Hofer Filmtage 2011 - Zur Eröffnung Psychospiele

Carsten Ungers Debütfilm "Bastard", der die diesjährigen Hofer Filmtage eröffnete, sieht super aus: Cinemascope, 35 Millimeter, ausgeklügeltes Setdesign mit kaltem Ambiente und sterilen Innenräume, aus denen Psychostörungen wachsen, und stimmungsvoll-symbolische Nacht- und Regenszenen, dazu eine kluge, leicht verstörende Kameraführung. Und der Film lässt sich auch inhaltlich sehr gut an, mit ein paar episodisch scheinenden Einblicken in Handlungsstränge, die sich erst später zusammenfügen sollen:
Da wird ein Junge in einem stockdunklen Keller eingesperrt, hämisch gefilmt mit Nachtsicht-Videokamera; ein lolitahaftes Mädchen baggert im Schwimmbad einen Familienvater an, mit einer bitchigen "Ich will"-Attitüde; und Martina Gedeck als Polizeipsychologin Claudia Meinert bahnt sich ihren Weg durch Matsch und Regen, wenn ihr auch ein tapsiger Polizist auf den Füßen rumtrampelt - Schirm und Gummistiefel fordert sie, zieht blitzschnell Schlüsse aus dem Inhalt eines aufgefundenen Schulranzens, klar, deutlich, geradlinig, professionell - nur eine persönliche Bemerkung: "Mit Kindern kann ich nicht."

Mit Kindern bekommt sie es aber zu tun. Da ist ein 13jähriger Junge, der seinen Namen verweigert, der sich den Eltern verweigert, der sich allem verweigert. Und Mathilda, das Mädchen aus dem Schwimmbad, das alles will und sich alles nimmt, mit allen Mitteln. Er: Aus reichem Hause, verwöhnt mit allem, nur nicht dem Nötige. Sie: Plattenbau, versoffene Nuttenmutter, Not und Elend im untersten Hartz-4-Milieu. Reichtum wie Armut erzeugen Vernachlässigung, emotionale Leere, deshalb tun sich der Junge und das Mädchen zusammen: Sie wollen das Opfer im Keller töten, kurz vor der Strafmündigkeit des kindlichen Entführers. Drei Tage noch.

Denn schnell ist klar: Der fremde Junge ohne Namen hat das Kind, Nikolas, entführt, und wegen Strafunmündigkeit leugnet er auch nicht. Nein: Er will Terror verbreiten, will alle in der Hand haben, die eigenen Eltern, die Eltern des Jungen, die Psychologin, die Polizei - und nun kommt der Film zu dem Punkt, an dem es spannend wird: Wenn Psychologin Meinert mit einsteigt in dieses Spiel. Der Täter und Mathilda nisten sich bei den Eltern des Opfers ein, spielen mit ihnen ein Spiel namens Familie - das geht beiden ja ab, das wollen beide erzwingen: ein Zusammensein, Bindung, Herzlichkeit. Erzwungen durch Angst und Erpressung. Meinert setzt sich dazu, spielt mit, nimmt das Heft in die Hand. Und enthüllt so langsam die tieferen Unter- und Hintergründe des bösen Jungen, der seinen Namen, seine ihm gegebene Identität verweigert.

Während sehr spannend ist, wie Meinert, die "Gute", das böse Spiel mitspielt, die Psychoterror-Sperenzchen selbst sicher beherrscht und die vernachlässigten Täterkids, die "Bösen", mit deren eigenen Waffen zu schlagen versucht, verwirrt sich der Film dann doch in allzuviel Küchenpsychologie. Reiche wie arme Kinder habens schwer, sie suchen ein Ventil, und sie suchen Anschluss; und wenn dann noch ungeklärte Geburtsumstände dazukommen und sich die eigene Existenz als Lüge herausstellt - dann wirds eben, wies ist, sagt der Film; und mitunter verirrt sich Unger in seinem eigenen emotionalpsychologischen Gebäude, versucht (vergebens) Mitgefühl mit den Tätern zu erzeugen, deren Handeln ja nun verständlich ist, und gerät bei diesem Verständlichmachen beinahe noch in diesselbe verdreht-gestörte Argumentationslinie des bösen Täterjungen, der andere - die Eltern, die Mutter - für sein Sein verantwortlich macht...

Zudem wird die Aufdeckung der wahren genetisch-elterlichen Verhältnisse beinahe wie ein Geheimnis offenbart; und man weiß nicht, wie ernst es Unger damit ist, die Hintergründe als Rätsel aufzubauen. Nunja: Das war's eben nie, der Zuschauer ahnt die Zusammenhänge bald - zumal ja der Filmtitel "Bastard" da recht hilfreich ist...

Der Film hat große Momente als Psychothriller, wenn er sich tatsächlich auf das Genre einlässt; wenn Martina Gedeck die Dämonen zähmen will, indem sie sich selbst auf dämonische Spiele einlässt etwa - eingedenk des an Nietzsche angelehnten Satzes, der einmal fällt: dass wer sich mit Ungeheuern einlässt selbst zum Ungeheuer werden kann.

Schön eingeflochten sind in diesen "Bastard"-Film auch kleine Momente, die an Tarantinos "Basterds"-Film angelehnt sind: Wenn der Eindringling ins Familienhaus betont freundlich - und deshalb umso bedrohlicher - ein Glas Milch erbittet; oder wenn das "Wer bin ich"-Spiel mit Zetteln auf der Stirn gespielt wird.
Wäre ich zuhause, würde ich an dieser Stelle aus Seeßlens weitgespannten Bastard-Meditationen in seinem letzten Tarantino-Büchlein zu "Inglourious Basterds" zitieren. Muss aber auch so gehen, ist ja hier nur spontaner Blog.

Harald Mühlbeyer