Filmfest München

I. Trend verschlafen?

Gestern angekommen. Akkreditierung abgeholt - nicht mehr eine Plastikkarte mit Magnetstreifen, sondern ein perforiertes Papierdings, was man so rausreißen und dann in ein Plastikding reinpfriemeln muss: Rückschritt in alte Zeiten? Oder Zeichen von Outsourcing, Individualisierung und sonstigen soziologischen Themen, die die performative Gestaltung des Alltags umfassen?
Listen mit den Pressevorführungsterminen lagen auch nicht aus. Muss man sich online runterladen und selbst ausdrucken, hieß es, weil sich da jederzeit was ändern kann und dann eine Menge Papiermüll anfällt. Und schon fühlt man sich irgendwie altmodisch, ein Relikt aus haptischen Zeiten, ein analoger Dinosaurier.
Dann, bei McDonald's, der Verkäufer: Sie kennen sich aus mit Kino? Ja klar. Das ist mein Fachgebiet. Ich setze bejahend zum geistigen Höhenflug an und werde prompt wieder runtergeholt: Was ist denn 4D-Kino? Das habe ein Gast zuvor gefragt, ob's in München ein 4D-Kino gibt - und da muss ich passen. Und werde noch weiter gedemütigt: Die Kollegin weiß Bescheid: Das ist mit Bewegung! 3D mit wackelnden Sitzen!
Ich fühle mich noch mehr out of date. Habe offenbar eine Menge verschlafen.

Bzw., bei näherer Ansicht: Das ist ja doch schon ein alter Huhttp://www.blogger.com/img/blank.gift. Sowas hatten wir doch vor zwei Jahren, am William-Castle-Abend vor dem Filmfest '09! Bin also doch wieder mit mir selbst versöhnt.

II. Einklang von Inhalt und Form


Am nächsten Tag fast ein neuer Schock: Ich hatte nicht aufgepasst. Die Karten, die ich mir geholt hatte, nicht nachgeprüft. Weshalb eine fehlte, wie ich zehn Minuten vor Filmbeginn bemerkte. Schnell zur Kasse, eine neue holen - Riesenschlange. Zum Glück ganz vorne: Kollegin K., mit deren Hilfe ich mich elegant vordrängen konnte. Um dann eine Karte für die falsche Vorstellung ausgedruckt zu bekommen! Nochmal das ganze, Akkreditierungsbarcode einscannen, ausdrucken, das dauert... ich habs geschafft, zu Beginn des (neu gestalteten) Filmfesttrailers im Kino zu sitzen.

"Damals war Schwerkraft überall" / "Gravity Was Everywhere Back Then" von Brent Green. Einer der Filme, für die man Filmfestivals besucht. In die man sonst kaum kommen würde, und die man von hier aus aller Welt empfehlen kann.
Erstens ein atemloser Voice-Over-Sermon, essayistisch-persönlich gehalten von jemandem, der der Filmemacher sein kann. Er erzählt von Leonard, von dessen Kampf gegen die Krebskrankheit seiner Frau, wie er diverse Heilungsmaschinen baute, große, schräge, bunte Skulpturen im Garten. Schließt im weiteren Verlauf poetische Betrachtungen über Gott, Tod, Gerechtigkeit, Wunder und Glaube an (Konzepte, die er mehr oder weniger pauschal verwirft). Und natürlich erzählt er die Geschichte einer großen Liebe.
Die in den Bildern nachgestellt wird, auf experimentelle Weise. Die häufigen Unterbrechungen durch Schwarzblenden erinnern an einen Diaabend, nur dass die Bilder sich bewegen; die Bilder selbst sind quasi per Stopptrick aufgenommen, die Darsteller haben sich offenbar langsam bewegt und wurden dann mit Zeitraffer aufgenommen. Was einen faszinierenden Effekt hat, zittrig, sprunghaft, wie (schlecht/handgemacht) animiert. Zwischendurch tatsächlich Animationselemente im Handlungsverlauf; und außerdem handgeschriebene Zwischentitel wie im Stummfilm.
Leonard und Mary lernen sich auf skurrile Weise bei einem Autounfall kennen, lieben sich, und sie bekommt Krebs. Leonard arbeitet, will ein Wunder erwirken: indem er ihr ein Vogelhaus baut, in dem sie wohnt, indem er Skulpturen/Maschinen zur Heilung baut. Doch vergebens. Eine große Liebe, aber er hatte ihr Leben nicht in der Hand. Und das sei tatsächlich passiert, 1972, noch 1985 habe Leonard (der nach normalen Maßstäben schlichtweg verrückt genannt werden muss) seiner Mary einen verzweifelten Liebesbrief geschrieben.

Ganz einfach gemacht, eine einfache Handlung, billig dargestellt, originell zwar, aber auch zu Anfang sehr gewöhnungsbedürftig - und doch sehr berührend, je weiter es geht. Weil in der selbstgebastelten Machart, in der Animation mit menschlichem Darstellermaterial mit dem Bastelfimmel im Film korrespondiert. Leonards Verzweiflung an der Krankheit von Mary, die sich am fieberhaften Heimwerkeln an sinnlosen Gerätschaften ausdrückt, überträgt sich auf die Form, was dem Film etwas dringendes gibt, als sei er selbst ein höchst persönliches Projekt - eine selbstgebastelte Maschine zur Heilung von was auch immer. Wenn man sich auch wenig mit den Darstellern identifizieren kann - das Schauspiel kommt zu kurz, wenn man sich superlangsam bewegen muss: Auf Film in seiner bizarr verzerrten Harmonie aus Form und Inhalt kann man sich emotional einlassen.

Harald Mühlbeyer