Filmfest München - Fahrradjungs

Zu meinen kurzen Anmerkungen zu "Michael" wäre zu ergänzen, dass er mal von einem Auto angefahren wird. Gips, Gehirnerschütterung, Krankenhaus - und wir hoffen so sehr, dass für seinen geheimen Gefangenen genug 5-Minuten-Terrinen im Kellerverließ vorrätig sind...
Autounfälle sind sowieso ein Leitmotiv des Festivals, dauernd wird einer umgerannt. In "Henry & Julie" wird Henry von Julie auf der Straße angefahren, so lernen sie sich kennen - Keanu Reeves und Vera Farmiga sind das, naja, der Film - ein schräges Heist-Movie inkl. Theatermilieu - könnte witziger und spritziger sein. Zu Anfang von "Kleine wahre Lügen" eine lange, ungeschnittene Sequenz, die mit einem Knall endet - der Anfang einer französischen Familienensemble-Komödie, die perfekt getimt stets die richtige Nuance für einen Lacher ausreizt. Da waren noch mehr Unfälle in verschiedenen Filmen, hätte man sich als getreulicher Berichterstatter eigentlich merken sollen.

Auf jeden Fall hat der dreizehnjährige TJ in "Hesher" von Spencer Susser dauernd irgendwelche Unfälle, am Anfang wird er vom Auto angefahren, zwischendrin umgefahren, am Ende auf dem Schrottplatz vom Kran aus einem Autowrack herausgeschüttelt... Er ist die Hauptfigur, die Titelfigur aber wird gespielt von Joseph Gordon-Levitt: Ein langjahriger, vergammelter Typ, Mischung aus Mephistopheles, Pale Rider und Otto der Busfahrer, der sich im Haus von TJs Oma einnistet; wo TJ und sein depressiver, dauerschlafender Papa wohnen.

Könnte eine Geschichte sein von der Heilung einer derangierte, erschütterten Familie - TJs Mama ist bei einem Unfall (!) ums Leben gekommen, und sie müssen sich jetzt ein neues, ertragbares Leben einrichten. Dieses Motiv des Feelgood-Schräge Komödien-Genres aber wird völlig desavouiert durch Hesher, der die reine Destruktion, die reine Anarchie, das reine Es verkörpert. Mit einem unglaublich witzigen Effekt; warum kam der Film eigentlich nicht schon längst in die deutschen Kinos (Premiere war beim Sundance 2010)? Wo doch sogar Natalie Portman eine Nebenrolle übernommen hat, die den Film auch mitproduziert hat?

TJ jedenfalls flitzt dauernd mit dem Fahrrad rum; so wie der junge Cyril in "Der Junge mit dem Fahrrad" von den Dardenne-Brüdern, Eröffnungsfilm von München 2011. Der wohnt im Heim, will Kontakt zum Papa, der aber nichts von ihm wissen will, findet dafür Samantha, die ihn am Wochenende bei sich aufnimmt und als gute Fee ihn auf den rechten Weg bringen will. Trotz seiner Tobsuchtsanfälle, Trotzigkeiten, Rotzigkeiten, seiner Bekanntschaft mit einem Kriminellen, der ihn für üble Zwecke einspannt; obwohl Samantha dafür ihren Freund vor die Tür setzen muss. Außer Samantha - Cécile de France - sind alle Rollen Dardennetypisch mit Laien besetzt; das ist durchaus kraftvoll und hervorragend inszeniert, wirkliche Authentizität will sich aber nicht einstellen, zu konstruiert und ausgedacht wirkt alles. Nicht einmal, dass Samantha ein unendlich geduldiger guter Engel ist, die das reine Gute verkörpert; die Sache zwischen Cyril und dem Vater, oder zwischen ihm und Wes, dem älteren Gauner: die sind nur Funktionen auf dem Weg von Cyril aus dem Niemandsland seines bisherigen Lebens ans rettende Ufer.

Anders "Hesher", der im Grunde genau die gleiche Geschichte erzählt, nur als Anarchokomödie. TJ und Cyril rasen ziellos mit dem Rad rum, der eine vermisst Mutter, der andere Vater; der kümmert sich in beiden Fällen nicht um sie; Hesher ist ein mythisch-dunkler, Samantha ein mythisch-heller Engel, der zu einer gewissen Seligkeit führt. Nur wo bei den einen eine soziale Botschaft vorherrscht, gehts bei den anderen ums Asoziale, das einen weiterbringt.

Harald Mühlbeyer