HAZAAR CHAURASI KI MAA

Von unserer Partnerseite "Terrorismus & Film" zum Thema indische Maoisten ("Naxaliten") im indischen Kino (Näheres zu den Hintergründen HIER).


I.
Als Drama ist der Hindi-Film HAZAAR CHAURASI KI MAA – übersetzt: „Die Mutter von 1084“ – eine Erzählung über emotionale und familiäre direkte und tragische Betroffenheit, die besonders schrecklich ist und schwer wiegt, weil sie mit Unverständnis für jene idealistischen Zielen, um die es geht, einhergeht - jenen ideologischen Wertabschätzungen sowie politischen und sozialen Spannungen und Auseinandersetzungen.

HAZAAR CHAURASI KI MAA ist die Adaption des gleichnamigen, freilich bengalischen Romans Hajar Churashir Ma der politisch und sozial engagierten Schriftstellerin und Journalistin Mashasweta Devi (das Buch erschien 2003 auch auf Deutsch). Da Devi lediglich in bengalischer Sprache schreibt, ist sie erst spät außerhalb Indiens bekannt geworden; in Deutschland wurde man vor allem anlässlich ihrer Eröffnungsrede auf der Frankfurter Buchmesse 2006 – Indien war Gastland – auf sie aufmerksam.

Die ruhige Filmadaption jenseits aller Song-and-Dance-Szenen (aber doch inszeniert mit einer im populären Hindi-Kino nicht unbekannten, aber schlecht zu beschreibenden, schlichten, aber nicht plumpen „Direktheit“, einer kunstlosen, gleichsam satten Unmittelbarkeit), diese Verfilmung drehte Govind Nihalani. Jahrgang 1940, inszeniert er seit den frühen 1970ern für das Kino und das Fernsehen. Er lieferte mit ARDH SATYA (1983) mit Om Puri als Hauptdarsteller einen wegweisenden Film in puncto Darstellung von (gebrochenen, korrupten, in Gewissensnöten steckenden und zur Brutalität neigenden) Polizeibeamten ab. Ebenfalls von ihm und auch mit OM Puri: DROH KAAL / DROHKAAL (1994), ein Film über gefährdete Undercover-Polizisten innerhalb einer Terroristengruppierung, die wiederum gute Beziehungen zu Politikern und Sicherheitskräften pflegt. In diesen Filmen wie in HAZAAR CHAURASI KI MAA führte Nihalani auch die Kamera selbst.

HAZAAR CHAURASI KI MAA setzt ein in der politisch gespannten Lage in Westbengalen Anfang der 1970er Jahre, selbst wenn davon im Film wenig zu sehen ist. Die „Befreiungskämpfe“ finden woanders statt, in einem für die Schicht, die der Film präsentiert, furchtbar weit entfernten, gesellschaftlich und gar psychologisch fremden Raum. Im Mittelpunkt des Films steht ein apolitisches Individuum, das sich mit der bislang auf Distanz gehaltenen Realität auseinandersetzen muss, wozu es auch die in Indien kulturell und sozial so eminente symbolische, fast mythische Rolle zwingt, die es innehat: die der Mutter.




II.
In den frühen Morgenstunden in Kalkutta klingelt das Telefon im nicht unbedingt reichen, aber doch gutbürgerlichen Haus der Familie Chatterji. Mutter Sujata (Jaya Bhanduri) nimmt den Anruf entgegen. Wie sie mit Brati Chatterji verwandt sei?, wird sie bürokratisch-barsch gefragt. Brati (gespielt von Joy Sengupta), das ist ihr (erwachsener) Sohn - so erklärt sie, woraufhin ihr nur knapp beschieden wird, sie solle nach Kantapukur kommen, um ihn zu identifizieren. Die Mutter versteht die Welt nicht, der Vater Dibyanath (Anupam Kher), ein Geschäftsmann und primär um den Ruf (und damit Lebensstandard) der Familie besorgt, will den Vorfall möglichst vertuschen, wer weiß, wo der Junge nur wieder hineingeraten ist. Doch es geht nicht bloß um eine Verhaftung; der Hausangestellte klärt sie auf: Kantapukur ist das Leichenschauhaus.






Tatsächlich muss Sujata (ohne ihren Mann) in der kargen Halle mit mehreren Toten, die da auf dem Boden liegen, unter dem weißen Laken die Leiche „1084“ als ihren Sohn erkennen. Und nicht einmal um die letzten Riten kann sie sich, so schockiert wie gefasst, kümmern, kann keine Trauerzeremonie organisieren: Der harte, aber nicht gänzlich unverständige Polizeioffizier Pal (Milind Gunaji) erklärt ihr, man werde sich hier darum kümmern – und zwar sofort. Und so wird der bis dahin im Film immer noch gesichtslose Brati mit den übrigen anonymen Toten verbrannt.

HAZAAR CHAURASI KI MAA folgt nun Sujata, und macht die klassisch passive und trauernde Mutter-Figur zur aktiven Ermittlerin in eigener Sache. Dabei geht es nicht um einen Kriminalfall; Sujata will nur wissen, will verstehen, was geschehen ist, wohl auch, weil sie – nicht zuletzt als Frau - sich stets untergeordnet hat, wie es sich schickt. Sie sucht ihren toten Sohn, den Studenten, in ihrer Erinnerung und rekonstruiert sein Doppelleben als kommunistischer Aktivist. Ganz bei Sujata bleiben wir dabei, wobei der Film zum Mittel der Voice-Over-Gedankenstimme greift. Das wirkt vielleicht steif, ist aber sinnhaft, als dem ruhigen angestammten Auftreten der liebevollen Mutter dadurch konterkarierende stumme, gar verborgene bittere Gedanken hinterlegt werden, die immer mehr an die Oberfläche drängen und die der auch und gerade im Kino so standardisierten „leidenden Mutter“ als Stereotyp, das hier ein Eigenleben bekommt, nicht ohne Weiteres zugesprochen werden könnte.

Der Vater ist froh, dass der Name seines Sohnes und damit der Familie nicht in die Presse geraten ist. Die Polizei kommt ins Haus, durchsucht Bratis Zimmer, verwüstet es, schneidet die Matratze auf. Sie findet selbstgemachtes Propagandamaterial, einschlägige Bücher: Marx, Lenin. Sujata erinnert sich, in Rückblenden, an liebevolle Momente mit ihrem erwachsenen Sohn, wie dieser mit seinem Vater oft aneinander geraten ist. Der Vater ist Realist, ihm gilt, dass man vorankommt, etwas erreicht, dabei die herrschenden Regeln beachtet, klüngelt – jeder ist sich selbst der Nächste. Brati hingegen war Idealist, der die Welt oder zumindest: die gesellschaftlichen Zustände verbessern wollte, den Hunger der Entrechteten stillen. Polizeikugeln, entgegnet der Vater, füllen auch keinen leeren Magen.



Sujata lernt die Mutter eines der anderen Opfer kennen und dabei eine ihr bis dahin fremde Welt: die der Armen. Beider Söhne und ihre Freunde haben sich in der Unterschichtenhütte getroffen, sich solidarisiert Pläne geschmiedet, auch in der fatalen Nacht. Ein Mob war vor dem Haus aufgezogen, dem sich die jungen Männer erst ängstlich, dann mit gereckten Fäusten angstmutig gestellt haben. Und totgeschlagen wurden.





Auch Bratis Freundin Nandani Mitra (Nandita Das) lernt Sujata kennen, von der sie bislang nichts wusste. Auch Nandani ist Aktivistin, und schon zu Beginn des Films werden wir Zeuge, wie sie verhaftet, später brutal vom Beamten Pal verhört und geschlagen wird. Nandani, nun wieder auf freiem Fuß, berichtet (ebenfalls vom Film in Rückblenden dargeboten) von ihren konspirativen Treffen, von den revolutionären Plänen und Diskussionen der kleinen Studentengruppe, welchen Weg sie einschlagen wollen – einen friedlichen, den der Gewalt? Und dass offenbar einer der ihren ein Polizeispitzel und agent provocateur war, den Nandani schon in Verdacht hatte.





III.
Wohl nicht zuletzt dank der Romans weist HAZAAR CHAURASI KI MAA eine sorgfältige Dramaturgie auf. Er zeichnet Schritt für Schritt und entlang von Bratis Weg und dessen Rekonstruktion die innere Emanzipation der bengalischen Mutter nach, die aus der angestammten Rolle der Passiven, Häuslichen und Duldsamen langsam herauswächst: über ihre neue („Schwieger“-)Tochter und den noch in ihren Erinnerungen so präsenten Brati, dessen Worte sie jetzt erst zu verstehen beginnt, verstehen will und muss. Brati, der ihr in seinem ganz sanften revolutionären Furor selbst dereinst sehr liebevoll vorgehalten hat, dass sie als Frau und Mutter ähnlich all der Armen und Ausgebeuteten nur ein verblendetes, unterdrücktes Opfer sei.

So fühlt sich Sujata immer mehr von ihrem Mann entfremdet, spürt ihr wohlbehütetes familiäres und gesellschaftliches falsches Leben wie die Leibschmerzen, die sie schon länger plagen, erfährt die Konventionen und das Oberschichtsgebaren um sie herum als eine (selbst-)verlogene Posse, die ihren ekelhaften Höhepunkt in einem Fest im Hause der Chatterjis findet: Genau ein Jahr nach Bratis Tod (und an seinem Geburtstagsdatum) feiert die Tochter ihre Verlobung. In ihren schönen Kleidern ergehen sich die Gäste, zumeist Geschäftsfreunde, in oberflächlichen, geistlosen Gesprächen – und irgendwann steht sogar der Polizist Pati vor dem Haus, der Brati schnell hat verbrennen lassen, der Nandani malträtiert hat; er will gratulieren; die Tochter lächelt, will ihn gar ins Haus einladen.

Mit und durch Sujatas Augen sehen wir dies alles, distanziert, einsam in dieser Geselligkeit, angewidert, schockiert, wie im Taumel, und tatsächlich ist Sujata fiebrig. Mit einem Schrei bricht sie zusammen: Blinddarmdurchbruch – ein auf der konnotativen Eben der Filmerzählung wie in der Psychologie der Figur symbolischer (Erinnerungs-)Akt, einer der Geburt. Im Krankenhaus liegt Sujata geschwächt im Bett, die Schwester bringt ihr ein – ihr – Neugeborenes. Sujata lächelt, streichelt das Kind, ihren Brati. Herzzerreißend glücklich.



Dieser Rückblende oder -erinnerung, diesem Sinnbild und Fieber(halb)traum folgt ein unauffälliger Zeitsprung. Impressionen von Kalkutta – und erneut läutet das Telefon, nur diesmal ist es moderner und Sujata, mit Brille und ergrautem Haar deutlich älter. Viele Jahre sind vergangen; Nandani ruft an, kommt in die Stadt, möchte die Gelegenheit nutzen, Sujata zu besuchen. Im Haus der Chatterjis hat sich etwas getan. Der Vater ist kränklicher, altersmilder; und nun ist es seine Frau, die den aktiven Part übernommen hat. Sie arbeitet in einem Menschenrechtszentrum, führt dort Bratis Kampf quasi auf kleiner Ebene weiter. Dort trifft sie am Nachmittag die ebenfalls gealterte Nandani. Bratis Vater Dibyanath ist mitgekommen, möchte Nandani kennenlernen – es wird deutlich: Er fühlt, dass er etwas aufzuholen, wieder gutzumachen hat.



Die Zeiten haben sich geändert, nicht viel, aber immerhin: Nandani, nun ebenfalls mit Brille und langsam grau werdend, arbeitet jetzt im Delhi für die Regierung. Nach Kalkutta ist sie wegen eines Rechtsfalls gekommen – den Polizist Pal stellt sie vor Gericht. Dibyanath erkundigt sich, was ihr Mann zu ihrem Engagement sage. Nandani lächelt, ein bisschen traurig: Sie ist nicht verheiratet. Sicher, ihre Mutter hatte tatsächlich dereinst noch eine gute Partie für sie gefunden – Mädchen mit revolutionärem Background waren in Mode. Sie aber hat abgelehnt. Ihr Beruf ist ihr ganzes Leben geworden.

Draußen verabschieden sie sich – Dibyanath und Nandani teilen sich ein Taxi, Sujata winkt ihnen hinterher. Und wird Zeuge, wie zwei Männer den Leiter des Bürgerrechtszentrums, der gerade das Haus verlässt, auf offener Straße mit hassverzerrten Gesichtern niederschießen. Sie laufen zum Fluchtwagen, einer stößt Sujata zur Seite, doch den zweiten versucht sie halten, packt ihn, lässt sich nicht abschüttelnd - weinend, entsetzt, aber mit ganzer Kraft klammert sie sich an ihn, an seine Beine, lässt sich mitschleifen, durch den Staub, lässt ihn nicht weg. Bis endlich auch die Umstehenden ihr zur Hilfe eilen und den Mörder festnehmen.

Nachts schließlich besucht sie ihr toter Sohn. Er steht an ihrem Bett, beide lächeln sich an. Ob es eine Fantasie und Vision ist, ein Wunschtraum, eine Allegorie oder ein Geist, der bereit ist, sie mit sich zu nehmen, das lässt HAZAAR CHAURASI KI MAA auf berührende Weise offen.



IV.
Wenn sich die ältliche, rundliche Frau im Sari in extremer Zeitlupe an die Beine des Mörder klammert, ihn an der Flucht hindert, als ginge es darum, ihren Sohn festzuhalten, dann hat dieses Bild das ikonische Potential und die symbolische wie emotionale Wucht wie jenes der Schauspielerin Nagis in der Rolle der Radha, in Mehboob Khans berühmten epischen und sinnbildlichen Tragödienklassiker MOTHER INDIA (1957), jene Radha, die sich verzweifelt selbst vor den Pflug spannt, um ihren Acker zu pflügen und ihre Kinder zu ernähren. Oftmals ist es in indischen Geschichten die Mutter, die das Leiden verkörpert und die sich aufopfert, gar ums Leben kommt oder sich ob der Gram das Leben nimmt. In HAZAAR CHAURASI KI MAA ist es anders oder genauer: hier wird die Rolle umgestülpt – es ist die Mutter, die nun übrig bleibt, in den Mittelpunkt gerückt wird, und dort sich erst zurechtfinden muss. Soll sie weiter stillhalten und lediglich trauern, wie es ihr die Gesellschaft anträgt?



HAZAAR CHAURASI KI MAA lässt an das Nordirlanddrama SOME MOTHER’S SON (1996) von Terry George denken. Helen Mirren spielt darin Kathleen, deren Sohn Gerard heimlich für die IRA arbeitet, inhaftiert wird und im Gefängnis sich dem republikanischen Hungerstreik anschließt. Auch Kathleen, eine Lehrerin, die wie Sujata unparteiisch, unpolitisch, unentschieden oder „meinungslos“ ist, muss nun Partei ergreifen. Am Ende bricht Kathleen, angesichts der leeren Bedeutungskämpfe der Männer, die ihre politischen Scharmützel auf Kosten anderer führen, für ihren im Koma liegenden Sohn den Streik ab. Mutterliebe und der Wert des Menschenlebens ist einfach höher, sagt dieses etwas wohlfeile, gleichwohl konsequente, weil ganz individuell menschliche Einzelfall-Ende von SOME MOTHER’S SON. Sujata in HAZAAR CHAURASI KI MAA ist diese Möglichkeit der Entscheidung nicht gegeben – und es wäre spannend gewesen, inwiefern in Indien, in einem indischen Film, bei u.a. der gültigen patriarchalischen Dominanz und bei aller Mutterverehrung Sujata eine solche Entscheidungsmacht zugestanden würde. Aber Brati ist bereits tot, und es ist an Surja zu entscheiden, was sie daraus macht, was sie daraus lernen kann, inwieweit sie ihren Sohn folgenlos hat totschlagen und als reine staatsfeindliche Nummer ohne anständige Zeremonie einäschern lassen.

Diese Sujata wird gespielt von Jaya Bhaduri alias Jaya Bachchan, der Gattin von Indiens Megastar schlechthin, Amithab Bachchan, und Mutter eines der berühmtesten aktuellen Bollywood-Darsteller Abhishek Bachchan. Als Kind spielte sie bereits in den 1960ern, u.a. unter der Regie des legendären Neorealismus-Regisseurs Satyajit Ray, gönnte ihrer Karriere jedoch ab Anfang der 1980er für achtzehn Jahre eine Auszeit, um sich der Erziehung ihrer Kinder zu widmen. Ihre erste Leinwandrolle nach dieser „vorbildlichen“ Elternpause: eben die der Sujata in HAZAAR CHAURASI KI MAA.

V.
Wie steht es aber nun mit dem Naxalismus in HAZAAR CHAURASI KI MAA? Der Film wird nie derart konkret, als dass er eine echte ideologische Politik zu propagieren oder auch nur als solche thematisiert. Der Kampf der jungen Leute bleibt, bei allen einschlägigen Schlagworten, zunächst einer, der rein auf die Verbesserung von Missstände abzielt, die ansonsten als nicht oder aber als natürlich betrachtet werden. HAZAAR CHAURASI KI MAA zeigt dabei die jungen Menschen als Idealisten, die (noch) am Scheideweg stehen – revolutionäre Gewalt ist eine Option, aber nicht die bevorzugte. Selbst verficht der Film die Agenda der kleinen, der mühseligen Schritte.

Nandani wird gespielt von der noch jungen Nandita Das in einer ihrer ersten Rollen (jedoch nicht die erste, trotz des „introducing“ in den Credits); kurz darauf wurde sie, vor allem unter Deepa Metha (EARTH; 1998), berühmt. Sie wie Jaya Bhaduri und einer von Indiens vielseitigsten, meistbeschäftigten und zurecht berühmtesten (Neben-)Darstellern, Anupam Kher, sind am Ende geschlagene, müde, aber nicht hoffnungslose Charaktere. Sie verkörpern den kleinen Wandel, der Besserung verspricht, aber auch einen hohen Preis fordert: die Karriere, das persönliche Glück, das Leben – das eigene, das der Kinder. Es gibt keine Triumphatoren, aber auch keine echten Schurken, nimmt man mal die ungebildeten, irrationalen Mörder und Hetzer aus, die – so oder so – im indischen Kino wie in der Gesellschaft apolitisch und religionsübergreifend ebenso manipulative Masse wie unaufgeklärtes irrationales Schreckgespenst ist. Auch die Polizei geht harsch vor, doch das ist ebenso üblich, vor allem gegen die Feinde des Staates, und im Gegensatz zu anderen Filmen findet sich unter ihnen keine ausgestellten Zyniker, tumben Sadisten oder korrupten Opportunisten. Im Gegenteil, der ernste, gestrenge und – bei aller Unbarmherzigkeit, die er Nandani im Verhör angedeihen lässt – kontrollierte Pal könnte in anderen Szenarien und Filmen als Musterbeispiel eines Beamten und folglich: als Held durchgehen.



In diesem Sinne ist HAZAAR CHAURASI KI MAA ein minderwertiges politisches Drama, insofern es sich nicht um die sozialen und ökonomischen Strukturen kümmert, sie bestenfalls zum Dialoggegenstand macht. Diese „apolitische“ Haltung ist aber legitimiert durch die Perspektive, die der Film wählt und die Art der Figur, die er ins Zentrum stell. Er ist „nur“ ein überaus gelungenes menschliches Drama, das indirekt und über seine Fokussierung doch wieder politisch wird, insofern sich das private und persönliche (Mit-)Leid als Motiv und Motivation, als Erfahrungsfolie und Erlebnishintergrund letztlich gar nicht von idealistischen Auseinandersetzungen separieren lässt. Es sei denn natürlich, man will auf der Vorstellungsebene von reinen Klassenkämpfen und historischen Prozessen bleiben, was aber wiederum eine politische Parteinahme bedeuten und nichts einbringen würde. Gerade das http://www.blogger.com/img/blank.gifNhttp://www.blogger.com/img/blank.gificht-Urteilen ist hier wichtig. HAZAAR CHAURASI KI MAA will etwas anderes, erzählt etwas anderes und ist – in seiner Mittelposition zwischen engagiertem Drama und populärem Melodrama – bemerkenswert.


Devi, Mashasweta (2003): Die Mutter von 1084. Bonn: Bonner Siva Series.

Weitere Kritiken zum Film HAZAAR CHAURASI KI MAA:

http://www.screenindia.com/old/nov28/review3.htm

http://reddiarypk.blogspot.com/2005/10/hazaar-chaurasi-ki-maa.html

Bernd Zywietz

Screenshot REGION: SWR-Literaturnacht im CinéMayence

Für ein Sonderevent unterbricht das CinéMayence seine Sommerpause und zeigt eine Reihe Filmporträts berühmter deutscher Dichter, Denker und Schreiber.

Das Ganze findet im Rahmen der 3. Literaturnacht des SWR (auf dem Schillerplatz) statt. Der Eintritt ist frei.

Sa, 27. August, ab 18.00 h
SWR-Literaturnacht
Der SWR präsentiert im CinéMayence sechs herausragende Schriftstellerporträts
18 Uhr »Die Brüder Grimm – Märchensammler«
19 Uhr »Deutsche Klassiker jetzt: Jean Paul«
20 Uhr »Die Akte Kleist«
21 Uhr »Goethe als Schlachtenbummler – Die Belagerung von Mainz«
22 Uhr »Europas Erbe – Die großen Dramatiker: Schiller«
23 Uhr »Die Brüder Grimm – Wörtersammler«


Mehr dazu HIER,
zur SWR-Literaturnacht HIER.

Ausgezaubert


Ein Abschied von Gestern:
„Harry Potter und die Heiligtümer des Todes – Teil 2“


In zehn Jahren haben sich die Harry-Potter-Filme zu einer der erfolgreichsten Kinoreihen aller Zeiten entwickelt. Das war nun insofern kein Wunder, als die Bücher um den jungen Zauberlehrling, seine Freunde und die ganze magischen Parallelwelt samt ihren Schurken und Bedrohungen ein solch globaler Erfolg war, dass man das Ganze sicher auch mit Handpuppen hätte inszenieren können und trotzdem veritable Profit gemacht hätte.

Natürlich hatte sich von „Harry Potter und der Stein der Weisen“ – der 2001 die noch deutlich jüngeren und rundgesichtigeren Darsteller Daniel Radcliffe, Rupert Grint und Emma Watson alias Harry, Ron und Hermine einführten und zu Stars machten – bis zum gerade angelaufenen Finale des Finales „Harry Potter und die Heiligtümer des Todes – Teil 2“ („HP 7.2“) alles weiterentwickelt: Die Kinder wurden in den Storys und auf der Leinwand älter wie die Bücher von J.K. Rowling dicker (analog „Snape“-Darsteller Alan Rickman, den laut eigenen Angaben im ZEIT-Interview jedes Jahr das schwarze Kuttenkostüme erweitert werden muss).

Mit den immer finster und komplexer (oder zumindest komplizierter) werdenden Geschichten, die Personal, Backstories, Ereignisse und Zauberartefakte ansammelten, die nun im letzten Teil auf einen einstürzen, hatte sich auch der Stil der Filme geändert: von Chris Columbus bunt-naiven Weihnachtsstaune-Filmen über Alfonso Cuaróns ästhetisch wertvollerem, zugleich etwas bemühten und erzählerisch bisweilen kontraproduktiven grünlichem Düstergeschmuddel (in „Harry Potter und der Gefangene von Askaban“) und Mike Newells episch-edlem, aber auch leicht qualitätssteifem „Feuerkelch“ bis nun zum souveränen David Yates, der die letzten drei Romane in vier Filme adaptiert hat. So gut es eben ging, möchte man sagen, mit Blick auf die „Deathly Hallows“. Und es ging erstaunlich gut, jedenfalls was den ersten Part von „Heiligtümer des Todes“ betrifft.



Der Abschlussband der Kinder-und-Jugend-Fantasy-Saga, die eine ganze Generation global geprägt hat, war kein große Zauberleistung: Die etwas zähe Schnitzeljagd nach den Horkruxen, jenen aufgeteilte Seelenstücken von Potters Erzfeind „Den dessen Namen man nicht nennen darf“ Lord Voldemort, ist in einem Gestrüpp an Vorgeschichten verheddert, und bietet dazu noch die Geschichte (und Geschichten) von den – ebenfalls heiß begeherten –
„Heiligtümern des Todes“, die wieder was anderes sind und irgendwann mal in anderem Kontext aufgetaucht sind. Yates freilich hat mit Kameramann Eduardo Serra aus diesem zähen Dahinerzählen einen stimmungsvollen Film gemacht, mit Bildern, Momenten, Atmosphären, die ganz für sich stehen und Plotlöcher (oder was am Nicht-Erzähltem, Nachgereichtem und Selbst-Wissen-Müssen wie solche wirken mochten) und sonstige dramaturgische Fährnisse und Missstände vergessen machten.

Für „HP 7.1“ war es auch sinnvoll, den Roman für die Leinwand zu portionieren. Doch was man letztes Jahr damit gewann, verliert man nun bei „HP 7.2“, zumindest scheint es so, und vielleicht wäre es angesichts des Stoffs sowieso nichts zu retten gewesen.

„Harry Potter und die Heiligtümer des Todes – Teil 2“ beginnt mit der Horkrux-Jagd, bietet fünf Minuten Dialog, der, wie es später auch immer wieder der Fall sein wird, irgendwas zwischen Erklärbär-Infovergabe und Nerd-Talk ist. Irgendwelche Exposition oder das Wiederaufnehmen einer bestimmten Stimmung hat man sich gespart. (Also am besten Teil 7.1 zuvor noch mal schauen; am besten: Doublefeature!)

Nach einer noch einmal letzten zauberhaften Episode in der Koboldbank, geht der Film direkt in den überlangen Dauerhöhepunkt über, in dem schnell und pflichtschuldig um das Zauberinternat Hogwarts gekämpft, beiläufig und ohne inneren Nachhall alle Figuren (auch die Toten) noch mal einen Auftritt haben, Harry Opfert sich, in der Zwischenwelt „Gandalf“-Dumbledore den Obi Wan gibt, Potter zurückkehrt, seine Freundin Ginny küsst. Auch Ron und Hermine küssen sich („Ohhh!! Aaahhh! - hihihi“, sogar in der Pressevorführung). Voldemort wird besiegt. Epilog. Alles halt wie im Buch, soviel davon reingeht in die Filmzeit, und draufgeht, auf die Leinwand.



„HP 7.2“ hat leider etwas von „Transformers 2“, wo man angesichts der Dauerdramatik irgendwann auch ganz ruhig und merkwürdig unbeteiligt wird. Auch hier ist es nicht nur das Schnell-Schnell sowie eine irgendwann leerlaufende Zeitlupen-Pathos-Schraube die ein merkwürdiges Missverhältnis schafft zwischen der behaupteten Bedeutsamkeit vor den Augen und der Gefühlsantwort im Hirn oder im Herz (oder wo man derlei im Zuschauer ansiedeln will). Sicher, es liegt an der Vorlage und dem Zwang, diese möglichst effizient und effektiv, aber auch natürlich ganz „genau“ zu verfilmen; es liegt daran, dass hier nicht nur ein relativ geschlossenes Abenteuer wie in den anderen Harry-Potter-Filmen (zumindest bis Teil 5 oder 6, je nachdem) geboten werden muss; es liegt an dem Zuviel und Zu-Schnell, dem Postulieren, dem Beantworten von Fragen und Zusammentragen, weshalb der Abschluss der Reihe etwas müde ist, „unwürdig“, der aber auch seltsam wehmütig macht.

Das Grundproblem, so es denn eins ist, geht nämlich tiefer, und hierbei zeigt sich, welch kluger Regisseur Yates ist. Der Junge Potter hat sich als Figur vielleicht nicht überlebt, er ist aber in sich, über den Darsteller, im Genre und dem heimlichen Bildungsroman, der „Harry Potter“ auch schon immer war, zu erwachsen geworden. So sehr er für so viele Fans in und mit seinen Abenteuern ein Wegbegleiter über lange Jahre war, man mit ihnen aufgewachsen ist, so sehr ist er eigentlich schon gar nicht mehr da. Seine Verabschiedung hat sich in den Romanen und sonstwo schon vollzogen. Seine (oder zumindest diese) in viele Episoden aufgeteilte große Heldenreise ist um, ehe sie nun als „letzter Rest“ auf die Kinoleinwand findet.

Für diesen erwachsenen Potter – wie erschreckend wenig musste man für die Kamera Radcliffe, Rupert Grint und Bonny Wright alias Harrys Ginny im epilogischen Zeitsprung altern lassen, um sie als Eltern glaubhaft zu machen! – die eigene Geschichte (oder Art der Geschichte) nicht mehr angemessen. All das Rätselraten, die Bedeutungsschwere und die Gut-und-Böse-Konstruktion, die immer verwickelter sein musste, um sie zu legitimieren, zeigen sich in dem Dauerschall des letzten Teils vollends als seltsam überkommen. Nicht nur generisch als altbekannt, sondern auch innerhalb der Serie abgestanden, eindimensional, selbst schon eine Art der Nostalgie. „Herr der Ringe“ hatte immer noch seine ganz eigene, vorzeitliche mythische Welt. „Harry Potter“ war, was selbst ja auch wichtiges Thema war, stand immer zwischen den Welt, einer zauberhaften und einer banalen, alltäglich-menschlichen. Es bezeichnend, dass diese nun im letzten Teil keine Rolle mehr spielt.

Wie in Rowlings Roman der Fall „zeigt“ der Film weniger als dass er „erzählt“, er ist – Vulgär-Lacanismus für Populär-Religionserzatz – in die Ordnung der Sprache eingetreten, mit aller Wahn, Wahr- und Weisheit, die darin liegt. Das Leben bestehen vielleicht aus lauter Abenteuern, ist aber keine geschlossene Heldengeschichte. Rowling hat das gewusst und ihren Lesern final diese letzte schmerzliche Erkenntnis bittersüß verpackt mit auf den Weg gegeben: im Nachspiel, wenn Harry und seine Freund nun ihre Kinder zum Hogwarts Express bringen, dabei auch dem ehemaligen Erzfeind und Mitschülern Malfoy einen Blick gönnen, wie man das halt so macht unter Erwachsenen, wo es immer viele kleine Schurken gibt und – leider – nicht den einen.



Und auch Regisseur Yates unterläuft an drei Stellen den Stoff, den er zu erzählen hat, verweigert sich und möchte, fast subversiv, ein wenig mehr und etwas anderes, ja, dann doch: zeigen. Wenn Potter sich von Voldemort umbringen lassen muss, damit dieser hernach selbst bezwungen werden kann, gibt es keinen „E.T.“-Kurzzeittrauertod, keine weinenden Kinder ringsum, wie es zu erwarten wäre. Ein Lichtblitz und wir sind sogleich mit Harry im gleisenden Zwischenreich. „Was kommt, weiß eh jeder“, wird Yates seinen Produzenten erklärt haben, und Recht hat er, aber das Nicht-mitspielen-Wollen bei dieser Märtyrer-Posse und Taschenspielertrick ehrt ihn darüber hinaus.

Eine andere Szene: Harry, Hermine und Ron müssen sich während der großen Schlacht um Hogwarts durchs Getümmel schlagen. In allen anderen Filmen (auch denen der Potter-Reihe) hätte (und hat) man aus einer derartigen Situation große Spannung geschlagen. Man wäre mit hinein gegangen, so weit es geht. Yates hat das, was wir sehen, in etwa auch so szenisch angelegt. Er distanziert sich bzw. die Zuschauer aber davon, indem er den Ton des Gemetzels herunter- und dafür Alexandre Desplats extradiegetische Musik hochdreht, so dass die Szenerie nicht länger unmittelbar ist, sondern zu einem epischen und doch fernen, einem nacherzählten, ausgestellten Geschehen wird. Einem, das wie die großen Sagen und mythischen Heldentaten so groß(artig) ist, weil es dazu gemacht ist, längst vorbei ist oder nie wirklich war.



Schließlich gar: Harry hat gesiegt, Voldemort ist zu Staub zerfallen, die Welt gerettet, der große Sieg, endlich nach zehn Jahren, 450 Mio. verkauften Büchern in 69 Sprachen, acht Filmen und rund 4,5 Milliarden Euro Kinoeinnahmen. Erschöpft kehrt der berühmte Erlöser Harry, der Wunderknabe zurück vom finalen Zweikampf in die hehren Hallen Hogwarts, wo die geschundenen Gestalten der Guten sich nach dem kleinen großen Krieg versammelt haben. Doch während der ehemalige Junge mit der nun albern gewordenen Nickelbrille im scharf geschnittenen Gesicht durch den Gang geht, beachten ihn all die Mitschüler, Lehrer und sonstigen Bekannten nicht oder nur kaum, sie lachen wieder müde, versorgen ihre Wunden, betrauern ihre Toten. Kein Jubel, kein „Vivat!“ dem Heroen. Nicht länger dreht sich die Welt um ihn. Zeit, erwachsen zu werden.

Wie eine Pflichtstück ist „HP 7.2“ absolviert worden, mit handwerklicher Güte zwar – auch wenn die Bilder immerzu dunkel sind und die Checklisten-Dramaturgie ansonsten viel von dem Können vor und hinter der Kamera den Platz genommen hat –, doch es ist ein Schluss, der eher sein muss, als dass er sein will. Das Spielerische ist vorbei, der Sense of Wonder aufgebraucht. Es ist ein Scheitern, ein schönes immerhin, in dem Sinne als es uns zeigt, was Harry Potter und die Welt der Zauberer so alles und so lange zu geben vermochten, dabei mitgewachsen ist.

Jetzt aber hat Harry Potter seine Schuldigkeit getan, sein(e) Abenteuer durchlebt. Daher, im Guten: Vielen vielen Dank Harry, für alles.
Du kannst jetzt gehen.


Bernd Zywietz

Filmklassiker im Murnau-Filmtheater: "Romanze in Moll"

Freitag, 8. Juli, um 20 Uhr im Wiesbadener Murnau-Filmtheater: "Romanze in Moll" von 1943, Regie: Helmut Käutner, 1943

Ein Ehedrama von Helmut Käutner, das mit herausragenden Darstellern eine tragische Dreiecksgeschichte um Marianne Hoppe, Paul Dahlke und Ferdinand Marian schildert. Paul Dahlke ist nach einem Selbstmordversuch seiner Frau, Marianne Hoppe, verzweifelt. Eine Perlenkette wird zum Beweis, dass sie jahrelang mit Ferdinand Marian fremdgegangen ist; ein Doppelleben, das sie in Unglück und Ausweglosigkeit geführt hat.

Zum Abschluss der Filmreihe ein zweiter Film von Helmut Käutner, mit ganz anderem Grundton wie der jazzig-fröhliche „Wir machen Musik“. Das berührende psychologische Drama voller Melancholie ist mit äußerster Sensibilität inszeniert, es lebt – wie immer bei Käutner – von den hervorragenden Darstellern, den ausgefeilten Charakterausgestaltungen und einem sinnigen Zusammenspiel von Kamera, Musik und Mise en Scene. So erreicht der Film eine ungewöhnlich atmosphärische dramatische Dichte, die ihn zu einem wirklichen Meisterwerk macht.

Screenshot REGION: Capitol-Highlights


Gleich drei Highlights, die demnächst im Mainzer Capitol (und/oder dem kleinen Bruder, dem Palantin?) laufen, können wir Ihnen ans Herz legen:

Asghar Farhadis NADER UND SIMIN - EINE TRENNUNG, der bei der diesjährigen Berlinale groß abräumte und Zuschauer wie Kritiker begeisterte, wird am Montag, den 11. Juli bereits als Preview um 20.00 Uhr zu sehen sein (Kritik HIER).

Die charmante schweizerische Kommödie EIN SOMMERSANDTRAUM - als DER SANDMANN HIER irgendwo besprochen - wird am 23 Juli mit Regisseur Peter Luisi als Gast zu sehen sein.

Und ab 21. Juli wird - endlich und gottseidank - die famose Terroristenkomödie FOUR LIONS in Original (mit Untertiteln) zu sehen sein (Kritik HIER).

Filmfest München - Conclusio

Hmmm.

Völlig unscharfe Projektionen in verschiedenen Spielstätten; minutenlang fehlender Ton, vor allem im Rio-Kino oben am Rosenheimer Platz; hässliche gelbe Flecke auf der Leinwand in Cinemaxx 5; großflächige braune Flecke auf dem Filmmaterial, schön groß auf die Leinwand projiziert, weil offenbar der Vorführer mal mit seinem Kaffee über die Filmrolle gekleckert hat; unzureichende Kinosaaldisposition, die ohne Raumnot hochkarätig besetzte Filme ("London Boulevard" mit Colin Farrell und Keira Knightley, "Trust" von David Schwimmer mit Clive Owen) in die kleinsten Kinos mit 70 und knapp über 100 Plätzen verbannte; fehlender Informationsfluss, was Sondervorführungen, -veranstaltungen oder -pressevorführungen angeht, die erst abends um neun für den nächsten Tat um zehn angekündigt werden, unmöglich, so kurzfristig darauf zu reagieren... Die Organisation des diesjährigen Filmfests war erschreckend chaotisch und geradewegs ungenügend. Aus früheren Jahren kennt man so etwas nicht, da lief nicht nur alles wie am Schnürchen, auch die Mitarbeiter waren freundlicher als in diesem Jahr.
Vielleicht hat es hinter den Kulissen etwas geknirscht im letzten Jahr mit Andreas Ströhl als Festivalleiter, und im nächsten Jahr, unter der Nachfolgerin Diana Iljine, wird es hoffentlich wieder glatter gehen.

Was die Filme angeht: Da waren einige Höhepunkte dabei; auch einige Tiefpunkte, selbstverständlich, über die ich in diesem Block gar nichts geschrieben habe. Zu spüren war stets eine leidenschaftliche Begeisterung am Film, im Publikum wie auch bei den Machern (soweit man die kurzen Einführungen und die anschließenden Q&As als Maßstab nehmen kann); dennoch hätte man sich etwas mehr von den interessanten Filmen aus Cannes gewünscht. Dass "Halt auf freier Strecke" von Andreas Dresen in München nicht lief, verwundert - der Regisseur ist eigentlich Stammgast hier. Lars von Triers "Melancholia" hatte ich ja gar nicht erwartet (wäre freilich super gewesen), aber Nanni Morettis "Habemus Papam" wäre doch schön gewesen, wenn man den Berichten zum Cannes-Festival glauben darf.

Was tatsächlich in München an Gutem gezeigt wurde, war aber natürlich genug, um die Festivalwoche zu füllen - im Gegensatz zu so manchem Berlinale-Jahrgang, wo einem unter noch viel, viel mehr Filmen die Auswahl viel, viel schwerer fällt, nicht wegen der Menge, sondern weil Qualität reduziert ist auf Qual. In München stimmt die Mischung; auch, weil das Festival schön konzentriert ist auf Kinos, die nicht allzuweit voneinander entfernt sind; trotz der doofen Baustelle auf der Tramstrecke zwischen Cinemaxx und Kino Sendlinger Tor, man kann auch auf U- und S-Bahn ausweichen.

Für einen Filmfest-München-Jahrgang war es diesmal etwas mau; als Filmfestival an sich aber eben doch außerordentlich schön.

Harald Mühlbeyer

Filmfest München - Bodycount

Taxifahren ist teuer; Taxifahrer sein auch, kostet meist das Leben, zumindest die Freiheit: In Schweden ist der junge JW Taxifahrer, um seinen teuren Lebensstil zu finanzieren, in Chino, rechts oben, da, wo's an Russland und Korea stößt, kutschiert Gu-nam herum, kann aber trotzdem seine Schulden nicht bezahlen. Mahjonggspielen kann er auch nicht gut genug, irgendwann steht er mit 60.000 Yuan in der Kreide und muss sich auf die Mafia einlassen: Nach Korea einreisen, einen Typen erschießen; nebenbei hat er vielleicht auch noch Zeit, seine Frau zu suchen, die vor Monaten als Gastarbeiterin nach Seoul gefahren ist und von der er seit Monaten nichts gehört hat.

In Schweden lässt sich JW auf die Drogengang von Abdulkarim ein, das verspricht Geld: Er studiert Wirtschaft, stammt aber aus einer armen Familie in der Provinz, und fühlt sich nicht standesgemäß, wenn er nicht mit teuren Anzügen, teuren Parties und teurem Gebaren protzt. Dass er sich auch noch in ein Oberschichtmädel verliebt, macht die Sache nicht besser, und ehe er sichs versieht steckt er irgendwo zwischen den Albanern, den Spaniern, den Deutschen und den Serben; letztere kontrollieren den Kokainhandel, erstere wollen im Verbund das Geschäft an sich reißen - JW soll das Geschäftliche, das Buchhalterische übernehmen, und er macht sich ans Werk, ganz raffiniert: Er weiß da eine Bank, die in Schwierigkeiten steckt; wenn man die übernimmt, ist die Geldwäsche kein Problem...

Gu-nam hat das designierte Opfer nicht umgebracht; andere sind ihm zuvorgekommen. Immerhin hat er den Daumen des Opfers, damit dürfte der Auftraggeber zufrieden sein. Wenn er sich noch für ihn interessieren würde. Die illegale Überfahrt zurück nach China war auch nur ein Schwindel, er sitzt fest. Und wird gejagt: vom Kompagnon des Mordopfers und von seinem Auftraggeber, und irgendwo ist auch noch die Polizei.

"Easy Money" von Daniél Espinosa und "The Yellow Sea" aka "Hwanghae - The Murderer" von Na Hong-Jin sind mal so richtig schöne Actionthriller; effektvolle Genreware, die nur wegen der exotischen Herkunft - Schwede, Korea - hierzulande als Arthouse durchgeht. Gewalt, Schießereien, Spannung, auch Sex sind die Zutaten, mehr braucht man ja auch nicht (Anmerkung am Rande: Was soll das eigentlich für Kunstkacke sein, was André Techiné mit "Impardonnables" bietet: eine verschwundene Frau, deren ermittelnder Vater ein Krimiautor ist, eine Privatdetektivin, ein Drogenhändler, Zu-Fuß-Verfolgungen durch Venedig - und das alles inszeniert als blasierte Langeweile, mon dieu!).

"Easy Money" ist zu Beginn verwirrend, die verschiedenen Handlungskoordinaten werden hart gegeneinander geschnitten, mitunter mit Vorausblenden vermischt; man braucht eine Weile, bis man richtig durchblickt, wer wer ist, aber dann erkennt man die Struktur: JW auf der einen Seite, der Geld braucht für seinen Lebensstil, Mrado auf der anderen mit der neunjährigen Tochter, die ihm urplötzlich vom Jugendamt überstellt wird, der zurück will nach Belgrad und sich deshalb selbständig macht: eine Parallelsetzung der verschiedenen Parteien, die zu einer Verlinkung führt in diesem komplexen Spiel um Geld und kriminelle Macht. Und die natürlich nicht gut enden kann, für keinen, obwohl sich alle abstrampeln: Freundschaft kann verraten werden, Vertrauen missbraucht; und nur an sich zu denken - wie es sowohl die Mafiagangster wie auch die gewieften Wiwis in JWs Freundeskreis tun - führt auch niemals zu irgendeiner Lösung.

Gu-nam hat keinen anderen, an den er denken könnte, er ist allein. Und er kämpft sich durch. Und was für Kämpfe: mit Messern vornehmlich, gerne auch mit Äxten, auch Schraubenschlüssel tun ihren Dienst und zur Not auch schwere abgenagte Rinderknochen, mit denen die Gegner brutal erschlagen werden. "The Yellow Sea" ist eine Orgie der Gangstergewalt, mit vielen, vielen Toten und einer unglaublichen Menge an kaputten Autos in den großartigen Verfolgungsjagden. Wenn ein LKW umkippt, nimmt er natürlich als Bonus auch noch ein paar harmlos parkende Autos mit...

"Easy Money" ist weniger explizit, was Gewaltdarstellung angeht, dafür eher emotional suspensevoll, weil es um Versteckspiele, um Verrate, um Geheimnisse geht - am Schluss natürlich trotzdem ein schöner Showdown: Du hast mir doch versprochen, dass keiner verletzt wird! - Hättest ja sonst nicht mitgemacht.

"The Yellow Sea" verliert sich am Ende ein wenig, die verschiedenen Parteien verwirren sich etwas, warum wer wo mit wem was macht ist nicht ganz klar. Vielleicht wurden da tatsächlich 17 Minuten rausgeschnitten, die Laufzeit von 140 Minuten (wie er auch in Cannes gelaufen ist) ist viel kürzer als die 157 Minuten, die der München-Katalog und imdb angeben; und ein paar im Presseheft beschriebene Szenen fehlen in der Fassung, die gelaufen ist... Aber das macht nichts, interessiert auch nicht, ob einer jetzt irgendwen trifft, den er kennt, oder ob einer weiß, was ein anderer vorhat oder nicht - weil sowieso keiner auf der Leinwand mehr lange leben wird.

Wenn ein Film dann nachts um 2 Uhr aus ist - dann fahr ich nicht Taxi. Dann lauf ich 30 Minuten durch Münchner Regen - und lese am nächsten Tag in den Schlagzeilen diverser Zeitungen von Rekordregen und Monsunüberschwemmungen in ganz Südbayern...

Harald Mühlbeyer

Filmfest München - Traurige Ballade

Von gedemütigten Fraun zum gedemütigten Clown: Alex de la Iglesias "Balada Triste de Trompeta" ist ein Zirkusfilm, wie es noch keinen gab.
Zirkusfilm: Das bedeutet normalerweise zwei Artisten in Rivalität um eine Frau, melodramatisch aufgezogen und mit Nervenkitzel wegen der potentiell gefährlichen Arbeit im Milieu - hohe Trapeze, wilde Tiere, gefährliche Shows - ausgestattet. Mitunter geht das stark in Richtung Horror, man denke an die wunderbaren Lon-Chaney-Filme der 20er Jahre, die heute kaum mehr einer kennt, etwa an "He Who Gets Slapped" von Victor Sjöström (ein Demütigungs-Melodram mit einigen Toten) oder an "The Unknown" von Tod Browning (eine groteske Geschichte um einen armlosen (!)Messerwerfer).

De la Iglesia nimmt die Zutaten des Zirkusfilms und verdreht sie, lässt sie ins Leere laufen und treibt sie weit über die Grenzen hinaus. Ein Prolog führt ins Madrid des Jahres 1937, Spanischer Bürgerkrieg, die Artisten eines Zirkus werden rekrutiert für den Kampf gegen die Faschisten (wobei die Republikaner kaum harmloser oder "besser" wirken). Was dazu führt, dass ein Clown mit Bart und blonder Frauenperücke per Machete einen ganzen Trupp Feinde im Alleingang metzelt. Später wird er beim Bau des Franco-Monuments Valle de los Caidos getötet - zuvor hatte er seinen Sohn Javier auf Rache eingeschworen und darauf, kein lustiger, sondern ein trauriger Clown zu werden.

1973 steht der dem lustigen Clown Sergio gegenüber und dessen Geliebter Natalia - die brutal misshandelt wird, wenn Sergio getrunken hat (jeden Abend), und die Javier reizt, provoziert, beflirtet. Wodurch das Unheil seinen Lauf nimmt, irgendwo zwischen Liebeskomödie und Splatterfilm. Wobei hier schon klar ist, wie die Grenzen verschwimmen, dass es eben nicht um die übliche Dichotomie Gut-Böse geht oder um das Klischee vom traurigen und lustigen Clown. Auf einem Rummelplatz feiern Javier und Natalia ihre Liebe und die Abwesenheit des jähzornigen Sergio, sie tanzen fröhlich, Javier klaut einem Kleinkind fröhlich zu Zuckerwatte, als Sergio dasteht, Natalia über die Straße prügelt, Javier, den traurigen, pausbäckigen, naiv-unschuldigen Rivalen, auf einen Hau den Lukas packt und ihm mit dem Hammer auf den Bauch haut, bis [...] und das Gesicht zerfetzt mit der filmtitelgebenden Trompete, woraufhin Sergio von einem Tierarzt (!) zusammengeflickt werden muss und Javier halbnackt (!) in einen Wald flieht.

Nun also tatsächlich Horror zum Melodram, mit einem tatsächlichen Monster, dem übelst aussehenden Sergio - doch wir wenden uns Javier zu, der sich ebenfalls zum Monster macht, auf dem Jagdschlösschen eines mit Franco befreundeten Generals. Entsetzlich, wie er sich mit Säure und Bügeleisen zurichtet, und irrsinnig witzig zugleich: Angetan in clowneskem Bischofsgewand mit völlig zerstörtem Gesicht killt sich Javier durch Madrid (und durch die Ereignisse der spanischen Geschichte von Terror und Verbrechen), Natalia, halb Hure, halb Heilige, steht irgendwann zwischen diesen beiden Monsterclowns, es kommt zum blutigen Finale auf dem hohen Steinkreuz des Tal der Gefallenen-Monumentalmausoleums...

Ein gewaltiger Film mit gewaltigen Bildern, der die Erwartungen des Zuschauers regelmäßig und mutwillig unterläuft. "La Balada Triste de Trompeta" bürstet alles gegen den Strich, stülpt alles um und ist daher eine harte Herausforderung für den Zuschauer: Eine Aufgabe, eine Prüfung, für die es keine Lösung gibt. Weil es gegen jede melodramatische Regel niemanden gibt, an den man sich halten kann, mit dem man sympathisieren kann; weil der Wahnsinn alle gleich befällt und daher gegen jede Horrorregel man um niemanden fürchten kann; weil die Trompete ein Mordwerkzeug ist und zugleich ein schmalziger Song des spanischen Schnulzensängers Raphael; weil alle Bilder so gewaltig sind, so überdimensioniert, dass sie schon wieder über die Klippe des (bewusst) Lächerlichen stürzen. Ein Film, der auf komische Art verstört - ein Film, der über sich selbst lacht: die Eingangstitel der Produktionsgesellschaften sind mit Kinderlachen unterlegt.

Harald Mühlbeyer