Karlovy Vary 2011: Unbeschreiblich


46. Mezinárodní Filmový Festival Karlovy Vary (1.-9. Juli 2011)

Kälte, Hitze, Regen – das Wetter beim diesjährigen Internationalen Filmfestival in Karlovy Vary (www.kviff.com) stand in seinem Abwechslungsreichtum dem Festivalprogramm in nichts nach. Und dennoch zeigten sich die Festivalbesucher weitgehend unbeeindruckt von den Naturgewalten. Tapfer hielten sie bei weniger als zehn Grad zur mitternächtlichen Vorführung von JANE EYRE (UK 2011, R. Cary Joji Fukunaga) im Letni Kino (Sommerkino) durch, zielbewusst zogen sie die Kinosäle den einladenden Sonnenstrahlen mit sommerlichen Höchsttemperaturen vor, unbeirrt übernachteten einige gar trotz Regen im Freien vor den Ticketboxen, um als Erste morgens ihre Wunschliste erfüllen zu lassen. Die gelebte Cinephilie der Festivalbesucher scheint jedes Jahr nicht mehr steigerungsfähig zu sein und übertrifft sich doch von neuem im Folgejahr.

Das tschechische Mezinárodní filmový festival Karlovy Vary (Internationale Filmfestival Karlovy Vary) ist eins von weltweit 13 Festivals der A-Kategorie und ist mit seiner Premiere im Jahr 1946 nach Mostra internazionale d’arte cinematografica di Venezia (Internationalen Filmfestspiele Venedig) und Моско́вский междунаро́дный кинофестива́ль (Internationale Filmfestival Moskau) das drittälteste internationale Filmfestival überhaupt. Das KVIFF hat die lange Zeit, um Traditionen zu entwickeln, produktiv genutzt, und schon kurz nach seiner Ankunft hatte der wiederkehrende Festivalbesucher auch in diesem Jahr wieder das Gefühl, nach Hause gekommen zu sein. Alles was wie immer: Die Kurgäste mit ihren Schnabeltassen schauten erstaunt auf die Festivalbesucher mit ihren umgehängten Festivalpässen, der in kommunistischer Tradition gebaut und seit Jahren trockengelegte Brunnen vor dem Thermal Hotel diente den erschöpften Besuchern als Sitzgelegenheit für das kühle Pivo zwischendurch und der am meisten gefeierte Star des ganzen Festivals war wie in jedem Jahr Petr Folprecht, der Microphon-Man, der im großen Saal des Thermal Hotels unter anderem dafür verantwortlich ist, nach den der Filmvorführung vorangehehenden Reden das Mikrofon auf der Bühne hinzulegen, so dass die Zuschauer freie Sicht auf die Leinwand haben. Für diese Tat wird er jedes Mal mit einem derart tobenden Applaus belohnt, das die eben noch gefeierten Filmemacher sich auf dem Weg zu ihren Plätzen verwirrt umschauen. Diverse Youtube-Videos bezeugen mittlerweile den Kultstatus von Folprecht, der die wiederkehrenden Festivalbesucher zu einer verschwörerischen Gemeinschaft zusammenschweißt.

Dieses fast schon familiäre Gefühl ist es, was das KVIFF so besonders macht und von so vielen anderen A-Filmfestivals unterscheidet. Flache Hierarchien, viel Selbstironie und die pure Liebe zum Kino sind für den Charme des Festivals verantwortlich. Und alle – sowohl Zuschauer, als auch Veranstalter und Filmemacher – erzeugen diese Atmosphäre gemeinsam. Ein deutliches Zeichen dafür sind die bis zum letzten Tag mit Applaus gefeierten Festivaltrailer (alle ebenfalls auf Youtube zu sehen), in denen sich unter der Regie von Werbefilmer Ivan Zachariás die vergangenen Gewinner des Chrystal Globe selbstironisch präsentieren und die ehrenvolle Statue zweckenfremden. Der ausgesperrte Andy Garcia bricht zum Beispiel mit Hilfe des Crystal Globe in sein Haus ein, Jude Law ersetzt mit ihm seine geklaute Kühlerfigur und Danny DeVito bringt mit Hilfe des massiven Preises seinen Wecker für immer zum Schweigen. Auch John Malkovich tritt in einem der Festivaltrailer auf. Für seine Outstanding Artistic Contribution to World Cinema wurde er 2009 ausgezeichnet. Der ihm gewidmete Festivaltrailer gehört zu den beliebtesten, weswegen der diesjähirge überraschende Kurzauftritt von Malkovich vor der Vorführung von Aki Kaurismäkis LE HAVRE mit tobenden Applaus des Publikums belohnt wurde. Malkovich war zur Präsentation seiner Modekollektion Technobohemian in die tschechische Kurstadt gekommen. Neben ihm waren Dame Judi Dench, Martin Donovan, David Morse, Christian Schmochow, Stine Fischer Christensen, Ulrich Noethen, John Tuturro und seine Frau Katherine Borowitz, Sasson Gabai, Burt Young, Kim Ki-Duk und viele weitere Gäste anwesend. Die Jury wurde in diesem Jahr von dem Oscarprämierten ungarischen Regisseur István Szabó geleitet.



Mit COLLABORATOR, der in Karlovy Vary seine Weltpremiere hatte, feierte der US-Schauspieler Martin Donovan sein Regiedebüt und gab in dieser tragischen Komödie Schauspielkollegen David Morse die Plattform für eine der interessantesten Rollen seines Lebens. Für diese Leistung erhielt Morse von der Jury den Preis als bester Schauspieler. Eine ebenfalls herausragende Weltpremiere feierte der deutsche Jungregisseur Christian Schmochow (NOVEMBERKIND) mit seinem neuen Film DIE UNSICHTBARE/ CRACKS IN THE SHELL, in dem die dänische Schauspielerin Stine Fischer Christensen an der Seite von Ulrich Noethen brillierte und dafür als beste Schauspielerin ausgezeichnet wurde.



Der Festival President’s Award ging in diesem Jahr an John Turturro, der neben seiner Frau Katherine Borowitz in der von Michael Di Jiacomo inszenierten schonungslosen und gleichzeitig liebevollen Tragikkomödie SOMEWHERE TONIGHT spielt. Neben diesen Weltpremieren wurden in Karlovy Vary in diesem Jahr unter anderem die neuesten Werke von Pedro Almodóvar (grotesk und verstörend: LA PIEL QUE HABITO/THE SKIN I LIVE IN), Aki Kaurismäki (zurückgenommen und intensiv: Le Havre), Jean-Pierre und Luc Dardenne (authentisch und verzweifelt: LE GAMIN AU VÉLO/ THE KID WITH A BIKE) und Nanni Moretti (frisch und mitfühlend: HABEMUS PAPAM/ WE HAVE A POPE) gezeigt. Gewinner des Crytsal Globe des diesjährigen Filmfestivals wurde der Film BOKER TOV, ADON FIDELMAN/ RESTORATION von dem israelischen Filmemacher Joseph Madmony. Der Film porträtiert den alternden Restaurator Fidelman (Sasson Gabai) der sich nach dem Tod seines langjährigen Freundes und Geschäftspartners im Umfeld der ihn umgebenden Menschen neu zurecht finden muss.



Es ist schwer bei der Beschreibung des Filmfestivals in Karlovy Vary nicht in eine bloße Aneinanderreihung von Superlativen zu verfallen. Jedes Jahr werden das Filmangebot breiter, die Entdeckungen spannender, die Gäste zahlreicher. Und dennoch bleibt die Atmosphäre familiär, ehrlich und entspannt. Es ist den Veranstaltern des Festivals hoch anzurechnen, dass das Festival auf dem Boden bleibt und kein Celebrity Hype den Besuchern die Sicht auf die Leinwand versperrt.

Renate Kochenrath