Hofer Filmtage: Krimskrams; nicht der Rede wert

Michael Pfeifers "Todespolka";
Sophie Heldmans "Satte Farben vor Schwarz"


Das Programm der diesjährigen Filmtage reißt nicht vom Hocker. Ja: "Black Swan" ist ein Meisterwerk, über das ich wegen Überwältigung nur Gestammel herausbringe; und Mike Leighs "Another Year" ist ein großartiger, beglückender Film, ein Blick auf das Leben eines glücklichen, alten Ehepaares im Lauf eines Jahres - ein bisschen wie "Happy-Go-Lucky" im Seniorenmilieu. Großes Kino, dem aber einige Filme entgegenstehen, die nicht einmal mehr Durchschnitt sind.

Krassestes Beispiel: Die österreichische Politsatire "Todespolka" von Michael Pfeifenberger. Die rechtspopulistische, neofaschistische Bürgerpartei hat in Österreich die absolute Mehrheit gewonnen, stellt mit Sieglinde Führer eine Kanzlerin, die durchgreift: Austritt aus der EU, Wiedereinführung des Schilling, Todesstrafe, Straflager. Innere Sicherheit ist ihr Programm, und das ist vielleicht das einzige im Film, was ansatzweise gut ist: dass sie stets, wenn sie im Fernsehen oder in den Nachrichten zu sehen oder zu hören ist, diese höchst überschaubare Agenda wiederholt; kennen wir nicht ähnliches bei "normalen" Politikern und einem "normalen" Programm? Immer das gleiche sagen, bis jeder es glaubt: das hätte ein Haken sein können, an dem eine wirkliche bissige Satire aufgehängt hätte werden können.

Stattdessen beschränkt sich Pfeifenberger, sichtlich aus der Not eines dürftigen Budgets geboren, auf ein paar Vororthäuser, wo die ganz normalen Menschen leben. Wobei die Häuser ganz offensichtlich nur ein Haus waren, filmisch gedoppelt und mit verschiedenen Darstellern und Hausnummern bestückt. Man sollte auch nicht glauben, dass irgendjemand Wert auf Casting gelegt habe, die Darsteller wurden offenbar willkürlich ihren Rollen zugeteilt. Die Rollen sind im übrigen nicht funktional durchdacht, sondern völlig austauschbar und willkürlich zusammengeschustert. Wie ja auch die Handlung sich nicht durch innere Logik und Kausalität auszeichnet, sondern unmotiviert und unzusammenhängend sich einfach irgendwie ergibt.

Man hätte jedenfalls etwas machen können aus dem Ansatz; limitiert sich aber ohne Not selbst, um lediglich kleinbürgerliche Vorurteile, alltäglichen Rassismus, Stammtischgerede zu proträtieren. Bissig oder wenigstens witzig ist das nie. Ich habe etwas getan, was ich sonst niemals tue: ich bin 20 Minuten vor Schluss rausgegangen.

Um nämlich den Anfang von Sophie Heldmans "Satte Farben vor Schwarz" nicht zu verpassen. Das ist Schauspielerkino mit Senta Berger und Bruno Ganz als altes Ehepaar, das merkt, dass es irgendwie in verschiedene Richtungen unterwegs ist. Elegant, ruhig, ordentlich, gediegen ist ihre Welt, entsprechend auch die Inszenierung - was natürlich durch den Inhalt gerechtfertigt ist. Wenn sich die beiden entfremden, geht es nicht um das Niederreißen von Fassaden, hinter denen der Abgrund lauert, nicht um den Ausbruch all des Frustes, der jahrzehntelang in sich hineingefressen wurde, sondern um die Routine von Liebe und Ehe, die langsam verändert werden muss. Ein Anpassungsprozess, der die sprachlos gewordenen Eheleute wieder zueinanderführt - das ist durchaus gut inszeniert und gespielt; wohl auch deshalb, weil Ganz und Berger sich sichtlich nicht bemühen, sondern das spielen, was sie sind: alte Leute.

Am Ende finden sie sich wieder. Und dann kippt der Film, in seinen letzten Minuten, und wahrscheinlich hat Heldman, Jahrgang 1973, das gar nicht beabsichtigt, dass nun einer lebensfeindlichen, lebensnihilisierenden, lebensverachtenden Philosophie das Wort geredet wird: denn in diesem Moment des höchsten Glückes als Ehe- und Liebespaar bringen sich die beiden einfach um. Nicht wegen Sterbehilfe bei Krankheit, wegen Selbstbestimmung von Leben und Tod, sondern einfach weil man aufhören soll, wenn's am Schönsten ist; also die Bebilderung eines der doofsten Sprichwörter, die es gibt. Und man fragt sich: wenn die beiden, die noch jahrelang zusammen hätten glücklich leben können, sich hier nun umbringen, und der Film das auch bejahend propagiert, weil es ja aus Liebe und Glück geschieht: warum sollte ich nicht einfach auch Selbstmord begehen, wenn ich mal einen sehr, sehr, sehr guten Film gesehen habe? Wenn ich das Gefühl habe: besser wird's nicht?
Die Antwort - die "Satte Farben vor Schwarz" verneint, an die Heldman nicht gedacht hat - lautet natürlich: weil immer der nächste Film, der nächste Tag, der nächste Gedanke der beste ist. Bis sich das Gegenteil erweist.

Weshalb auch mir die Hoffnung bleibt für die heutigen Filme; und für einen ausführlichen, lesenswerten, gedanklich scharfen und stilistisch hervorragenden Blogbeitrag morgen, wenn ich hundemüde im Zug sitze.

Harald Mühlbeyer

Hofer Filmtage: "Black Swan", "Poll"

Eine unschuldige Prinzessin ist in einem schwanenschönen Körper gefangen, doch Freiheit kann sie nur durch die reine Liebe erlangen. Diese Liebe verspricht ihr ein Prinz, doch es gibt eine Konkurrentin um seine Gunst: der böse Zwilling der Prinzessin narrt ihn, entlockt ihm ebenfalls ein Liebesgeständnis, und die Rivalität der Ebenbürtigen führt zur Katastrophe.

Darren Aronofsky hat Tschaikowskis "Schwanensee"-Ballett verfilmt, verlegt in das Milieu der "Schwanensee"-Produktion einer Ballettcompagnie: es ist der Film, der die Hofer Filmtage rechtfertigt, die bisher eher durchwachsen, wenig prickelnd waren. Die Erwartung war groß: nichts anderes als ein Meisterwerk musste dies sein. Und die Erwartungen wurden vollends erfüllt.
Natalie Portman als Ballerina ist erwählt, die Hauptrolle des Weißen und Schwarzen Schwanes in einer Neuinszenierung von "Schwanensee" zu spielen, sie ist Konkurrenzdruck ausgesetzt und dem Druck ihrer Mutter, des Ballettdirektors, ihrer selbst. Den Weißen Schwan tanzt sie perfekt; für den Schwarzen Schwan muss sie lernen, die Kontrolle zu verlieren, sich gehen zu lassen, zu verführen, sich selbst und alle anderen zu überraschen, technische Perfektion muss zu Genialität werden.

Aronofsky ist, das beweist sich hier, der beste zeitgenössische Regisseur, den man sich denken kann. Eine emotionalisierende, spannende, verstörende und packende Handlung wird in mehreren Ebenen erzählt, kleine Irritationsmomente wachsen sich zu phantastisch anmutendem Psychohorror aus, die Darsteller bringen Höchstleistungen, jedes Detail ist stimmig, alltäglich und zugleich hochsymbolisch, die handwerkliche Arbeit im Ballett wird fast dokumentarisch eingefangen und zugleich metaphysisch transzendiert, Wahrhaftigkeit und Glaubhaftigkeit gehen einher mit dem Auflösen von Realität, Körperlichkeit, psychischer und mentaler Leistung; und der Zuschauer antwortet unmittelbar emotional auf die Leinwand: das Schneiden von Fingernägeln wird zu Tortur.
Ich selbst wurde unheimlich gepackt, meinen Sitznachbarn ging es ebenso, das Zusammenzucken, das Mitgerissensein... das war etwas anderes wie am Vortag, wo in zwei verschiedenen Filmen zwei verschiedene Menschen neben mir nonchalant zu schnarchen anfingen.

Nein: eigentlich kann ich nicht über ein vollendetes Meisterwerk sprechen, hier in diesem lächerlichen, kleinen, völlig unangemessenen Blog. Man sollte vielleicht wieder herunterkommen ins Alltagsgeschäft von Hof, oder sagen wir: von Poll in Estland.

"Poll" ist der neue Film von Chris Kraus, mit dem weitgehend selben Team wie sein überwältigender Erfolg "Vier Minuten" gedreht, frei erzählt nach der wahren Geschichte einer Verwandten von ihm, der Lyrikerin Oda Schaefer. Die kommt als 14jährige im Jahr 1914 nach Estland, wo ihr Vater als Baron residiert und als geschasster Professor in seinem Privatlaboratorium anatomische Studien an den Leichen estischer Anarchisten betreibt, die von den Russen erschossen und an ihn verkauft wurden. Oda nun findet einen versteckten Anarchisten, pflegt ihn, lernt von ihm die Grundzüge literarischen Erzählens, will ihm bei der Flucht helfen und von ihm mitgenommen werden.

Mehr geschieht nicht. 133 Minuten lang. Viel zu lang. Der Film hat quasi keine Handlung, keine, die über zwei Stunden rechtfertigen würde; und an Spannung mangelt es eklatant. Nie ist Oda mit ihrem Geheimnis in Gefahr, entdeckt zu werden. Lange weiß man ohnehin gar nicht, worum es eigentlich geht; und als sich dann die leise Story herausschält, fragt man sich, ob das schon alles ist. Es ist.

Man hätte aus dem Material viel mehr machen können; hätte mehr Suspense - die über emotionale Entfremdungen hinausgeht - einbauen können, hätte aus den einquartierten russischen Soldaten mehr machen können als reine Staffage, hätte vielleicht gar ein scharfes, pointiertes Zeitbild des Estland in den Tagen vor dem Ersten Weltkrieg zeichnen können, wo Russen und Deutsche gemeinsam die Esten unterdrückten - die vielfältigen politischen, gegnerischen, revolutionären Spannungen aus dieser Konstellation entfalten sich nie. Wenn es einmal zum Baron heißt, nicht die Anarchisten, sondern Leute wie er seien der Grund für die kommende Revolution, bleibt das Behauptung, der Film ergeht sich in einem Familiendrama, Politik und Historie laufen nebenher. Man hätte von Kraus, der mit "Vier Minuten" großes Erzählkino geschaffen hat, erwarten können, dass er sein Drehbuch etwas öfter überarbeitet, etwas mehr kürzt. Immerhin sieht der Film gut aus; aber Ausstattung und Kamera tragen auch nicht über zwei Stunden.

Harald Mühlbeyer

Hofer Filmtage: "Luks Glück" und "Brilliantlove" - Scheitern im Scheitern

Das Drehbuch zu Ayse Polats Komödie "Luks Glück" war Gegenstand der Drehbuchlesung des Mainzer Filmfestivals FILMZ im Jahr 2008; und schon damals war klar: es ist ein schlechtes Buch. Umso überraschender der flotte Beginn des von Polat inszenierten Films: da gehts temporeich und dynamisch zur Sache, sogar mit richtigem Witz, wenn Hauptfigur Haluk und seine Familie als Tippgemeinschaft im Lotto gewinnen und gleich zu streiten beginnen.

Die Eltern haben einen Traum: ein Hotel in der Türkei zu kaufen. Haluk (=Luk) dagegen will vor allem Gül beeindrucken, das Mädel, das er liebt, und nun ja: hier fangen seine Probleme an, und die des Films. Luk will für Gül, Freizeitsängerin, ein Musikalbum produzieren, fährt mit den Eltern in die Türkei, die sind glücklich über das Hotel, das sie kaufen wollen, er organisiert heimlich zusammen mit seinem halbseidenen Cousin Cem die Musikproduktion. Was natürlich nur scheitern kann. Auch, weil er das Pferd von hinten aufzäumt und erstmal ein Video aufnehmen will, ohne dafür noch Musik zu haben. Das nun ist der Höhepunkt seines Niedergangs, ein dilettantischer Dreh, für den zwar Bühne, Kostüme, Kunstschnee und Kran zur Verfügung stehen, die Tänzer aber aus Bauern der Umgebung rekrutiert sind, das Konzept völlig lachhaft ist, alles ist unorganisiert, unüberlegt, völlig illusorisch; so wie Luk eben ist.

Luk ist ein Tölpel, ein Trottel, der keinen Sinn hat für so etwas wie Logik oder Vernunft, seine Dummheit kulminiert in diesem Musikvideo. Gleichzeitig aber soll er als Held der Geschichte glaubhaft und sympathisch sein. Das geht halt nicht. Aber Ayse Polat will genau daraus ihren Witz ziehen: dass sie ihn in den Mittelpunkt stellt und sein Abenteuer um die Eroberung von Gül, um die Auseinandersetzung mit den Eltern, um die Querelen mit Cousin Cem als lustiges Geschehen präsentiert. Wobei sie missachtet: Die Hauptfigur muss auch plausibel sein; sie muss wenigstens den Anschein von Intelligenz zeigen; beides gehört nicht zu Luks Eigenschaften. Und Witz ist eben nicht nur aufgesetzter Slapstick, Herumgehampel und das Nachjagen illusorischer Träume; und Komödie ist nicht das Zeigen von Lächerlichkeit. Wenn also Polat das gescheiterte Musikvideo als lächerlichen Firlefanz zeigt: dann liegt genau darin auch das Scheitern des gesamten Filmes begründet.

Während Polats Film Luks Scheitern als Scheitern zeigt, daraus aber keinen Funken gutes Komödienkino zu schlagen versteht, merkt Ashley Horner nicht einmal das in seinen Film eingebettete Scheitern.

Horner hat einen ganz anderen Film gemacht, ein Arthouse-Erotikdrama um die Liebe von Manchester und Noon. Die beiden wohnen in einer Garage mit allerlei aufgefundenem Krimskrams, mehr brauchen sie nicht für ihre Liebe: nur sich selbst und das Liebemachen, das hier in aller Ausführlichkeit, aber nie pornografisch explizit gezeigt wird. Schon nach drei Minuten weiß man, wo es lang geht: aus der kindlich-unschuldigen Selbstgenügsamkeit, aus dem reinen, lust- und freudvollen Ausleben ihrer Sexualität werden sie entrissen werden. Die Vertreibung aus dem Lust- und Liebesparadies erfolgt durch Franny, einem Pornokunstsammler, der an Manchesters Fotos gelangt, darin Kunst erkennt und Manchester dazu überredet, die Fotos auszustellen. Was Noon, die liebend abfotografierte Liebende, natürlich nicht so gut findet.

Das eindeutige Problem des Films: Manchesters Fotos, über die die Kamera ab und an drüberfährt, sind total doof. Niemals können sie die Behauptung des Films, dass hier intuitiv auf künstlerische Weise die reine Liebe zweier Menschen idealtypisch abgebildet seien, bestätigen. Verwackelte, dunkle Körperteile einer Frau beim Liebesakt sind zu sehen, fotografiert von einem Mann beim Liebesakt: das ist halt nichts, was irgendwie künstlerisch ist. Womit dem Film in sich selbst das Rückgrat gebrochen ist; weil er nicht mal merkt, dass er um ein reines Nichts aufgebaut ist. Das immanente, wenn auch nie erkannte Scheitern, das in der behaupteten Verehrung von Manchesters Laienfotos liegt, überträgt sich auch auf den Film. Der zwar selbst ein paar immerhin schön beleuchtete, wenn auch sichtlich gefakete Geschlechtsakte zeigt, aber eben immer in der Banalität steckt. Da mag Horner noch so sehr Winterbottoms "9 Songs" im Sinn gehabt haben; er kommt nicht mal ansatzweise an den Versuch einer profunden Aussage, einer Bedeutung hin. Da helfen auch nicht die leitmotivische Tiermetaphorik mit toten Vögeln, die Noon als Tierpräparatorin ausstopft ("Taxidermy means rearranging the skin"), mit Katze und Frosch; und auch nicht die nun aber wirklich wunderbar ausgesuchten Namen der Hauptfiguren.


Harald Mühlbeyer

Hofer Filmtage: Kurzer "Carlos"

"Carlos", Olivier Assayas' grandioses Bio-Epos über den legendären Terroristen, feierte in der vollen Fassung seine Deutschlandpremiere auf dem Filmfest München im Sommer. Jetzt, in Hof, hatte die gekürzte Kinofassung, die extra für Deutschland erstellt wurde, seine Uraufführung: fünfeinhalb Stunden heruntergekürzt auf drei Stunden. Und nein: so richtig etwas Anhaben kann das Fehlen von zweieinhalb Stunden dem Film nicht.

Die Langfassung ist brillant; die kürzere Fassung sehr gut. Denn natürlich fehlt einiges - über die genaueren historischen Hintergründe kann (und wird vielleicht) unser Terrorismusexperte Bernd Zywietz genauere Analysen treffen; was das Filmische angeht, ist klar, dass einige Szenen fehlen. Doch auch die Charakterisierung der Figuren ist eine andere.

Dabei ist es durchaus anerkennenswert, dass Assayas nicht an einigen seiner meisterhaft komponierten Szenen hängt; eitel darf man nicht sein, wenn es ans Kürzen geht. Ein Angriffsversuch auf eine El-Al-Maschine auf dem Flughafen Orly, mit Panzerfäusten vom Parkdeck, dann gar von der Touristen-Aussichtsplattform aus - grandios durchgezogen, dieser terroristische Fehlschlag, aber natürlich für die Story nicht wichtig. Ebenfalls herausgeschnitten ist ein brillanter Dialog, in dem Carlos und Magdalena Kopp deren Freund Johannes Weinrich klarmachen, dass er jetzt beziehungsmäßig abgemeldet ist - und Weinrich hält die Treue, wird bis zum Schluss Carlos Weggefährte sein, obwohl der ihm die Frau ausgespannt hat.

In diesen Details findet sich bezeichnend die Tendenz der Kürzungen: Einmal legt die Dreistundenfassung weniger Augenmerk auf die reine Darstellung des terroristischen Handwerks: es ist eben nicht leicht, mit einer Panzerfaust ein Flugzeug zu treffen; und natürlich entfallen viele kleine Nebenbeobachtungen, die den Berufsalltag des professionellen Terroristen betreffen: Das Knüpfen von Kontakten, das Verhandeln mit Geheimdiensten "befreundeter" Staaten über Aufenthalt und Unterstützung, das Pitchen von Angriffsplänen bei den Geldgebern, das Buhlen um Aufträge in Konkurrenz zu anderen terroristischen Vereinigungen... Dieses organisatorische Tun bestimmt in der Langfassung den Mittelteil, wenn Carlos von seinem Ruf lebt und verschiedene Projekte auf die Beine zu stellen.

Im Subtext getragen wird diese Phase der aktiven Inaktivität durch die Dreiecksbeziehung Carlos-Kopp-Weinrich, die nun, gekürzt, eben auch wegfällt: eine Art Beziehungsdrama im Subtext, das zusätzliche emotionale Spannung bietet. Denn das ist das Zweite, das weggekürzt wurde und nur noch in Andeutungen weiterlebt: Carlos, der Frauenheld, der Verführer, der eitle Geck, der sich selbst gerne reden hört, der die Frauen umgarnt und sich ihm gefügig macht. Dieser Zug von Carlos' Persönlichkeit ist eher fragmentarisch erhalten, denn natürlich muss bei zweieinhalb herausgeschnittenen Stunden erstmal Wert auf die Handlung, auf das reine Tun gelegt werden.

Dass Hintergründe, charakterisierende Details, bestimmte Aspekte unter den Tisch fallen, ist selbstverständlich. Und soll hier auch gar nicht kritisiert werden. Figuren werden (noch mehr als in der Langfassung) nur noch kurz angerissen, manche tauchen kurz auf und verschwinden wieder, denen in der vollen Fassung eine eigene Geschichte gegönnt ist; das macht die 190-Minuten-Kinoversion vielleicht zuweilen gar etwas verwirrend. Aber dennoch lohnt auch sie sich, spannend ist sie allemal, und weit besser als der Versuch, ein akkurates historisches Re-Enactment der RAF-Geschichte zu inszenieren ist "Carlos" auf alle Fälle: weil er keine Angst hat, auch legendenhaft von der Legende zu erzählen, es geht mindestens so sehr wie um das tatsächliche Geschehen auch um den Mythos, der da entstanden ist, mit dem Carlos auch immer spielt.

Die allesamt herausragenden Darsteller, allen voran Edgar Ramirez als Carlos, aber auch insbesondere die deutschen Schauspieler Nora von Waldstätten, Alexander Scheer, Christoph Bach, Julia Hummer etc.; die detailreiche Ausstattung, die eine Welt der 70er und 80er wiederherstellt; der Flow, der den Film trägt, trotz oder gerade wegen der harten Schnitte, der Zeitsprünge, der vielen Personen um Carlos herum: das alles ist auch in der deutschen Kinofassung enthalten.
Schade nur ist, dass die deutschen Kinozuschauer nach der Dreistundenfassung der Meinung sein werden, alles gesehen zu haben, was es zu sehen gab. Das eben ist nicht der Fall. Die Fünfeinhalb-Stunden-Version ist reicher, detaillierter und näher am Subjekt; sie ist die Alternative, die man vorziehen sollte.

Harald Mühlbeyer

Filmreihe Israel

Vom 4. bis 11. November zeigt das CinéMayence eine Filmreihe rund um das Thema Israel. Mit von der Partie sind sowohl Werke von israelischen Filmemachern, als auch Blicke von außen.

Folgende Filme werden zu sehen sein:

Tausche Tochter gegen Wohnung (Sallach Shabati, Israel 1964)
Komödie von Ephraim Kishon, dt. Fassung, 93 Min.
Do, 4. + Sa, 6. November, 20.30 Uhr

Forget Baghdad (CH / D 2002)
Dokumentarfilm von Samir, OmU, 110 Min.
So, 7. + Mo, 8. November, 20.30 Uhr

HaZorea - Ein Kibbuz im Norden Isaels (D 2008)
Dokumentarfilm von Ulrike Pfaff, OmU, 80 Min.
Di, 9. November, 20.30 Uhr

Yana's Friends (Ha-Chaverim Shel Yana, Israel 1999)
Spielfilm von Arik Kaplun, OmU, 90 Min.
Mi, 10. November, 20.30 Uhr

Geh und Lebe (Va, vis, et deviens, F 2004)
Spielfilm von Radu Mihaileanu, dt. Fassung, 144 Min.
Do, 11. November, 20.30 Uhr


Der Eintritt kostet 4,50 €, ermäßigt 3,50 €!

Veranstaltet wird das Ganze von der Deutsch-Israelischen Gesellschaft, der Botschaft des Staates Israel und der Arbeitsgemeinschaft Israel der Uni Mainz in Kooperation mit dem CinéMayence.


Mehr Infos unter: www.cinemayence.de

Hofer Filmtage: Eröffnung mit einem "Lied in mir"

Die Hofer Filmtage sind eröffnet, seit gestern. Seit vorgestern ist die neue epd Film raus, mit einem Artikel über die filmische Aufarbeitung der argentinischen Militärdiktatur - den hätte ich natürlich eigentlich lesen müssen zur theoretischen Fundierung des Hof-Eröffnungsfilmes "Das Lied in mir", von Florian Cossen mit Jessica Schwarz und Michael Gwisdek.

Cossen wirft uns hinein in seine Geschichte, ohne viel Federlesens sehen wir Jessica Schwarz als Maria beim Schwimmen, dann Abschied von Vater Anton (Gwisdek), Ankunft in Buenos Aires auf dem Weg zu einem Schwimmwettkampf in Chile. Da hört sie schon das titelgebende Lied, eine Mutter beruhigt ihr Kind damit, auf Spanisch, eine Sprache, die Maria nicht beherrscht, und dennoch kann sie das Lied mitsingen. Das wühlt sie auf, wirft Fragen auf. Als sie den Anschlussflug verpasst, ist sie in Buenos Aires gestrandet, ihren Pass hat sie (als Drehbucheinfall etwas holprig) verloren, sie findet eine seltsame großohrige Puppe, die ihr bekannt vorkommt, obwohl sie sie noch nie gesehen hat...

Das ist ein guter Start für den Film, direkt in medias res, noch sind keine 15 Minuten rum, als ihr Vater Anton in Buenos Aires bei Maria auftaucht und sie aufklärt, dass sie adoptiert wurde, dass sie hier geboren ist. Noch sind da nur Fragen in Maria über ihre verlorene Kindheit, sie ist gekränkt wegen der lebenslangen Lüge ihrer Zieheltern; doch wirkliche Zweifel kommen erst allmählich auf. An diesem Punkt wird Cossen etwas zu deutlich, klar: da kommt noch was, schließlich guckt Gwisdek immer mit so schlechtem Gewissen zur Seite, druckst herum. Und warum sonst sollte das Drehbuch Maria mit einem deutschsprechenden ortsansässigen Polizisten verkuppeln, der ihr sicherlich bei der Aufspürung der Wahrheit helfen wird?

Diese Schwachstellen im Mittelteil lassen Zeit für die eine grundsätzliche Frage, warum sich ein deutscher Film mit der argentinischen Militärdiktatur auseinandersetzen muss, was denn das eigentlich einen deutschen Filmemacher (und die deutschen Kinozuschauer) angeht, und ob hier denn nicht nur eine Art Fremdschau des politisch-militärischen Grauens geboten wird.

Doch dann zieht der Film das Tempo an, und auch seine Intensität. Es wird richtig spannend, wenn Maria ihre Restfamilie kennenlernt: Ihre Eltern waren vom Militär verschleppt und zu Tode gefoltert worden, umso mehr freuen sich Onkel und Tante, Maria wiederzuhaben; und sie findet sich im Zwiespalt zwischen ihrer Blutsverwandtschaft, die sie nicht kennt, und zwischen ihrem Stiefvater, der sie belogen hat, der aber ihr eigentlicher, emotionaler Vater ist.
Und irgendwie wird es jetzt auch für Deutschland relevant; denn hier werden die Fragen gestellt, die vor dreißig, vierzig Jahren ebenfalls an die Vätergeneration gerichtet wurden: was hast du in der Diktatur gemacht? Wie groß ist deine Schuld? Bist du der, als den ich dich kennengelernt habe?

So dass "Das Lied in mir" nicht einfach die Aneignung der historischen Last eines fremden Landes, sondern eine Art Verschiebung der deutschen Situation: Könnten nicht im Rahmen einer überfälligen Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit solche Fragen gestellt werden?

Harald Mühlbeyer

Arnold Hau in Berlin

Wer die Filme von Arnold Hau kennt (oder der Gruppe, die sich so benannte, mit Robert Gernhardt selig, mit F.K. Waechter selig, mit Arend Agthe und Bernd Eilert), wer vielleicht auch nur den Screenshot-Artikel über ihre Filme gelesen hat, wer dann noch in oder um Berlin wohnt, kann sich freuen:

Vom 30. Oktober bis 3. November laufen die Arnold-Hau-Filme im Berliner Lichtblick-Kino, Kastanienallee 77, Prenzlauer Berg: Der Langfilm "Das Casanova-Projekt" wie auch all die Kurzfilme, inklusive einer Interviewdoku "Arnold Hau im Gespräch".

Das Beste: Am 30.10. werden zwei Hauer anwesend sein: Arend Agthe und Fritz Weigle (a.k.a. F.W. Bernstein), der mit Gernhardt und Waechter das Ursprungswerk, das Buchkompendium "Die Wahrheit über Arnold Hau" verfasst hatte.

Grindhouse-Nachlese: Zwei Überraschungsfilme mit Kannibalen und den Weinstein-Brüdern

Grindhouse-Doublefeature im Mannheimer Cinema Quadrat, 16. Oktober 2010

„XaXXiXXX XerXX“, / „Die RXXhX dXr KaXXibXXXn“, IXaXXeX X9X1, Regie: XmbXXtX XeXXi.

„The Burning“ / „Brennende Rache“, USA 1980, Regie: Tony Maylam.


Manchmal ist es einfach so, dass man Pech hat, wenn man nicht da war. Und wenn bei der Mannheimer Grindhouse-Nacht zwei Überraschungsfilme angekündigt sind, dann geht man entweder hin oder wird niemals erfahren, was in jener Nacht dort vor sich gegangen ist. Da verpassen Sie dann einfach, wenn im Dschungel von Südamerika [ZENSIERT] von einer Schlange verschlungen [ZENSIERT] grausliges Dorf [ZENSIERT] Schildkröte in ihrem eigenen Panzer gekocht [ZENSIERT] American Express-Karte vom Boden aufklaubt [ZENSIERT] und auf den Bäumen beobachten die Affen das Geschehen als eine Art griechischer Chor.

Das Sehen und Gesehenwerden: Das ist eine der Hauptmotive in einem Slasherfilm. So auch in Tony Maylams „The Burning“: „ein dreistes Plagiat von John Carpenters ‚Halloween’, […], ein Slasher Movie […], das vom Aufseher eines Sommerferienlagers handelte, der auf sexuelle Abenteuer erpichte Teenager mit einer Heckenschere massakrierte”, schreibt Peter Biskind. Biskind? Warum dieses? Weil an diesem Oktobersamstag in Mannheim Filmgeschichte gezeigt wurde: die allererste Miramax-Produktion, die nach dem Motto „Das kann ich auch“ gedreht wurde. Die produzierenden Weinstein-Brüder, so kann man annehmen, haben ein paar der damals in Mode gekommenen Slasherfilme gesehen, Harvey hat einen „Story“-Credit, Bob wird als Co-Drehbuchautor genannt. Fürs Horror-Make-Up wurde Genreveteran Tom Savini angeheuert, die Musik steuerte, man will ja protzen, Ex-„Yes“-Kopf Rick Wakeman bei – der klugerweise weiß, dass in den wirklich spannenden Szenen sein Synthesizer-Kleister fehl am Platze ist und es dann bei ein paar Elektro-Musikeffekten belässt. Was ich dabei verpasst habe: Holly Hunter in ihrer ersten Rolle, sie ist eines der Teeniegirls im Sommercamp; ich habe sie nicht erkannt.

Der Film folgt diesen Jugendlichen, die bemerkt haben, dass ihnen gewisse primäre und sekundäre Geschlechtsmerkmale gewachsen sind: das ist gar nicht schlecht inszeniert, wie die Jungs die Mädels und die Mädels die Jungs anstarren, wie sich das Interesse in Kichern, Zoten und Gehabe ausdrückt, wie sie merken, dass sie irgendwie von den anderen angezogen werden (und mitunter von den anderen ausgezogen). Da wippen die Brüste unter dünnem Shirt, da wackeln die Hintern im Bikini, da protzen die Jungs und laben sich an ihrer Männlichkeit, beobachtet von der Kamera, die den Zuschauer immer wieder in die Lage der Voyeure versetzt. Und beobachte von Cropsy, dem Killer, in dessen Subjektive der Zuschauer immer wieder versetzt wird, verdeutlicht durch Unschärfen am Bildrand.

Der Film nämlich spielt fünf Jahre danach, nach dem großen Feuer, das Cropsy verunstaltet hat. In einem Ferienlager hatten ein paar Jungs ihm einen Streich spielen wollen, ihm, dem sadistischen Hausmeister. Das ging schief: “This guy is so burned, he's cooked! A fucking Big Mac, overdone!” Jetzt ist Big-Mac-Cropsy auf Rache aus, mit seiner großen Heckenschere, und damit man weiß, wie böse er ist, lässt der Film ihn erstmal, ganz unmotiviert, eine Nutte killen. Und dann passiert erstmal nichts mehr.

Im Ferienlager gibt es zwar immer wieder schaurige Misstöne in der Teenager-Fröhlichkeit. Aber wenn dann zum dritten, vierten Mal der Film Suspense behauptet, die sich als falscher Alarm herausstellt, wird’s halt doch langweilig. OK: Ein Teeniegirl beim Duschen ist sehr nett, hehe, und wenn’s dann noch böse Geräusche gibt… „Psycho“ lässt grüßen, aber es war eben doch nur ein Nerd-Spanner. Dunkle Gestalten in der Nacht entpuppen sich als harmlose Gesellen, und allenfalls eine Lagerfeuer-Gruselgeschichte, in der vom legendären Cropsy erzählt wird, ist einigermaßen sinnvoll, weil sie dem Film mythischen Unterton gibt, und weil wir hier erstmals überhaupt was über den Killer erfahren. Passieren tut immer noch nichts, erst als ein Junge sein Girl zum Nacktbaden überredet, ist sie fällig.

Und dann geht’s Schlag auf Schlag, einer nach dem anderen wird gemetzelt: immerhin haben die Gewaltszenen den Film auf den Index gesetzt, so dass die ungeschnittene Fassung, die in Mannheim gezeigt wurde, ziemlich verboten ist. Jetzt, nach einer dreiviertel Stunde, geht es so richtig los, da wird einiges weggemetzelt: am drastischsten – und besten – wohl ein Teenozid auf einem Floß, bei dem auf einen Streich eine Handvoll Teenies der Heckenschere zum Opfer fallen.

Nach diesem Ausflug in die Filmgeschichte wird es laut Boris Becker, der die Filmreihe organisiert, im nächsten Monat beschaulicher zugehen: Paul Naschy wird auf dem Programm stehen, spanischer Horror-Spezialist: „Das ist von der Atmosphäre her wie bei den Hammer-Studios, aber etwas derber und mit Titten.“

Harald Mühlbeyer

Kinoseminar Filmpropaganda: „Jud Süß“, das Original

„Jud Süß“, D 1940, Regie: Veit Harlan, am 14. Oktober 2010 im Wiesbadener Murnau-Kino


Es ist wohl der Reiz des Verbotenen, der so viele Zuschauer ins Kino lockte. Das Murnau-Kino war jedenfalls ausverkauft bei der Vorführung des berühmtesten Vorbehaltsfilm „Jud Süß“ von Veit Harlan, Deutschland 1940. Und das Publikum wurde mit einem hervorragend gemachten Film belohnt, der sich in Inszenierung, Darstellung, Ausstattung vor dem Hollywood der damaligen Zeit nicht zu verstecken braucht: das macht ihn so wirkungsvoll, diesen von Dr. J. Goebbels gepriesenen „antisemitischen Film, wie wir ihn uns nur wünschen können“.

Seit die Alliierten nach dem Krieg die deutschen Filmproduktionen der Nazizeit begutachtet haben, gilt „Jud Süß“ – zusammen mit einigen anderen Filmen – als Vorbehaltsfilm. Das bedeutet nicht, dass der Film verboten ist – aber er darf nur mit Einleitung, Analyse und Diskussion gezeigt werden. Was sich zunächst sehr dröge anhört, wie ein weiterer dieser Vorträge zur staatsbürgerlichen Bildung, der sehr pädagogisch den bösen Antisemitismus der Nazizeit anprangert; was man halt schon zur Genüge seit der Schulzeit kennt. Man kann aber auch den Film mit einer kleinen Lehrstunde in Filmanalyse und Propaganda begleiten, die gar nichts Trocken-Didaktisches an sich hat. Horst Walther vom Wiesbadener Institut für Kino und Filmkultur kann das: In freiem Vortrag alles Wichtige über den Film sagen, dabei Bögen spannen zur Filmrezeption in der heutigen Gesellschaft, zu propagandistischen Tendenzen in aktuellen Produktionen; und auf lockere Art mit ironischem Touch „Jud Süß“ an kleinen Details und am großen Ganzen als das charakterisieren, was er ist: hervorragendes Unterhaltungskino, das auch heute noch faszinieren kann, wenn man versucht, den ganzen Denkballast von „Jud Süß“-Mythos und Holocaust für den Moment abzulegen; wenn man sich hineinversetzt in die Situation der Kinobesucher in den 40ern – und von daher dann, im Nachhinein, die Propagandabotschaften betrachtet. Das kann natürlich nicht hundertprozentig, vielleicht nicht mal achtzigprozentig gelingen: aber dass es überhaupt gelingt, das spricht für die durchaus zeitlose, emotionalisierende Inszenierungskunst von Veit Harlan.

Harlan ist einer der besten Filmemacher, die Deutschland je hervorgebracht hat. In jeder Szene manifestiert sich das, in dem perfekt konzipierten Zusammenspiel von Mise en Scene, Schauspiel, Kamera und Bildkomposition, Ausstattung, Musik. Horst Walther hob, völlig zurecht, besonders zwei Szenen hervor:
Das genau durchkomponierte Schlussbild, in dem der böse Jude Süß Oppenheimer hoch über die Häupter des empörten Volkes in einer Käfig-Erhängungsvorrichtung emporgehoben wird, Schneeflocken wirbeln, Fackelträger, eine Frau wendet sich ab, der Hauptleidtragende der Oppenheimerschen Ränkespiele mit erhobenem Haupt, und das gewaltige Schlusswort, beinahe direkt in die Kamera gesprochen, das all die nachfolgenden Generationen vor der Verjudung warnt, zur Reinhaltung des deutschen Blutes und zur Aufrechterhaltung des ehernen Judenbannes mahnt… Hochemotionalisiert wird der Zuschauer so aus dem Film entlassen, und er darf sich mit dem ganzen antisemitischen Diskurs, den der Film vehement führt, beschäftigen (und soll ihn natürlich bekräftigen): ein Diskurs, der ihm an vielen Stellen gar nicht so richtig bewusst wurde, eben genau wegen der melodramatisch-gefühlsüberladenen Inszenierung.
Und dann die zweite Szene, in der ganz nonchalant in der dritten Minute des Films eine Nackte vorkommt. Tatsächlich ging bei dem Anblick der entblößten Brüste ein Raunen durch das Kinopublikum: das hätte man nicht erwartet, zumal man von der allgemeingültigen Filmgeschichtsschreibung konditioniert ist, dass Filme aus der NS-Zeit prüde seien, sinnenfeindlich, der Erotik gegenüber höchst verschlossen und durchweg auf sittliche Bilder bedacht. Ein Irrtum. Denn solches war erst in den 1950ern gegeben, als die hohen Moralwächter von Kirche und FSK ihre subtile Zensur ausübten; zuvor, in den 30ern und 40ern, war zwar durchaus genau vorgeschrieben, was den Zuschauern wie zugemutet werden durfte. Gelegentliche Nacktheit, ob in Melodram oder Komödie, fiel nicht darunter, da gibt es äußerst frivole Szenen, die in Hollywood oder BRD erst 30 Jahre später, im Rahmen von Kulturrevolte, erlaubt werden würde… Harlan also zeigt Titten, und Horst Walther weiß auch, warum: der Anfang ist an sich schlicht langweilig, und irgendwie muss man die Zuschauer packen. Der Herzog von Württemberg wird vereidigt, fährt in der Kutsche durch die Menge des jubelnden Volkes: das hat nur Pepp, weil zufällig eine Bluse zerreißt. Was zudem dazu dient, den Herzog zu charakterisieren: der nicht indigniert wegschaut, sondern schenkelklopfend, lachend hinstarrt.

1733. Herzog Karl Alexander (Heinrich George) ist ein Schwächling auf dem Thron, der gerade dadurch seinem Land gefährlich wird, weil er durch außerordentliche Machtausübung Stärke beweisen zu müssen glaubt. Seine Prunksucht und seine Sexsucht – Verführung minderjähriger Mädels ist ein Hobby von ihm – kostet Geld; Geld, das er sich bei dem Frankfurter Josef Süß Oppenheimer (Ferdinand Marian) beschafft, der schlauerweise die Rückzahlung erstmal aufschiebt, unter der Voraussetzung, trotz Judenbann nach Stuttgart reisen zu dürfen. Dort macht er sich für den Herzog unentbehrlich, wird sein Finanzminister und Geldbeschaffer, presst aus der Bevölkerung Steuern heraus, um sich zu finanzieren – und arbeitet an dem Ziel, seine jüdischen Brüder nicht nur hoffähig, sondern mächtig, allmächtig gar zu machen. Privat begehrt er Dorothea (Kristina Söderbaum), Tochter des Vorsitzenden der Landstände (Eugen Klöpfer), eine Art Bundesrat gegenüber dem herzöglichen Souverän. Süß wiegelt den Herzog gegen die Landstände auf, rät ihm zu Verfassungsbruch und Staatsstreich, um als absoluter Herrscher zu regieren – und lässt Dorotheas Bräutigam Faber (Malte Jaeger) foltern, macht sich dadurch die Begehrte zu Willen und vergewaltigt sie. Sie geht, Reichswasserleiche, die sie ist, in den Neckar, Faber und das Volk empören sich gegen den Juden; und als der Herzog stirbt, hängt er am Galgen.

Wie Horst Walther sagt: eigentlich ist das ein Plot, wie er immer schon und auch heute noch üblich ist. Der Böse geht den Guten an, bis der am Boden liegt, und wenn alles verloren scheint, steht das Gute wieder auf und Happy End. Das sei der Unterhaltungsfaktor, der dem Zuschauer den Film angenehm macht, weil er Gefühle erweckt. Dem beigefügt ist dann die Propaganda; und auch die funktioniere damals wie heute ähnlich: die Bösen kommen – überspitzt formuliert – mit 20 Mann, immer von hinten, machen den Guten, die Identifikationsfigur, nieder, schänden die Frauen der Guten, und wenn ein Kind im Weg ist, wird es gemetzelt. Solche Geschichten emotionalisieren und schweißen zusammen gegen den Feind. Der Unterschied zwischen dem damaligen Filmbösewicht und den heutigen: dass das Böse nicht aus individueller psychischer Perversion stammt, sondern aus der Ethnie, der der Schurke angehört: Oppenheimer ist Jude, Jude Jude Jude, und er ist böse als solcher; und wie er sind sie alle.

„Jud Süß“ ist die perfekte Verbindung von Propaganda und Entertainment. Da werden einerseits – wenig subtil, für jeden verständlich – die (angeblichen) Judeneigenschaften verdeutlicht. Auf der einen Seite besonders durch die von Werner Krauss in einer Mehrfachrolle dargestellten unterschiedlichen Emanationen des jüdischen Prinzips. So kommentiert er die Kreditvergabe des Oppenheimer an den Herzog wohlwollend: „Soller ihm gäbn, gäbn, gäbn, damit wie kännen nähmen, nähmen, nähmen“; und als sterndeutender Rabbi raunt er von der Verstreuung der Juden über die Welt mit dem Ziel, im Geheimen Macht und Herrschaft über die Völker auszuüben.
Auf der anderen Seite: Eugen Klöpfer und Malte Jaeger, der alte und der junge Judenspäher, die wissen, welche Gefahr von den Juden ausgeht, sie drohen mit dem Pfoten: die Vorfahren haben’s verboten! Und natürlich haben sie recht mit ihren stetigen Warnungen.

Andererseits, abseits der offensichtlichen Slogans, geht der Film höchst subtil vor: nämlich, was die Hauptfiguren betrifft, nicht mit bloßer Schwarz-Weiß-Malerei, sondern mit ausgesprochen feiner Psychologisierung. Herzog Karl Alexander ist dick, luxussüchtig, egomanisch und sinnenfroh – sprich: er fickt gerne mannbare Jungfrauen. Und: er weiß, dass er nicht auf seinen jüdischen Berater hören sollte, der immer neue Privilegien für sein jüdisches Volk von ihm verlangt, der ihn zu Verfassungsbruch, zur Revolution von oben treibt – und er lässt ihn trotzdem gewähren, wider besseres Wissen, weil ihm so sein verschwenderischer Lebensstil garantiert wird. Er vernachlässigt die Pflicht zugunsten der Lust.
Neben ihm: Süß Oppenheimer, der ihm zu Diensten ist, der ihm schmeichelt (weil’s dem Herzog so gefällt), der ihm zuarbeitet, ihm eine Ballettschule mit hübschen Tänzerinnen einrichtet, der einen Jungfrauenball organisiert; dem dabei – eine Win-Win-Situation – auch selbst einiges an Luxus und Macht zufällt; und der dabei doch stets seine Agenda verfolgt, der sozusagen – im Gegensatz zum Herzog – Rückgrat beweist: denn alles, was er tut, tut er für sein Volk, für die Juden, die nach Anerkennung streben. Ferdinand Marian spielt ihn auf geradezu sensationelle Weise: in seiner Darstellung läuft alles zusammen, schmeichelnder Schleimer und gieriger Opportunist, getarnter Jude und Kämpfer für ein großes Ganzes, Wollust, Charmeur und Verführer, ja: auch ein Frauenversteher ist er.

Und im Grunde, hier gelangt Harlan auf den Höhepunkt seiner filmischen, seiner psychologischen Könnerschaft: im Grunde hat Oppenheimer die eine böse Tat, die der Film als Höhepunkt seiner jüdischen Schurkenschaft darstellt, nämlich die Vergewaltigung der jungfräulichen Söderbaum, nur bei seinem Herzog abgeguckt, der ja die ganze Zeit nichts anderes macht. Dass wir dennoch empört sind: das eben liegt an der Propaganda-Ideologie, die Harlan fein ziseliert einbaut, indem die Juden nie als Individuen, sondern als Teil der gemeinsten aller Menschenrassen charakterisiert werden. Eben als Parasiten: aber als schlaue Parasiten, die lernen, sich an ihre Umgebung anzupassen, sie für sich zu nutzen. Weshalb auch die Vergewaltigung durch den Juden viel schlimmer ist als jede gewaltsame Verführung durch den Herzog: denn dieser ist als Person ein Schwächling, ein verführter Führer, jener aber ist als Teil des feindlichen Volkes zugange: er vermischt Juden- und Schwabenblut, pflanzt also das Jüdisch-Böse fort; deshalb muss er hängen. Und wie gut Marian ist: bei der Gerichts-Aburteilung und bei der Hinrichtung selbst zerfließt er in jammerndem Selbstmitleid, so herzzereißend klagt er, dass auch der Zuschauer durchaus schon wieder Sympathie empfindet.

Muss dieser Film auch 65 Jahre nach dem Dritten Reich, nach institutionalisiertem Judenhass und -mord auch heute noch unter Vorbehalt stehen? Klar ist: dieser Film ist sehr gut, und deshalb ist er sehr perfide. Und auch wenn die Gefahr, dass es wegen dieses Filmes zu massenhaften antisemitischen Ausbrüchen kommen könnte (die für die Zuschauer der 40er Jahre durchaus nachweisbar sind), ist heute eher gering. Doch andererseits: An einem Film wie diesem eine kleine Lehrstunde in Filmanalyse und Filmpropaganda zu exerzieren, ist sicherlich nichts Schlechtes. Man kann nicht genug lernen, hinter die offensichtlichen Bilder auf der Leinwand zu schauen.

Am Dienstag, den 26.10., wird eine weitere „Jud Süß“-Vorführung im Wiesbadener Murnau-Kino mit Horst Walther als Referenten stattfinden.

Harald Mühlbeyer

"Kurz vor Film": Vorfilme fürs Kino

Mit über 2.000 Kurzfilmen pro Jahr ist die Kurzfilmszene in Deutschland überaus lebendig und vielfältig. Über neunzig Festivals zeigen jedes Jahr eine große Auswahl an deutschen und internationalen Kurzfilmen. Viele Produktionen haben dabei eine Länge von unter zehn Minuten und eignen sich sehr gut für den Einsatz als Vorfilm. „Kurz vor Film“ will diese Vielfalt auf die große Leinwand holen und gibt Cineasten die Möglichkeit, Kinobetreiber für den regelmäßigen Einsatz von Kurzfilmen zu begeistern.

Die Vorfilmkampagne „Kurz vor Film – Mehr Vorfilme ins Kino!“ konnte bereits knapp 4.600 Unterstützer auf facebook für sich gewinnen. Auf der Website www.kurz-vor-film.de haben über 3.100 Kurzfilmliebhaber ihre Stimme für mehr Vorfilme im Kino abgegeben. Anna Thalbach, Jana Pallaske und Ulrich Matthes setzen sich als prominente Unterstützer für Vorfilme ein. In kurzen Filmen fordern sie das Publikum zur Teilnahme an einer Unterschriftenaktion im Netz auf und bitten Kinobetreiber, mehr Vorfilme zu zeigen.
„Kurz vor Film“ ist eine Initiative der AG Kurzfilm, der KurzFilmAgentur Hamburg und interfilm Berlin und wird von der Filmförderungsanstalt (FFA) finanziert. Die Kampagne wirbt von September bis Dezember 2010 mit Spots in Kinos und auf Festivals sowie auf der Website www.kurz-vor-film.de für die Rückkehr des Vorfilms in das reguläre Kinoprogramm.

Die Kampagne richtet sich gleichzeitig an Kinobetreiber, die seit 2009 eine jährliche Förderung von bis zu 1.500 Euro für das Abspiel von Kurzfilmen bei der Filmförderungsanstalt (FFA) beantragen können. Auf der Website finden sich alle relevanten Informationen zur Beantragung der Abspielförderung und zum Bezug von vorfilmtauglichen Kurzfilmen. Für Kurzfilmliebhaber bietet die Seite außerdem eine Übersicht der Kinos, die bereits Vorfilme zeigen.



Medienpartner der Kampagne ist das Branchenmagazin filmecho|filmwoche.

Im Kino: „Sammys Abenteuer“ - In 50 Jahren um die Welt

"Sammys Abenteuer: Die Suche nach der geheimen Passage". Belgien 2010. Regie: Ben Stassen.
Kinostart: 28.10.2010

Sammy ist so etwas wie der Forrest Gump unter den Meeresschildkröten. Er schlüpft 1950 aus dem Ei und ist von Anfang an ein bisschen langsamer als seine Geschwister. So wird er schnell zum Einzelgänger, entwickelt aber gleichzeitig eine magische Anziehungskraft für schicksalhafte Begegnungen. Erst wenige Minuten alt rettet er seiner zukünftigen großen Liebe Shelly (auch als Synchronsprecherin enorm knuffig: Lena Meyer-Landrut) das Leben, hinaus aufs große Meer treibt er ebenso zufällig wie er später seinen besten Freund (Axel Stein) kennenlernt, wieder verliert und einer Gruppe von Hippies in die Arme schwimmt. Deren Lektüre von "In 80 Tagen um die Welt" weckt in ihm die große Abenteuerlust, die er erst in Richtung Südpol und dann auf der Suche nach der geheimen Passage in den Atlantik - dem Panamakanal - auslebt.

Der belgische Regisseur Ben Stassen ist eine der treibenden Kräfte hinter dreidimensionaler Computeranimation im europäischen Raum, sein erster Langfilm FLY ME TO THE MOON kam etwas zu früh in die Kinos, um den großen 3D-Hype im vergangenen Jahr wirklich mitzunehmen. Stassen stammt aus der IMAX-Tradition des 3D-Kinos, und auch SAMMYS ABENTEUER ist an vielen Stellen noch sichtbar von "old school"-3D-Denken geprägt. Der Film verlässt sich statt auf eine stringente Story und glaubhafte Charaktere lieber auf effektreiche 3D-Inszenierung mit Pop-Out-Effekten und Flugsimulationen, pendelt im Design allerdings trotzdem merkwürdig unentschlossen zwischen Realismus und Abstraktion (beispielsweise in der Animation von Wasser und Sand). Die Handlung kommt indes ähnlich sperrig daher wie der umständliche und irreführende Titel. Die Suche nach dem Weg in die Karibik ist eben nur eins der vielen Abenteuer, die Sammy im Laufe seines 50-jährigen Lebens mitnimmt. Charaktere und Schauplätze wechseln im Zehnminutentakt, viele von ihnen haben keine andere Funktion, als dem merkwürdig eigenschaftslosen Hauptcharakter (passenderweise gesprochen von Matthias Schweighöfer) einen Schubs in die richtige Richtung zu versetzen.

Dass es diesem Hauptcharakter ein wenig an Motivation fehlt, erklärt vielleicht auch den überflüssigen Voiceover-Kommentar des alten Sammy, der auf sein Leben zurückblickt und das gerade Gesehene regelmäßig zusammenfasst und kommentiert. Eigentlich besitzen die ökologisch-pädagogischen Motive des Films rund um Erderwärmung und Artenschutz eine angenehme Ambivalenz - denn die menschlichen Spuren in der Natur helfen Sammy und seinen Freunden fast genauso oft wie sie ihnen schaden. Statt jedoch auch den jüngeren Zuschauern des Films ein wenig eigenes Urteilsbewusstsein zuzutrauen, verlassen sich die Filmemacher lieber darauf, diese Ambivalenz immer wieder in ungelenken Formulierungen hinauszuposaunen. Als hätte nicht gerade der Animationsfilm in den letzten Jahren immer wieder bewiesen, dass Filme, die Kindern gefallen ohne Erwachsenen auf die Nerven zu gehen, kein Widerspruch in sich sind.


Alexander Gajic



"Sammy's Avonturen: De geheime doorgang"
Belgien 2010. Regie: Ben Stassen. Buch: Domonic Paris. Musik: Ramin Djawadi. Produktion: Gina Gallo, Mimi Maynard, Domonic Paris, Ben Stassen, Caroline van Iseghem.
Sprecher (deutsche Fassung): Matthias Schweighöfer (Sammy), Lena Meyer-Landrut (Shelly), Axel Stein (Ray), Achim Reichel (Slim), Thomas Fritsch (Erzähler).
Länge: 88 min.
Verleih: Kinowelt.
Kinostart: 28.10.2010

26.10. - 31.10.: Die HOFER FILMTAGE zum 44. Mal


Die 44. Ausgabe der Hofer Filmtage hat auf jeden Fall einen Star zu bieten: Bob Rafelson, Regisseur und Produzent, einer der führenden Köpfe der New Hollywood-Bewegung Ende der 60er: im Grunde der Mann, der Hollywood und damit die Filmwelt revolutioniert hat. Und der zuvor die Teenies der Welt mit seiner Kunst-Boygroup "The Monkees" erfreut hat... Ihm ist die diesjährige Retrospektive gewidmet, er wird anwesend sein, wenn sein Monkees-Psychedelic-Fun-Film "Head" läuft, oder "Five Easy Pieces", oder der zweimal klingelnde Briefträger...

Aber natürlich sind es vor allem die ca. 120 neuen Kurz- und vor allem Langfilme, die Hof so interessant machen. Eine Herbstschau des deutschen Films läuft hier, das ist schon traditionell, ebenso der Fokus auf das französische Kino. Der Blick auf das internationale Kino umspannt die ganze Welt: von Grönland über USA und Peru nach Australien und Neuseeland bis Hongkong und zurück nach Europa.

Das genaue Programm demnächst auf www.hofer-filmtage.com!

Und tägliche Berichte zum Festival von unserem Reporter Harald Mühlbeyer auf dieser Seite.

THE EXPENDABLES - Die Muckibude schlägt zurück



Barney Ross (Sylvester Stallone) und seine Truppe von Vollprofis erledigen gefährliche internationale Aufträge. Zum Beispiel den von Mr. Church (Cameo: Bruce Willis), der da lautet: den südamerikanischen Inselstaat von Generalissimo Garza (David Zayas) aufräumen. Die Konkurrenz hat zu viele Ambitionen – eine gute Szene – und der mit dem Alter hadernde Ross geht Kundschaften mit Spezi Lee Christmas (Jason Statham). Schnell wird klar, dass der eigentlich wirkliche Boss ein Ex-CIA-Renegat ist, der groß in Drogen machen will. Es dauert nur eine schöne Frau und schon ist für Ross der Auftrag zur Mission geworden. Dumm nur, dass sie lieber zuhause bleibt, während er den Hafen in Schutt und Asche legt.

Im geheimen Hauptquartier alias dem Tattoostudio/PS-Schuppen von Tool (Mickey Rourke), ist Ross schwer zerrissen. Darum eine kurze Phase obligatorischen Selbstzweifelns und Dialog – hier kann man getrost Popcorn kaufen oder aufs Klo gehen. Doch diese Frau ist es wert, zumal es obendrauf noch die Aussicht gibt auf Insel-Aufmischen, ergo eine Win-Win-Situation. Der abgewrackte Gunnar (Dolph Lundgren), der leider nicht mehr mit darf, versucht seinerseits den Chef um die Ecke zu bringen und seine Dauerfehde mit Ying Yang (Jet Li) zu regeln. Danach wird von der streitsüchtigen Truppe, die es natürlich nicht hinnehmen kann, dass der Boss alleine loszieht, der gesamte Präsidentenpalast in Südamerika ratzekahl plattgemacht. Dabei war der doch antik!



Die Muckibude schlägt offenbar zurück, denn im Unterschied zu Stallones letzter Actionbanane John Rambo war The Expendables in den USA Überraschungserfolg. Da horchen Feuilletons auf und diagnostizieren ein dank „kinogeschichtlich aufgeladener Charaktere“ zum Alterswerk gemausertes B-Movie (Spiegel) oder philosophieren über die „demographische Sollbruchstelle im Actionkino“ (SZ). Zum Film selbst wird nicht viel gesagt.

Die Leistung von The Expendables liegt in der Absicht. Stallones Figuren sind Relikte der Action, ebenso wie ihre Darsteller. Er selbst, schwerfällig und runzelig, aber aufgepumpt wie zu den besten Zeiten. Dolph Lundgren, Mickey Rourke, Jet Li als Vertreter des asiatischen Kampfkunstkinos, die ehemaligen Wrestler Randy Couture und Steve Austin und Jason Statham – der aktuelle Status Quo des Action-Kinos. Stallones Weg gegen das Altern ist der der unbändigen Gewalt. Er will es übers Knie brechen und das erscheint gerade in diesen letzten zwei Filmen so schreiend auffällig. Die freiberufliche Tätigkeit der alten Haudegen ist die Aufrechterhaltung der Männlichkeit – wer will schon ausgemustert werden? Nachdem dieser eine Satz der Filmwissenschaft geschuldet ist, will ich nun nicht mehr davon hören und fahre fort.



You got a problem with that?” (Mr. Church)
Das Aufbäumen der Actionikone im Alter ist die Verbindung zum letzten Stallone-Film. In John Rambo räumte der Herrenmensch im unterzivilisierten asiatischen Dschungel auf und wütet in einer Hass-Gewaltorgie, in der Stallone hinter viele seiner früheren Filme zurückfällt in eine gradewegs faschistoide Haltung. Anders gesagt: In Rambo II war das noch okay.

Trotz der Masse an von durchbohrten und explodierenden Körpern (Spezialmunition!?) die Action-typisch vorbeitanzen, stimmt mit diesem Film etwas ganz und gar nicht. Diagnostiziert wird ein Actionfilm klassischer Machart, der sich abgrenzt von modernen, meist comichaften Actionfilm. Ein ausgemachter Unfug, denn die derangierten, maßlos überschnittenen Kampfsequenzen haben mit einem Old-School-Actionfilm rein gar nichts zu tun, sondern sind eine Unart. So wirkt selbst der beschränkte Raum des Kellers, in dem die Helden (kurzzeitig) gefangen sind, einfach nicht. Ein niemals erschöpfender Strom an neuen Opfern fließt aus dem nicht-lokalisierbaren Off beständig auf die Helden zu. Warum haben denn alle plötzlich die Gesichter angemalt? Weil sie können. Würdige Gegner scheinen eher die bösen amerikanischen Bosse. Der abtrünnige Ex-Agent versteckt sich natürlich hinter einem wahren Schrank von Mann (Steve Austin), der – wirklich wahr – auch viereckig ist. Ross geht glatt die Puste aus, am Ende aber darf ja doch alles niederbrennen und explodieren.



The Expendables schafft es, trotz einer Besetzung, die viel Spielraum gegeben hätte für Humor und selbstreflexives Gespaße, in einer einfallslosen und nervtötenden Krawallorgie zu enden. Das haben viele der Actionfilme vom ominösen „alten Schlag“ in den letzten Jahren deutlich besser gezeigt (Die Hard 4) oder einfach spritziger verpackt (Shoot ’Em Up). Weder an der sinnlosen Action kann man sich erfreuen, noch gibt es einen erkennbaren Trashfaktor, der ebenfalls für Unterhaltung hergehalten hätte. Dabei ist Stallone doch mit Rocky Balboa durchaus eine stimmige Reminiszenz gelungen. Es reicht einfach nicht, Themen wie Altern, Angst vor Ausmusterung oder Gewaltpsychosen anzuschneiden, sie müssen auch gut verpackt werden. Das ist die besondere Kunst, gerade wenn es um Schauwerte geht. Die müden Einzeiler, die sich Stallones Helden zuwerfen sind abgeschmackt, die Zerstörungsorgie zu gleichförmig und eintönig. Die Kunst des Actionfilms ist es aber, das Chaos gekonnt zu orchestrieren. Hinter all dem Testosteron ist kein Schmackes, kein Bumms, Cojones, oder wie man es nennen will. Eine weibliche Heldin wäre die erste der vielen dringlichen Verbesserungen, denn auch die waren zu Stallones Zeiten schon erfunden.


Mathias Grabmaier



The Expendables (USA 2010)
Regie: Sylvester Stallone
Drehbuch: David Callaham, Sylvester Stallone
Kamera: Jeffrey Kimball
Musik: Brian Tyler
Produzenten: Guymon Casady, Boaz Davidson, Danny Dimbort, Basil Iwanyk, Trevor Short, Les Weldon
Darsteller: Sylvester Stallone (Barney Ross), Jason Statham (Lee Christmas), Jet Li (Ying Yang), Dolph Lundgren (Gunner Jensen), Eric Roberts (James Munroe), Randy Couture (Toll Road), Steve Austin (Paine), David Zayas (General Garza), Giselle Itié (Sandra), Mickey Rourke (Tool)
Laufzeit: 103 Min.
Kinostart Deutschland: 26. August 2010

TERE BIN LADEN

Osama von der Hühnerfarm

von unserem Partnerdienst Terrorismus & Film



Manchmal holen sich Leben und Kunst doch aufs albernste ein: Gerade noch über TERE BIN LADEN (IND 2010) geschmunzelt, mit seinem armen, zunächst unwissenden Bin-Laden-Nachahmer Noora (Pradhuman Singh), dessen größte Freude seine Hühnerfarm und bester Freund der Hahn Sikandar ist… – und prompt wird vermeldet, dass der wirklich al-Qaida-Chef wohl nicht nur die aufgedeckten Terror-Plots in Europe gebilligt haben mag, sondern sich neu zu Wort gemeldet hat. Nicht zum großen Dschihad, sondern in Sachen Landwirtschaft.



I. Mit Bin Laden in die USA

Hat die Ikone des islamistischen Terrorismus etwa Abishek Sharmas (Regie u. Buch) Film angeschaut und sich davon / daraus ein wenig Inspiration – und Sympathien – geholte bzw. holen wollen? Wie indische Terrorismusfilme im populären Kino nun mal so sind (oder sein können), erstaunt auch TERE BIN LADENs Unbeschwertheit und Unbekümmertheit, mit der man sich in Indien (immerhin selbst von nationalen sowie inter- und transnationalen Terrorismus direkt und indirekt gebeutelt) der politischen Gewalt und damit verbundenen heißen Eisen annimmt. Und hier eben in Form des Komödie, einer, die mit ihren rund 95 Minuten ungewöhnlich, geradezu „westlich“-knapp und gar ohne große Lovestory daherkommt. Tatsächlich hätte eine Freundin für die Hauptfigur Ali Hassan (Ali Zafar) gut hineingepasst. Familie und Gefühlsleben kommen in dem geschwinden Film arg kurz und hätten den Oberflächen-Figuren ein Dimensönchen mehr gegeben. Doch da spricht nur die enttäuschte Erwartung und verhinderte Konvention, denn der Film ist sogar nach Hollywood-Maßstäben rundum flott, und schließlich hat auch Ali für sowas wie Liebes- oder Familienlieben keine Zeit.

Der Pakistaner Zafar erinnert vom äußeren an „Scrubs“-Star Zack Braff und gibt hier einen ähnlichen, wenn auch souveräneren, nassforscheren Chaoten. Sein Ali ist rasender TV-Reporter für einen Klitschen-Sender in Karachi, und Alis größter Wunsch es ist, in Amerika zu leben und vor seine Haus samt American Girl das Auto zu waschen. Ein echter USA-Freak ist er, der Ali, doch als er es endlich in den Flieger schafft, macht er sich verdächtig, als er in seine Videokamera hinein den künftigen Terrorismus-Berichterstattung übt. Vollends zum Hijacker wird er, als er der hübschen Stewardess, pardon: Flugbegleiterin das fallen gelassene Buttermesser hinterherträgt.



Prompt wird Ali überwältigt, und die damit einsetzende Title-Sequenz macht sich als Song-&-Dance-Nummer einen Spaß daraus, den unglücklichen Reporter in Handschellen zwischen tanzenden Polizistinnen zu zeigen oder vor einem „American Idol“-ähnlichen Komitee, das ihn mit einer Leuchttafel als al-Qaida-Mitglied oder Taliban ausweist und wie Punkterichter über seine Deportation zurück in die Heimat befindet.



Dort bewirbt er sich in allerlei Verkleidungen neu, wird konsequent abgelehnt und versucht es im Rekrutierungs- Schrägstrich Reisebüro der „Lashkar-E-Amreeka“ (Motto: „Invading USA since 2002“). Dessen Chef schlägt ihn vor, mit der Identität eines Toten und ein bisschen Photoshop in die USA geschleust zu werden. Das kostet freilich mehr, als Ali hat, doch der Lashkar-Büroleiter bietet eine Alternative, bei der die Reise allerdings rund sechs Monate dauert und den Umgang mit der AK-47 erfordert: Ali würde einfach mit den Mudschaheddin in den Iran geschickt, dann in den Irak, wo er sich, sobald er ein US-Camp entdeckt, ergibt und Gast der Amis und umsonst in die USA gebracht würde! Als Reisender werde er schließlich auch nur von ein, zwei Kugeln unterhalb der Knie abbekommen. Ali entscheidet sich doch lieber für einen neuen Pass.



Für den muss er jetzt für den despotischen, typisch arroganten, gleichwohl dummen Sender-Boss schuften, was auch bedeutet, einen Bericht über einen Gockel-Kräh-Wettbewerb in der Provinz zu drehen. Er findet dabei nicht nur den imposanten Gewinner-Hahn Sikander, sondern auch dessen Besitzer Noora auf, der – so bemerkt Ali im Schnittraum auf – glatt wie der überall gesuchte Osama Bin Laden aussieht.

Was von der CIA über CNN bis zu Morgan Spurlock niemand geschafft hat, meinen Ali und sein Kameramann nun vollbracht zu haben. Sie freuen sich schon auf den "Finderlohn", doch beim Herumzeigen des Fahndungsbildes ernten sie nur Schelte, Lachen oder erschrockene Schreie, bis sie gemäß ihrer Videovorlage Osama eine Brille aufmalen und bei Noora auf seiner Hühnerfarm landen. Dass der nun nicht der echte bin Laden ist, stimmt sie nur kurz betrübt: Vom überzeugt kommunistischen Radiosprecher und Stimmenimitator bis zur Maskenbildnerin aus der „Lashkar-E-Amreeka“-Filiale versammelt Ali sein Team. Er lockt den ahnungslosen Noora ins Studio, lässt ihn auf Arabisch etwas vorlesen, probt mit ihm das Zeigefingerschütteln, zieht im die Flecktarnweste an und vertauscht im Hintergrund klammheimlich Hühnertapete und Eierpaletten mit Landkarte und Kalaschnikow-Sammlung. Fertig ist die Welt-News.



Für viel Geld drehen die Fälscher Alis gierigem Chef das Band an (über den Kameramann, in Burka und mit Schirm getarnt: die Burka gegen den Regen, der Schirm gegen die Blicke). Alle freuen sich. Zunächst. Doch die Drohung des falschen Osama Bin Laden lässt in den USA die Alarmglocken klingeln, die Börsenkurse abstürzen und das Militär Afghanistan invadieren. Der Plan, die Taliban mit Waffen und mobilen Kameras einzukreisen, dabei Bin Laden aus seiner Höhle zu locken, ist allerdings nur ein Vorwand: Geheimdienstler und US-Entsandter Ted Wood (Barry John) ahnt, dass sich ihr Bin Laden in Pakistan aufhalten.

Die Schlinge zieht sich um Ali und seine Kompagnons zu, derweil auch Alis Traum platzt, die Reise nach Amerika, weil aufgrund der verschärften Sicherheitslage und Einreisekontrollen das „Lashkar“-Büro dichtmacht. Als schließlich auch Noora dahintergekommen, was mit seinem Gesicht angestellt wurde, heißt es: Ein neues Video muss her! Diesmal des lieben Friedens willens…


II. „Habibi George Bush“


Der fröhlich-verhuschte Noora probt genervt seinen Text, ehe er einen verschmitzten Blick auf die vor sich hin werkelnde Maskenbildnerin Zoya (Sugandha Garg) wirft und für sie den Text zu singen beginnt. Sie lächelt; die anderen Mitarbeiter der Fake-Aufnahme, die gerade hereinkommen, stutzen. Sie und Noora schauen sich an – und anfangen gemeinsam an, ein Lied aus der Dschihad-Botschaft zu intonieren, dazu im Kreis zu tanzen: „Habibi George Bush“.

„Lieber George Bush, wie lange kannst du mich als Entschuldigung benutzen, nach Öl zu jagen? Halt ein, bevor die Welt explodiert wie eine Granate!“

Ohne Begleit-Musik, ganz innerdiegtisch, kein Song-&-Dance-Ausbruch. Als Ali hereinkommt, stoppen sie peinlich berührt und tun, als sei nichts gewesen…



TERE BIN LADEN ist gerade für westliche Augen eine seltene, originelle Verschiebung der Perspektive, die die Welt ein bisschen größer, weiter und – ja, doch – entspannter macht, weil die Figuren in letzter Konsequenz der US-dominierten Popkultur ebenso fernstehen wie dem religiösen Fanatismus eines als mittelalterlich verschrieenen Islamismus. Der Film ist durchtränkt mit einem, ja, fast möchte man sagen: typisch indischen „Leben-und-leben-Lassen“, das um ein Vielfaches toleranter ist als das des Westens, der noch ein „nach unseren Bedingungen oder Parametern“ hinterherschiebt bzw. -denkt.



Wie wohltuend unbekümmert und pragmatisch sich TERE BIN LADEN positioniert, zeigt allein schon der Umstand, dass am Schluss alle ihr Happy End haben dürfen und können. Zoya arbeitet nicht mehr im Guerilla-Werb- und -Reisebüro, sondern hat ihren eigenen Schönheitssalon (zusammen mit dem nerdigen Noora), Ali wird tatsächlich in den USA als Star-Reporter und Exklusiv-Osama-Interviewer gefeiert, und sogar der gar nicht mal negativ verhohnepiepelte Regierungsbeamte Wood, der zuvor noch in Comic-Denkblasen von seiner Karriere geträumt hat, ist aufgrund des neuen Friedens zum neuen Verteidigungsminister aufgestiegen. Das alles ist natürlich lustig und traumhaft naiv, und der al-Quaida-Standpunkt fehlt hier gänzlich, doch ebenso auffällig ist, wie wenig man ihn hier für die Bin-Laden-Medienfarce tatsächlich braucht wie – auf der anderen Seite – mit dem einheimischen Polizisten- oder Geheimdienstermittler ein seltener Staatscharakter präsentiert wird, der nicht bedenkenlos und auch von der Genre-Konvention gedeckt die Verdächtigen haut oder barbarisch foltert, sondern ganz umgänglich erscheint (schweigen wir an dieser Stelle, was im Namen des Anti-Terrorismus in Indien und Pakistan Menschen für Leid angetan wird…).

Nein, TERE BIN LADEN ist tatsächlich eine seltene Komödie, weil sie sogar im Humor so ganz ohne (selbst verharmlosten) Bösewicht auskommt. Bemerkenswert ist darüber hinaus, dass der Film – man muss er erneut betonen – eine indische Produktion ist, die ihre Handlung komplett in Pakistan mit pakistanischen Figuren ansiedelt. Pakistan ist der auch – „terroristische“ - Bruderstaat und Erzfeind Indiens, und vielleicht ließe sich diese Komödie in ihrer Leichtigkeit in etwa so fassen, indem man sich eine Peter-Alexander-Klamotte vorstellt, die Ende der 1950er explizit, maßgeblich und wohlwollend in der DDR angesiedelt ist.



Ein anderes, härteres Beispiel: Ein Dieter- nein: „Didi“-Hallervorden-Witzfilm zur Roten Armee Fraktion. Denn indem TERE BIN LADEN das lustige Reisebüro „Lashkar-e-Amreeka“ präsentiert, verulkt es mit bewundernswertem Achselzucken die Lashkar-e-Tayyiba“ (LeT), die „Armee der Reinen“, die Indien seit Jahren von Pakistan aus (wo sie vom dortigen Geheimdienst unterstützt und wohl mitbegründet wurde) nicht zuletzt über (oder aufgrund von) Kaschmir heimsucht und weltweit mit ihrem Kommando-Überfall von Mumbai im November 2008 zum Begriff wurden. Es ist daher mehr verwunderlich, warum TERE BIN LADEN in Pakistan Proteste auslöste als in Indien selbst.

Mit seinem herrlich albernen Nonsens-Film ganz nach westlichem Gusto lehrt uns Abishek Sharma anti-ideologisch zweierlei: dass jeder doch eigentlich nur schauen will, wo er bleibt (oder aber wir denen zu misstrauen haben, die dies nicht tun), und dass irgendwann, auf einer gewissen Stufe, die Ideologie und das große Ganze am besten als Privatsache zu betrachten und behandeln ist, will man in Frieden (zusammen-) leben.



Eine beredte (und als solche besonders aufgeladene Rand-) Figur ist der politisch fest (und links-) orientierte Sprecher (Akash Dhar), der auch und gerade angesichts einer Cola-Dose seinen Standpunkt vertritt und uns stutzen lässt. Ach ja, zwischen, neben und jenseits US-amerikanischem (Kultur- und Antiterror-) Imperialismus und inter- oder gegen-nationalistischem (Kultur- und Religions-) Dschihadismus gibt es oder zumindest gab es doch auch schon mal was anderes…



P.S.: "Tere Bin Laden" ist ein Wortspiel und heißt soviel wie "Dein Bin Laden", aber auch "Ohne Dich" (Tere Bin) "Laden", was auf die "Gemachtheit" des Bin-Laden-Images hinweist.

Die DVD Tere Bin Laden gibt als Indien-Import beim India Shop Ihres Vertrauens!


Bernd Zywietz

Im Kino: ICH - EINFACH UNVERBESSERLICH - Sympathy for the Evil

„Despicable Me“ (USA 2010). Regie: Chris Renaud & Pierre Coffin. Kinostart: 30.09.10


Seien wir doch mal ehrlich: Was wären Filme ohne Schurken? „Der Zauberer von Oz“ ohne die böse Hexe des Westens? „Das Schweigen der Lämmer“ ohne Hannibal Lecter? „Star Wars“ ohne Darth Vader? „Goldfinger“ ohne Goldfinger? Sie geben Superhelden eine Existenzberechtigung. Schauspieler wie Gary Oldman, Christopher Walken oder Alfred Molina wären ohne sie arbeitslos. Sie schenken jedem Disneyfilm erst die richtige Würze.

Schurken sind in. Es ist kein Zufall, dass dieses Jahr zum dritten Mal in Folge der Oscar für die beste männliche Nebenrolle an die Darstellung eines Bösewichts ging (Christoph Waltz für seine Rolle als Hans Landa in „Inglourious Basterds“, davor: Heath Ledger als Joker in „The Dark Knight“ und Javier Bardem als Anton Chigurh in „No Country for Old Men“). Das Böse fasziniert. Schurken haben eine besondere Ausstrahlung, über die Helden nicht verfügen. Denn das Böse ist übermenschlich. Im Bösen liegt eine außergewöhnliche Freiheit, das zutun, was man will – ohne Rücksicht auf andere, ohne Kompromisse. Einfach dem nächsten Impuls nachgeben. Schurken sind äußerste Individualisten: Sie sind ziemlich kreativ, sie schaffen sich eine eigene Welt nach ihren Regeln und überschreiten zur größtmöglichen Entfaltung ihrer Persönlichkeit alle herrschenden Grenzen. Einmal so böse sein wie sie- das wär‘s doch! Das Böse ist nur allzu menschlich. Manchmal fällt es einem leichter, sich mit Schurken zu identifizieren, als mit Helden. Denn als eigensinniger Träumer lebt der Schurke im ständigen Konflikt mit der Ordnung. Im Bestreben, eine völlige Autonomie zu entwickeln, zerreibt er sich schließlich an der alles subsumierenden Gesellschaft – Seine wilden Träume, die Macht in seine eigenen Hände zu bekommen und somit frei über sein Leben bestimmen zu können, sind zum Scheitern verurteilt. Am Ende ist er machtlos, bleibt ein Außenseiter. Doch statt in Verzweiflung zu verfallen, richtet er seine Wut nach außen: Er tut böses.

Diese Strategie der Superschurken wird adaptiert – böse sein ist das neue "gut". Dabei geht es weniger darum, anderen Leuten wirklich böses anzutun, als vielmehr ironisch mit dem filmisch kodierten Böse-sein zu spielen. So werteten „Pinky und der Brain“, Warner Bros. ambitionierte Labormäuse, das Streben nach Weltherrschaft zum respektierten Karrierewunsch auf jedem StudiVZ-Profil auf. Dr. Evil aus „Austin Powers“ machte die Schurkenlache („Wuhahaha!“) salonfähig. Und „Sweeney Todd“ zeigte schließlich, dass Rache ein Gericht ist, „best served sung“.



In seinem unterirdischen Reich des Bösen bastelt das evil genius Gru (Steve Carrell, deutsch: Oliver Rohrbeck) an seinen neuesten Plänen, die Weltherrschaft an sich zu reißen. Unterstützt wird er dabei von dem genialen wie senilen mad scientist Dr Nefario (Russell Brand, deutsch: Peter Groeger) und einer Schar getreuer Minions, gelbe Winzlinge mit der Form einer Kartoffel und dem Verstand einer solchen. Doch der Weg zum Thron des Bezwingers der Welt ist mit vielen Steinen versehen. Angefangen bei der eigenen Mutter (Julie Andrews, deutsch: Kerstin Sanders-Dornseif), die keine Sekunde ungenutzt lässt, ihrem Sohn zu vermitteln, für was für einen großen Versager sie ihn doch hält und selbst seine übelsten Errungenschaften nicht zu schätzen weiß. Außerdem schläft die Konkurrenz nicht.

Gru wird herausgefordert von dem jungen, aufsteigenden supernerd-gone-supervillain namens Vector (Jason Segel, deutsch: Jan Delay), der eine Vorliebe dafür zu hat, Waffen zu entwickeln, die arglose Meeresbewohner abfeuern. Während dieser es neuerdings fertig gebracht hat, die Pyramide von Gizeh zu stehlen, hatte es Gru gerade mal geschafft, die Miniaturversion der Freiheitstatue aus Las Vegas zu mopsen. Wie gut, dass Gru im Wettkampf um die Weltherrschaft, wie es sich für jeden guten Schurken gehört, ein Ass im Ärmel hat in Form eines gewaltigen Planes: Er hat nichts Geringeres vor als den Diebstahl des Mondes! Wäre da nicht dieses ewige Dilemma mit dem Geld. Da Grus letzte Projekte nicht gerade vom Erfolg gekrönt waren, will sein Geldgeber, der ungehaltene Mr. Perkins (Will Arnett, deutsch: Axel Lutter), seines Zeichens Kreditmanager der Bank of Evil („formerly known as Lehman Brothers“), Gru erst das Geld geben, wenn dieser den Schrumpfstrahl, das zentrale Werkzeug in Grus finstrem Plan, in seine Gewalt gebracht hat. Ansonsten dreht ihm die Bank nicht nur den Geldhahn, sondern gleich auch noch den Hals um. Dumm nur, dass sich ebenbesagter Schrumpfstrahl in den Händen seines Erzfeindes Vector befindet.

So bleibt Gru keine andere Wahl, als in Vectors uneinnehmbare Festung einzudringen. Nach etlichen Versuchen, die alle in einem spy vs spy–Fiasko à la Mad Magazine endeten, wird Gru Zeuge, wie drei kleine Waisenmädchen unbehelligt in Vectors Versteck spazieren, um ihn seine Lieblingscookies zu verkaufen. Das bringt Gru auf eine geniale Idee: Er benutzt die zu diesem Zweck frisch adoptierten Mädchen und ihren Bollerwagen voller Cookies als trojanisches Pferd für seine Keksroboter, mit deren Hilfe er an den Schrumpfstrahl gelangen will. Doch in all seinen Plänen hat Gru eines nicht bedacht: Dass die aufgeweckte Margo (Miranda Cosgrove, deutsch: Friedel Morgenstern), die freche Edith (Dana Gaier, deutsch: Derya Flechtner) und die von Süßigkeiten und Einhörnern träumende Agnes (Elsie Fisher, deutsch: Sarah Kunze) bald seine gesamte Welt auf den Kopf stellen werden. Sie konfrontieren in schließlich mit seiner schlimmsten Seite: seiner Menschlichkeit.




James Bond meets „The Addams Family“

„Ich – Einfach Unverbesserlich“ ist der erste Film von Universal Pictures neu gegründeten Abteilung für Familien- und Animationsfilm, der Produktionsfirma Illumination Entertainment. Gründer ist kein geringerer als Produzent Chris Meledandri, der zuvor 13 Jahre lang für 20th Century Fox das Animationsdepartment leitete und für Erfolge wie die „Ice Age“-Franchise, „Robots“, „Horton hört ein Hu“ oder den „Simpsons“-Film verantwortlich war. Als Animationsstudio für Illumination Entertainments ersten Filmstreich suchte sich Meledandri das französische Studio Mac Guff aus. Unter der Leitung der beiden Regisseure Chris Renaud und Pierre Coffin kreierten die Animationskünstler eine liebevoll ausstaffierte Welt des Bösen, in der es nur so von Filmzitaten und Genrekarikaturen wimmelt.

Für die Außenwelt wählten die Künstler einen suburban gothic-Stil à la Tim Burton. Ebenso wie der ehemalige Disneyzeichner arbeiteten die Künstler auch hier mit einem klaren Kontrast von angenehm-düster und schrecklich-bunt. Nur, dass sich Grus dunkles, viktorianisches Anwesen, das auf Universals Horrorfilmgeschichte der 30er Jahre verweist, sich nicht wie Edwards romantisch-schauriges Spukschloss aus „Edward mit den Scherenhänden“ auf einem abgelegen Berg befindet, sondern gleich Haus an Haus mitten in der aufdringlich farbenfrohen Kulisse einer zeitlich irgendwo zwischen den 50ern und 60ern gefangenen Vorstadtidylle.



Die Inneneinrichtung von Grus Haus borgt sich einiges von dem schwarzen Humor des Zeichners Charles Addams – Gru erinnert selbst von seinem äußeren Erscheinungsbild, eine gelungene Mischung aus Ernst Stavro Blofeld und Graf Orlok aus Murnaus „Nosferatu – Eine Symphonie des Grauens“, stark an Onkel Fester aus der „Addams Family“. So hängt an der Wand ein Raubtier als Beute im Maul eines noch größeren Raubtiers im Maul eines noch noch größeren Raubtiers. Der Teufel steckt eben im Detail. Überhaupt ist das Haus praktisch übersät mit etlichen Todesfallen. Der ideale Spielplatz für Kinder also. Doch ein geheimer Zugang in klassischer Batman-Manier verschafft Zugang in Grus unterirdisches Versteck, bei dessen Anblick jeder James Bond-Superschurke nur vor Neid erblassen würde. Grus in doppelter Hinsicht charmant altmodisches Reich des Bösen – Außen Maniac Mansion, Innen 60er Jahre spy thriller-Ambiente – steht allerdings im klaren Widerspruch zu Vectors neumodischer Technikhochburg. Statt gruselig-heimischer Atmosphäre versprüht seine Unterkunft den kühl-futuristischen Charme einer X-Box. Seine „Fortress of Vectortude“ erweist sich als die einsame Festung eines verwöhnten Jungen, in deren leeren Hallen er den ganzen Tag im Trainingsanzug gelangweilt Wii zockt.


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Wie beim Design bezieht auch die Story ihren größten Reiz durch den Kontrast aus Grus Welt des filmischen Bösen und der überzeichneten Alltagswelt. So muss Gru den Gesetzen seiner Figurenzeichnung gehorchend stets seine sadistische Ader zum Vorschein bringen – selbst in den banalsten Alltagssituationen. Auch wenn es darum geht, beim Einparken des eigenen Ungetüms von einem Auto so viele Vehikel wie möglich zu demolieren oder beim Anstellen in einem Caféladen sich nach vorne zu drängeln, indem man die Leute aus der Warteschlange mit einem Gefrierstrahl malträtiert. Es sind halt doch die kleinen Dingen im Leben, an denen man sich am meisten erfreut.

Interessanterweise ist ein sadistischer Tick, mit dem Gru im Film eingeführt wird, gleichzeitig überaus vielsagend für seinen Charakter: Er liebt es, kleinen Jungs die Luftballons zu zerstören. Zu seinem Leidwesen muss dies auch ein ahnungsloser Junge in der Exposition feststellen. Er hat gerade sein Eis auf den Boden fallen lassen und ist darüber natürlich todtraurig. Gru entdeckt ihn, erkennt seine niedergeschlagene Situation und schenkt ihm prompt zur Aufheiterung einen selbst gezwirbelten Luftballonpudel. Der Kleine ist überglücklich, sein Tag ist gerettet – Doch plötzlich lässt der gezielte Stich einer spitzen Nadel den Luftballon und somit die Freude des Jungen zerplatzen. Gru grinst zufrieden, wirft die Nadel aus der Hand und schiebt den erschütternden Jungen beiseite.



Es ist, als wollte Gru dem kleinen Jungen eine Lektion fürs Leben erteilen: Wenn man am Boden ist, bauen Hoffnungen und Träume einen nur so lange wieder auf, bis sie wie ein Ballon mit einem Mal explodieren und einen nur noch weiter in die Verzweiflung treiben. Der verbitterte Erwachsene kommuniziert hier mit seinem damaligen, kindlichen Ich. Auch Gru hatte einmal einen Ballon voller Träume, er wollte zum Mond fliegen, wie seine Helden Armstrong und Co aus dem Fernsehen. Doch mit einem gezielten Stich in Herz brachte seine ablehnende Mutter seine Träume zum Platzen:

Klein-Gru: „Mom, someday, I'm going to go to the moon!“
Grus Mutter: „I'm afraid you're too late, son. NASA isn't sending the monkeys anymore.“



Seither wurde der Kampf um die Aufmerksamkeit der Mutter zur Triebfeder seines bösen Schaffens – bis hin zu seinem gigantomanischen Plan, den Mond zu stehlen. Seine Bösartigkeit und Sadismus ist nur der Versuch, über ein verletztes Herz hinweg zu täuschen. Gru war eigentlich nie richtig böse. Genauso wie Vector. Die wirklich Bösen sind andere: Die Institutionen. Vertreter der Ordnung. Da wäre zum Einen die patente Miss Hattie (Kristen Wiig, deutsch: Nana Spier), die Leiterin des Waisenhauses. Hinter ihrer scheinbaren Freundlichkeit steckt eine rigorose Despotin, die über ihr Mädchenwaisenhaus (und das damit verbundene Cookie-Imperium) mit eiserner Faust regiert. Wer aus der Reihe tanzt, kommt in die „Ich schäme mich“-Kiste. Dann gibt es natürlich noch die Bank of Evil. Klar, dass in der heutigen von Finanzkrisen und maßlos wie korrupten Managern gebeutelten Zeit die Bank als wahrer Nucleus des Bösen herhalten muss. Ihre erdrückende Macht wird wunderbar in der Architektur ihrer Eingangshalle visualisiert: Dort erblickt Gru eine Reihe von Säulen, unter deren Bürde die stützenden Menschenstatuen regelrecht zerquetscht werden. Doch unter all den bösen Autoritäten entpuppen sich ausgerechnet die Eltern als Wurzel allen Übels.

Das bezaubernde Wesen von Grus Mutter haben wir ja schon kennengelernt – Grus Verhältnis zu ihr steht den verhängnisvollen Beziehungen von großen Bösewichtern wie Norman Bates oder Tony Soprano zu ihren Müttern in nichts nach. Umso ironischer erscheint dabei die Besetzung von „Mary Poppins“-Darstellerin Julie Andrews als Grus nicht liebende Mutter. Doch auch Vector hat Probleme mit seinem Vater, der sich als kein geringerer als der unbarmherzige Mr. Perkins, Vorsitzender der Bank of Evil, erweist. Auch Vector kämpft mit seinen Verbrechen letztlich nur um die Anerkennung seines Vaters und versucht, dem Bild des kleinen, nichtsnutzigen Verlierers zu entkommen, das ihm Vater weiterhin auferlegt: „I’m not Victor anymore, I’m Vector!“




Superbad. Superdad.

Als seine Ersatzfamilie, die er sich mit seinen Minions und dem (Groß-)Vaterersatz Dr. Nefario aufgebaut hat, durch die drei kleinen Mädchen erweitert wird, entdeckt Gru sein Bedürfnis für Zuwendung und – ausgerechnet – seine Talente als Vater. Es stellt sich das heraus, was man schon die ganze Zeit vermutet (und befürchtet) hatte: Gru ist kein Schurke, sondern nur ein Antiheld, oder besser, ein reluctant hero, ein Held wider Willen. Denn ein Schurke kann kein Happy End haben. Trotz aller Subversion darf man nämlich nicht vergessen, dass „Ich – Einfach Unverbesserlich“ ein unterhaltsamer Familienfilm ist, der vor allem, wie soll‘s auch anders sein bei einem Animationsfilm, durch seine Bilder überzeugt. Neben dem detailverliebten Design ist dafür auch nicht zuletzt die beeindruckende 3D-Optik verantwortlich, die eine Achterbahnfahrt im „Super Silly Fun Land“-Vergnügungspark zu einem atemberaubenden Kinoerlebnis macht. Doch leider lässt der Film bei allem Oberflächenrausch die Tiefe der Erzählung vermissen, die Konkurrent Pixar zuweilen noch gekonnt in das Bildvergnügen einzuverleiben weiß. So überschattet die gelegentlich in Kitsch abzurutschen drohende Sentimentalität des Films die angedeutete Tragik, die der Stoff um das Leben eines Superschurken nunmal innehat. Die große Versöhnung am Ende lässt keine dunklen Trübungen mehr zu, der Film kehrt zu altgewohnten Konventionen zurück. Die Ordnung hat wieder gewonnen. So ein Mist.

Simon Born


DESPICABLE ME

Regie: Chris Renaud, Pierre Coffin
Drehbuch: Cinco Paul, Ken Daurio, Sergio Pablos (Story)
Produzenten: Chris Meledandri, Janet Healy, John Cohen, Sergio Pablos, Nina Rowan
Produktionsdesign: Yarrow Cheney
Musik: Pharrell Williams, Heitor Pereira
Sprecher: Steve Carell (Gru, deutsch: Oliver Rohrbeck), Jason Segel (Vector, deutsch: Jan Delay),
Russell Brand (Dr. Nefario, deutsch: Peter Groeger), Kristen Wiig (Miss Hattie, deutsch: Nana Spier), Miranda Cosgrove (Margo, deutsch: Friedel Morgenstern), Will Arnett (Mr. Perkins, deutsch: Axel Lutter), Danny McBride (Fred McDade, deutsch: Hans-Jürgen Dittberner), Dana Gaier (Edith, deutsch: Derya Flechtner), Elsie Fisher (Agnes, deutsch: Sarah Kunze), Julie Andrews (Grus Mutter, deutsch: Kerstin Sanders-Dornseif)
Verleih: Universal Pictures
Laufzeit: 95 Min.
Kinostart Deutschland: 30.09.2010