Buchkritik: „Improvisieren. Paradoxien des Unvorhersehbaren“, hrgs. von Hans-Friedrich Bormann, Gabriele Brandtstetter, Annemarie Matzke.

Hans-Friedrich Bormann, Gabriele Brandtstetter, Annemarie Matzke (Hrsg.): Improvisieren. Paradoxien des Unvorhersehbaren. Kunst – Medien – Praxis. tanscript-Verlag, Bielefeld 2010. 238 Seiten, 26, 80 Euro.


Eigentlich hat dieser Essayband übers Improvisieren gar nichts mit Film zu tun. Dabei gäbe es auch über dieses Feld etwas zu schreiben: Wie Buster Keaton zum Beispiel mit seinen Autoren seine Gags konzipierte, nannte er gerne Improvisation – wobei allerdings eher ein Brainstorming gemeint sein dürfte als tatsächliches Stegreifspiel direkt am Drehort, das wäre bei den vielen technischen Tüfteleien und schwierigen Stunts allzu fahrlässig gewesen. Oder wie ein Regisseur den Probleme begegnet, die ein Dreh immer mit sich bringt, und wie er schnell und geschickt aus dem Nichts weitreichende Entscheidungen zu treffen hat: wenn am Ende einer langem Produktionszeit die Schauspieler für Ton-Synchronaufnahmen nicht mehr zur Verfügung stehen, muss ein Orson Welles eben gleich elf Charaktere sprechen; und wenn einem Pferde fehlen, werden sie durch Kokosnüsse ersetzt. Und die Filme von Helge Schneider wirken ohnehin dilettantisch hingerotzt, am Set improvisiert – und entfalten genau deshalb ihre grotesk-komische Wirkung.

Im von Hans-Friedrich Bormann, Gabriele Brandstätter und Annemarie Matzke herausgegebenen Band Improvisieren werden dafür allerhand andere Bereiche der Kunst in Hinsicht auf die Improvisation behandelt – etwa was Theaterschauspiel oder Tanzperformances angeht – was sozusagen auf der Hand liegt. Da kommen die Autoren dann anhand verschiedener Kunstrichtungen aus der Beschreibung von Improvisationspraxis zur Theorie, vergleichen verschiedene Konzepte, oder unternehmen Versuche, das Stegreifspiel auf verschiedene Weise zu definieren. Das geschieht beispielsweise in Bezug auf Grenzziehungen der Konvention, die in der Improvisation lustvoll überschritten werden, durch die Frage also, inwiefern Regeln wichtig sind, um sie zu brechen, und inwieweit die Improvisation dann wiederum den ihr eigenen Regeln gehorcht, die dann vielleicht in der Reaktion des Mitspielers wiederum gebrochen werden – das wird dann, völlig zurecht und mit immer neuen Aspekten, in anderen Essays mit verschiedenen Darstellungskünsten durchdekliniert.

Aber auch abgelegenere Gebiete werden erkundet, und da wird es dann wirklich interessant, denn da bietet der Band Neues, Unvermutetes, Überraschendes. Etwa eine philosophische Betrachtung von Georg W. Bertram über Improvisation und Normativität, in der es um die Bewertung von Improvisationen geht, um die Urteilskraft, die man dem Neuen, Unerwarteten, nie Gesehenen gegenüber aufbringen kann – das Improvisieren setzt sich ja per se über das Hergebrachte, damit über die herkömmlichen Bezugspunkte von Bewertungsmaßstäben hinweg. Wittgenstein und Hegel, Emmanuel Lévinas und das hypothetische Beispiel einer Jazzkombo spielen bei diesen Überlegungen eine Rolle.

Markus Krajewski nimmt sich „Dinner For One“ vor – das Stück, das zuverlässig alljährlich keinerlei Überraschung mehr bietet. Es geht dabei gar nicht um die Aufführung des kleinen Sketches – obwohl natürlich sozusagen stück- und aufführungsgeschichtlich gefragt werden könnte, wie sich die Gags, das Timing, die Darstellung verändert, vielleicht verbessert haben, bis „Dinner For One“ dann durch die Aufzeichnung in TV-Urgestein gemeiselt wurde. Nein: Krajewski nimmt sich das Konzept des Butlers vor, bietet eine kurze Historie des Berufes – auch in Abgleich mit dem Berufsbild des Kammerdieners –, um dadurch in den Improvisationen innerhalb seiner routinierten Handlungen kleine Fluchten aus dem Alltag zu entdecken.

Kai van Eikels geht hinein in die Wirtschaft, in die Theorie der Produktivitätssteigerung im Postfordismus – im modernen Arbeitsleben also, wo sich, zumindest in der Theorie, für den Beschäftigten die Arbeit verbinden soll mit der Lust am Spiel, mit der Improvisation also, die produktiven Wert erzeugen soll: Durch eigenverantwortliches Trial and Error, durch kollektive Zusammenarbeit an Problemstellungen, zu denen möglichst viele möglichst kreative Lösungen erdenken sollen, um dann gemeinsam aus dem großen Pool der Ideen Details neu zu kombinieren, um etwas Neues, Größeres, Besseres zu erschaffen.

Theaterhistorisches, Literaturwissenschaftliches, Aufführungspraktisches, Philosophisches, Literarisches, Tanztheoretisches, Wirtschaftswissenschaftliches: Mit größter thematischer Bandbreite widmet sich das Buch seinem Thema. Und es ist zwar mit vielen akademischen Fremdvokabeln gespickt, es enthält auch keinen Anwendungsteil für die improvisatorische Betätigung (wie es der Untertitel „Kunst – Medien – Praxis“ suggerieren könnte), für die theoretische Beschäftigung aber ist der Band durchweg wertvoll – gerade weil er unvorhergesehene Einblicke ins weite Spektrum der Erzeugung von und der Arbeit mit Unvorhergesehenem bietet.


Harald Mühlbeyer