben ihn ja auch dazu getrieben, mehr und mehr „Star Wars“ zu produzieren, er kam ja gar nicht mehr raus.

Eine Menge Interviews hat er geführt mit allen möglichen Fans und Sammlern, die ihre „Star Wars“-Erweckungserlebnisse erzählen, ihre Gefühle zwischen Liebe und Hass, und dazu immer wieder, das ist wirklich bemerkenswert, Ausschnitte aus gefühlten tausenden von Fanfilmen, Animationen, nachgespielten Filmen: Kreativität, generiert durch George Lucas’ Filmen – und gedreht vorwiegend mit dem Merchandisingmaterial, das er gleich mitlieferte. Was dazu führt, dass ihm viele jetzt vorwerfen, milliardenschwerer Unternehmer zu sein, kein Künstler mehr – was er ja durch sie geworden ist. Und was weiter dazu führt, dass die enttäuschten Fans aus den miesen Episoden 1 bis 3 neue Filme schnitten, die besser sind; aus denen beispielsweise Jar Jar Bings verschwindet.

Es ist also eben kein polemischer Film, sondern ein Film, der „Star Wars“ als soziales, kulturelles, psychologisches Phänomen untersucht, obwohl er nur die eine Seite, die der Fans, zu Wort kommen lässt. Wie bemerkt einer der Interviewten: „Wir haben von ihm neue „Star Wars“-Filme gefordert, und das hat er geliefert. Wir haben ja nicht nach guten Filme verlangt.“

Harald Mühlbeyer