Die letzte Versuchung Robert De Niros (Teil 2)

Bestandsaufnahme einer ebenso einzig- wie eigenartigen Karriere


von
Jochen Thielmann


(Den ersten Teil dieses Beitrags finden Sie HIER)


V. Vom ernsthaften Mimen zum Komödiant

Wem ist John Polson ein Begriff? Was macht Mary McGuckian?



Die Auswahl der Filmprojekte mag bei Robert De Niro teilweise wahllos anmuten. Im Internet werden immer wieder Fragen laut, wie dieser Schauspieler, dessen Credo zu Beginn der Karriere „Your talent is your choice“ lautete, manche Filmprojekte annehmen konnte. Bei der Lektüre des Buches „What just happened“ des Produzenten Art Linson lässt sich jedoch feststellen, dass De Niro beileibe nicht jeden Film dreht, der ihm angeboten wird. (In der späteren Verfilmung dieses Buches durch Barry Levinson spielte De Niro zwar mit, aber nicht sich selbst, sondern die an Linson angelehnte Figur des Produzenten.) Und bei genauerer Betrachtung lässt sich dann auch erkennen, dass Robert De Niro sich nicht geändert hat, was seinen Zugang zu einem Filmstoff angeht. Es hat immer persönliche Vorlieben und Interessen gehabt, die seine Filme offenbarten. Dabei ging einerseits um bevorzugte Genres, andererseits um besondere Themen. Und standen in seiner Karriere lange Zeit die Gangsterfilme und die ernsten Dramen im Vordergrund, so hat sich De Niro offensichtlich irgendwann vorgenommen, das Genre der Komödie zu erobern, nachdem er als dramatischer Schauspieler alles erreicht hatte.

Ein Grund dafür, dass De Niro in den letzten Jahren weniger große Filme gedreht hat, ist auch in seiner Ambition zu sehen, sich vermehrt als Komödiant zu versuchen. Für ihn war es eine Herausforderung, sich als Komödiant zu profilieren, nachdem sein erster Versuch in diesem Bereich – BOGART SLEPT HERE von Mike Nichols nach einem Drehbuch von Neil Simon – Mitte der 70er Jahre nach einigen Drehtagen abgebrochen worden war. Ende der 80er Jahre hatte er zunächst in der Buddy-Komödie MIDNIGHT RUN und dann in der Farce WE`RE NO ANGELS (Wir sind keine Engel, 1989) mitgewirkt, aber dieser Film wurde trotz Neil Jordan am Regiepult und Sean Penn an seiner Seite zu einem der größten Flops seiner Karriere. (Der Film gehört allerdings zu denjenigen, die ein Rückblick rehabilitieren würde, denn er ist bei weitem nicht so misslungen, wie damals von der Kritik dargestellt.) Doch das Schicksal änderte sich und heute ist Robert De Niro bei den jüngeren Kinogängern in erster Linie als ehemaliger CIA-Agent Jack Byrnes populär – seines Zeichens Schwiegervater von Ben Stillers Gaylord Focker. Finanziell waren die Einspielergebnisse der „FOCKER-Trilogie“ das erfolgreichste, was Robert De Niro in seiner langen Karriere passiert ist. In dieser Hinsicht ist ein Abstieg im letzten Jahrzehnt demnach nicht zu konstatieren, sondern eher das Gegenteil. Daneben gab es komödiantische Highlights mit WAG THE DOG, ANALYZE THIS oder zuletzt auch MACHETE (2010), die De Niro als „ernsthaften Komödiendarsteller“ etablierten. Dabei ist festzuhalten, dass De Niro natürlich von seiner filmischen Vergangenheit als Darsteller von harten Kerlen profitiert, wenn er einen Mafia-Boss mit Angstattacken, einen Vater mit übersteigertem Beschützerinstinkt oder einen korrupten Senator gibt.



Da Komödien bekanntermaßen nicht so hoch bewertet werden wie Dramen, leidet De Niros Ruf zwangsläufig unter dieser Entscheidung, die zudem auch missratene Filme wie SHOWTIME (2002) oder ANALYZE THAT (Reine Nervensache 2, 2002) hervorgebracht hat. Innerhalb dieses Genres nahm der Schauspieler sogar das Risiko in Kauf, mit Trickfiguren aufzutreten, was sowohl eine schauspielerische Herausforderung darstellt als auch die Gefahr beinhaltet, an die nicht wirklich existierende Wand gespielt zu werden. THE ADVENTURES OF ROCKY AND BULLWINKLE (Die Abenteuer von Rocky und Bullwinkle, 2000) war in dieser Hinsicht ein mutiger Versuch, doch der Film fand kein großes Publikum. Daneben hat De Niro auch Sprechrollen in zwei Animationsfilmen übernommen, die ebenfalls seinen Weg zu einer verstärkt spielerischen und leichteren Rollenauswahl kennzeichnen.


VI. Vom Alleinunterhalter zum Mannschaftsspieler

Sagt Ihnen denn der Name George Tillman jr. etwas? Und wer zum Teufel ist Tom Dey?

Als aufstrebender Jungschauspieler wollte Robert De Niro seinen Filmen seinen Stempel aufdrücken. Es waren seine Filme, er stand im Mittelpunkt, seitdem er für THE GODFATHER PART TWO den Oscar gewonnen hatte. Schon etliche Filmtitel verdeutlichen, dass es hier jeweils um De Niros Hauptfigur ging: um den TAXI DRIVER, um THE LAST TYCOON, um THE DEER HUNTER, den RAGING BULL und THE KING OF COMEDY. Nach dem Rückzug in Nebenrollen Mitte der 80er Jahre und dem Beginn der Vielfilmerei ab Ende der 80er Jahre waren diese Zeiten vorbei. (Bezeichnenderweise gab es seitdem nur zwei Filmtitel, der sich auf die De Niro-Figur bezogen: JACKNIFE und THE FAN. Ebenso spielte er in Filmen mit, deren Titelfigur andere Schauspieler darstellten, von JACKIE BROWN (1997) über STONE bis MACHETE.)



Das soll nicht heißen, dass De Niro in seinen jungen Jahren keine gleichwertigen Co-Stars an seiner Seite duldete. Davon zeugen Gerard Depardieu in NOVECENTO, Liza Minnelli in NEW YORK NEW YORK, Robert Duvall in TRUE CONFESSIONS oder seine erklärte Lieblingspartnerin Meryl Streep in FALLING IN LOVE (Der Liebe verfallen, 1984). Er hat bis heute keine Probleme damit, gleichwertige Partner zu haben (Sean Penn in WE`RE NO ANGELS; Jane Fonda in STANLEY & IRIS (1989), Robin Williams in AWAKENINGS, Al Pacino in HEAT und RIGHTOUS KILL, Billy Crystal in ANALYZE THIS, Edward Norton in STONE), Und das Beispiel WAG THE DOG beweist eindrucksvoll, dass er einem Dustin Hoffman das Feld völlig überlässt, wenn dies für den Film von Vorteil ist: sein Präsidentenberater Conrad Brean, der zu Beginn noch der Mann war, nach dessen Pfeife alle tanzten, begibt sich in der Sekunde in den Hintergrund, in der Hoffmans Hollywood-Produzent die Bühne betritt. Keine Eitelkeiten führen dazu, den Filmen zu schaden, denen er sich verpflichtet hat.

Robert De Niro hat sich aber im Laufe der Zeit zu einem Mannschaftsspieler entwickelt, der sich eingliedert und unterordnet. Das zeigt sich auch daran, dass er sich weiterhin in vielen Filmen mit Nebenrollen zufrieden gibt (BACKDRAFT (1990), GREAT EXPECTATIONS (Große Erwartungen, 1998), WITHOUT LIMIT (Ohne Limit, 2011)) oder sich in Ensemblefilmen mitwirkt (COPLAND, THE BRIDGE OF SAN LUIS REY, STARDUST, MACHETE, NEW YEAR`S DAY). Seine Bedeutung für die einzelnen Filme ist dementsprechend gemindert, die Parts sind nicht mehr so herausragend und belohnend wie früher. Dies ist ein weiterer Grund dafür, warum Robert De Niro als Darsteller nicht mehr so sehr glänzt wie in den Anfangsjahre seiner Karriere. Er möchte dazugehören anstatt herauszuragen.


VII. Wie ein altes Ehepaar

John Herzfeld? Oder Des McAnuff?

Robert De Niro und Martin Scorsese haben insgesamt acht Filme als Regisseur und Hauptdarsteller miteinander gedreht. (Drei weitere Zusammenarbeiten waren das Treffen vor der Kamera in GUILTY BY SUSPICION (Schuldig bei Verdacht, 1991), der von Scorsese produzierte MAD DOG AND GLORY und die gemeinsame Sprecherarbeit bei SHARK TALE.) Mit keinem anderen Regisseur traf sich De Niro in seiner Karriere öfter, mit keinem war die Zusammenarbeit enger. RAGING BULL, THE KING OF COMEY und CAPE FEAR initiierte De Niro, MEAN STREETS, NEW YORK NEW YORK, GOODFELLAS und CASINO waren Scorseses Projekte. (TAXI DRIVER ist beiden bzw. Paul Schrader zuzuordnen.) Die Frage nach dem Einfluss von Martin Scorsese auf den Ruf und Stellenwert, den De Niro besitzt, mag sich stellen, wenn besonders die gemeinsamen Filme herausragen. De Niro selbst hat darauf bei der Verleihung des Life Achievement Award des American Film Institute an seinen Lieblingsregisseur im Jahre 1997 kurz angespielt, als er sagte: „Ich bin heute extra aus Buffalo hierher geflogen und habe mich gefragt, wo ich wohl jetzt sein würde, wenn es Martin Scorsese nicht geben würde. Und ich bin zu dem Ergebnis gekommen, dass ich heute Abend in Buffalo gewesen wäre.“ Ein Spaß, sicherlich, aber er zeugt von De Niros Selbstverständnis, es durch eigene Stärke geschafft zu haben, was Scorsese mit einem wissenden Nicken bestätigte. Letztendlich hat Scorsese genauso von De Niro profitiert wie umgekehrt. Niemand kann De Niro besser einsetzen als Scorsese und niemand ist für Scorseses Filme besser geeignet als De Niro – trotz der hervorragenden Arbeit von Leonardo Di Caprio.



In den letzten zehn Jahren hat es zwei Scorsese-Filme gegeben, in denen Robert De Niro an der Seite Di Caprios eine Hauptrolle hätte spielen sollen. Zunächst war er als „Bill the Butcher“ in GANGS OF NEW YORK (2002) vorgesehen. Ein junger De Niro hätte sich niemals die Chance entgehen lassen, für dieses Lieblingsprojekt von Martin Scorsese sechs Monate lang in Rom zu drehen. Ein älterer De Niro sah die Dinge anders und entschied sich dafür, in New York zu bleiben, um sich ausreichend seinen Kindern widmen zu können. Mit dieser Begründung stieg er aus dem Projekt aus. Die verschobenen Prioritäten werden dem Familienleben Robert De Niros zugute gekommen sein, aber nicht seiner Karriere, denn „Ersatzmann“ Daniel Day-Lewis bewies eindrucksvoll, welches Potential in der Rolle lag. Und auch in Scorseses Oscar-Gewinner THE DEPARTED (Unter Feinden, 2006) sollte De Niro ursprünglich als Mafia-Boss sein Unwesen treiben, was er jedoch aufgrund der Arbeiten an seiner zweiten Regie-Arbeit THE GOOD SHEPARD absagen musste. Immerhin ist uns dadurch das besondere Vergnügen zuteil geworden, einmal Jack Nicholson in einem Martin Scorsese-Film gesehen zu haben.

Im Jahre 2010 erhielt Martin Scorsese den Cecil B. DeMille Award aus den Händen von Robert De Niro und Leonardo Di Caprio. De Niro begann seine Laudatio mit den Worten: „In den ersten zwanzig Jahren unserer Karriere machten Marty und ich einen Film nach dem anderen zusammen. In den letzten zehn haben wir einander Preise überreicht. Wir sind wie ein altes Ehepaar. Wir haben uns zusammen ein Leben aufgebaut, wir haben großartige Erinnerungen, wir schlafen nur nicht mehr miteinander.“ Es gibt Hoffnung, dass sich dies irgendwann noch einmal ändert. Erst vor wenigen Wochen ließ Scorsese verlauten, im nächsten Jahr den Film THE IRISHMAN angehen zu wollen, mit De Niro, Al Pacino, Joe Pesci und Harvey Keitel in den Hauptrollen. Es wäre uns und De Niro und uns zu wünschen, dass sich beide noch einmal finden. Die Abstinenz seit mittlerweile sechzehn Jahren – CASINO erschien 1995 – ist ein weiterer Grund dafür, warum die Karriere De Niros derzeit nicht reich an cineastischen Höhepunkten ist. Ein Wiedersehen auf einem Filmset anstatt einer Preisverleihung würde Robert De Niro derzeit sicherlich mehr nützen als seinem alten Weggefährten Martin Scorsese.


VIII. Vom Gipfel zurück in die Niederungen

Wo haben Sie die Namen Matthew Vaughn und Paul Weitz schon einmal gehört?

Ende der 80er Jahre wurde Robert De Niro in einem Interview gefragt, wie er seine Zukunft sehe. Und er antwortete, dass er mit jungen Regisseuren arbeiten wolle, dass man ihm bitte Projekte zuschicken solle, an denen man gemeinsam arbeiten könne. Vielleicht hat man damals gemeint, dass dieser Aufruf und diese Öffnung gegenüber jungen Filmemachern nicht ganz ernst gemeint war, nur für eine bestimmte Phase und nur für besondere Projekte galt. In den folgenden Jahren arbeitete er zwar mit dem unbekannten John McNaughton bei MAD DOG AND GLORY zusammen, ansonsten aber zumeist mit etablierten Hollywood-Regisseuren, wobei er bei der Wahl seiner Regisseure in keine Richtung Berührungsängste zu besitzen scheint. Es tauchen Altmeister wie Martin Ritt und John Frankenheimer auf, persönliche Freunde wie Irwin Winkler und Barry Primus und auch Regisseure des Kommerz-Kinos wie Tony Scott und Joel Schumacher. Barry Levinson und Michael Mann stehen neben Michael Caton-Jones und Alfonso Cuaron sowie Filmemacherinnen wie Penny Marshall und Agnes Varda.



Neben dieser Aufstellung mit bekannten Namen kommen inzwischen immer mehr Filme hinzu, in denen Robert De Niro unter der Regie von Unbekannten auftritt. Es ist nicht davon auszugehen, dass der Schauspieler hier aus einer Not eine Tugend machen will, denn sicher könnte er weiterhin mit den besten Regisseuren Amerikas arbeiten. Stattdessen unterstützt er junge Leute, die durch die Verpflichtung von Robert De Niro der Realisierung ihres Projekts ein großes Stück näher kommen. Man muss zu dem Schluss kommen, dass es unter den Filmstars keinen größeren Förderer junger und unbekannter Filmemacher als Robert De Niro gibt, der nach seinem eigenen Gipfelsturm – den er auch zu einem guten Stück damals unbekannten Talenten wie Brian De Palma und Martin Scorsese verdankte – wieder an den Ausgangspunkt seiner Karriere zurückkehrt und junge Talenten Starthilfe gibt.

Der Hauptgrund für den Rückgang an Filmklassikern in De Niros Filmografie hat mit dieser außergewöhnlichen Bereitschaft zu tun. Anfang der 90er Jahre hatten viele der Regisseure, mit denen De Niro seitdem zusammengearbeitet hat, noch keinen einzigen Kinofilm gedreht, waren gerade mal auf der Filmschule, wenn überhaupt. Die wenigsten hatten vor der Zusammenarbeit mit De Niro schon einen Kinoerfolg nachzuweisen – hier fällt eigentlich nur Quentin Tarantino ein. Selbst der mittlerweile etablierte James Mangold war zum Zeitpunkt von COPLAND nur ein hochtalentierter Filmemacher, dem aufgrund der Qualität seines Drehbuchs etliche Hollywoodstars beistanden. Aber all die anderen Newcomer, die im Laufe dieses Artikels genannt worden sind, hatten allenfalls bescheidene Independent-Hits vorzuweisen. De Niro gibt diesen jungen Filmemachern trotz ihrer Unerfahrenheit die Chance, mit ihm und – in der Folge – anderen namhaften Darstellern Filme zu drehen, und geht dabei bereitwillig das Risiko ein, dass einige davon missglücken. Die Themen der Filme scheinen dabei nicht entscheidend zu sein, sondern der persönliche Eindruck. Es lässt sich sagen, dass die Filme, die einer der größten Schauspieler des Business mit den Newcomern drehte, zwar unterschiedlicher Qualität waren, aber keiner der Filme als völliger Reinfall abzuqualifizieren ist. Jeder ist sehenswert und wird vor allem die Regisseure selbst ein großes Stück in ihrer Entwicklung weitergebracht haben, auch wenn viele danach wieder in der Versenkung verschwunden sind.

Eine Konsequenz dieser Vorliebe, in Filmen junger Regisseure mitzuspielen, ist, dass es sich dabei fast ausschließlich um Low-Budget-Produktionen handelt. Für amerikanische Verhältnisse ist ein Budget im Bereich von 25 Millionen Dollar weit unter dem Durchschnitt. Und etliche dieser Filme aus den letzten Jahren bewegen sich in diesem Bereich, angefangen von LIMITLESS und STONE über MACHETE, EVERYBODY`S FINE und WHAT JUST HAPPENED bis zu THE BIDGE OF SAN LUIS REY und GODSEND. Daraus folgt, dass diese Filme in vielen Bereichen nicht so ausgestattet sind, wie dies wünschenswert wäre. Dass ein Budget in dieser Größenordnung für einen großen Hollywoodfilm lächerlich ist, zeigt der Vergleich zu den geschätzten Kosten von LITTLE FOCKERS. Dieser Film soll unglaubliche einhundert Millionen Dollar gekostet haben. (Ein Fünftel davon erhielt Robert De Niro als Gage.)

In der Zukunft wird sich daran auch nicht viel ändern. Die nächsten Filme, die in den nächsten zwei Jahren mit ihm ins Kino kommen, sehen – neben den etablierten Davod O. Russell und Sean Penn – einige unbekannte Filmemacher im Regiestuhl sitzen. Es ist nicht zu erwarten, dass einer der Filme entweder Oscar- oder Blockbuster-Potential hat. Aber das bedeutet nicht, dass De Niro auf die Filme nicht stolz sein wird.


IX. Vom Filmschauspieler zum Filmemacher

Der Schauspieler Robert De Niro hat in den letzten zwanzig Jahren an dreiundvierzig Kinofilmen mitgewirkt. Kurz war davon die Rede, dass er zugleich bei zwei seiner Filme auch Regie geführt hat. Daneben ist er Familienvater und hat zwischenzeitlich eine im Jahre 2003 aufgetretene Krebserkrankung überwunden, die am Arbeitspensum nicht wirklich etwas geändert hat. Angesichts dessen sollte man meinen, dass damit das gesamte Tätigkeitsspektrum De Niros erfasst worden ist. Doch das ist es nicht.



1.
Mitte der 80er Jahre entschied sich Robert De Niro, seine eigene Produktionsfirma aufzubauen, um dadurch Filme in die Kinos zu bringen, hinter denen er voll und ganz stehen konnte. Dies war deshalb ein nachzuvollziehender Schritt, weil kein anderer Schauspieler seines Ansehens innerhalb weniger Jahre hat erleben müssen, dass um seine Filme in den USA derartige Streitigkeiten zwischen der Produktionsfirma und dem Regisseur entbrannten, in deren Folge nur in Europa der jeweilige „Director`s Cut“ in die Kinos kam. Das Trauerspiel begann mit Bernardo Bertoluccis NOVECENTO, der in Europa in zwei Teilen mit einer Laufzeit von insgesamt fünf Stunden und zwanzig Stunden lief, während der italienische Regisseur für den US-Markt einen einzigen Film schneiden musste, der dann auch an der Kinokasse floppte. Es folgte die unschöne Auseinandersetzung um Sergio Leones Meisterwerk ONCE UPON A TIME IN AMERICA, in Europa ein großer Erfolg, in Amerika in einer ohne Leone zusammengeschusterten, stark verkürzten und begradigten Version ein weiterer großer Reinfall. (Nicht nur für De Niros Co-Star James Woods war dies einer der wahren Tiefpunkte der amerikanischen Filmgeschichte.) Der einzige Konflikt, den ein Regisseur für sich entscheiden konnte, war „die Schlacht um BRAZIL“, der schon legendäre Streit zwischen Universal und Terry Gilliam, den dieser mithilfe der L.A. Filmkritiker gewann, die BRAZIL die Preise für den besten Film 1985, die beste Regie und das beste Drehbuch zusprachen. (Auf der DVD der renommierten Criterion Collection hat man die einzigartige Möglichkeit, die von Universal hergestellte Alternativ-Fassung des Films zu sehen. Wer diese beiden Fassungen gesehen hat, erkennt, dass zwischen einem Meisterwerk und einem Desaster ein ganz schmaler Grad besteht, der es schier unmöglich machen muss, bereits beim Lesen eines Drehbuchs die Qualität des fertigen Films zu kennen.)

Bis zur Auseinandersetzung um BRAZIL, als er mit Terry Gilliam im US-Fernsehen auftrat, hat sich Robert De Niro aus diesen Streitigkeiten immer herausgehalten, aber man kann sicher unterstellen, dass diese schlimmen Erfahrungen der Auslöser für Robert De Niro gewesen sind, einen großen Teil seiner Zeit in die Produktion von Filmen zu stecken, um die Arbeit der Kreativen vor der Einmischung der Administrativen zu schützen. Dies hatte zur Folge, dass seine volle Konzentration nicht mehr allein auf die Schauspielerei gerichtet sein konnte. „Tribeca Productions“ ist eine Herzensangelegenheit für Robert De Niro und hat sich mittlerweile als Produktionsfirma etabliert. In den meisten von De Niro produzierten Filmen spielt er selbst mit, aber es gibt daneben etliche Beispiele, in denen er als reiner Produzent fungiert, z.B. THUNDERHEART (Halbblut, 1992), FAITHLESS (Der Hochzeitstag, 1996), ABOUT A BOY (2002), STAGE BEAUTY (2004) oder RENT (2005).

2.
Schließlich hat der 11. September 2001 auch das Leben Robert De Niros maßgeblich beeinflusst. Sein Tribeca-Domizil lag in unmittelbarer Nähe des World Trade Centers. Es ist kein Wunder, dass der gebürtige New Yorker in der Folgezeit fast überall dort teilnahm, wo den Opfern der Anschläge gedacht wurde: bei der TV-Sendung „America: Tribute to heroes“, beim großen „Concert for New York City“ im Madison Square Garden oder als derjenige, der im amerikanischen Fernsehen den Dokumentarfilm „9/11“ der beiden französischen Dokumentarfilmer Jules und Gedeon Naudet ankündigte. Dabei sollte es jedoch nicht bleiben, und so war und ist er eine treibende Kraft hinter dem seit Mai 2002 jährlich stattfindendem „Tribeca Film Festival“, das der Stadt - vor allem diesem Teil der Stadt - wieder Leben einzuhauchen versuchte. Robert De Niro hat sich somit in den vergangenen fünfundzwanzig Jahren vom reinen Darsteller zu einem Filmemacher im wahrsten Sinne des Wortes entwickelt.


X. Fazit

Es ist offensichtlich, dass die Karriere des Robert De Niro nicht so verlaufen ist, wie man dies Mitte der 80er Jahre vorhergesagt hätte. Der weitere Weg zeigt eine Gegenreaktion des Schauspielers, der zuvor innerhalb weniger Jahre in den Olymp der Schauspieler zu Marlon Brando oder Sir Laurence Olivier aufgestiegen war. Der prädestinierte Darsteller einsamer Helden war selbst einsam an der Spitze angelangt und so entschied Robert De Niro, möglichst viele Filme als Haupt- und Nebendarsteller zu drehen und zudem als Produzent zu fungieren. Es war absehbar, dass ihm so der Status des Unfehlbaren abhandenkam. Diese Entwicklung forcierte er dadurch, dass er bis heute mit besonderer Vorliebe Komödien drehte und mit unbekannten Filmemachern zusammenarbeitete, anstatt sich offensichtlichen Prestigeobjekten und prädestinierten Oscar-Filmen anzuschließen.

Im Jahr 1983 hatte Robert De Niro die Rolle in Scorseses THE LAST TEMPTATION OF CHRIST (Die letzte Versuchung Christi, 1988) abgelehnt. Es mag jedoch sein, dass er sich mit dieser Figur und diesem Roman näher beschäftigt hat. Das Leben eines normalen Menschen als die letzte Versuchung zu begreifen, dies könnte bei Robert De Niro, dem gefeierten „Schauspielergott“, unbewusst die weitere Karriereplanung beeinflusst haben. Er ist in der Folgezeit von seinem Thron, auf dem er sich nie wohl gefühlt hat, heruntergestiegen, um mit den „normalen Menschen“ zusammenzuarbeiten, um einer von ihnen zu sein. Seitdem arbeitete De Niro scheinbar unentwegt mit seinen Kollegen an neuen Filmen, guten wie schlechten, erfolgreichen wie unprofitablen, originellen wie aufgebackenen, ambitionierten wie rein unterhaltenden. Und so ist es gekommen, dass der Robert De Niro der letzten fünfundzwanzig Jahre niemals den Status hätte erreichen können wie der Robert De Niro der ersten zehn Jahre. Ohne die Anfangsjahre wäre er ein angesehener Charakterdarsteller des amerikanischen Films geworden, ein zwar erfolgreicher, aber relativ normaler Filmschauspieler, auf einer Ebene etwa mit Jeff Bridges. Und der sein Talent sicher nicht verschwendet hat.

Robert De Niro hat wohl sein Ziel erreicht.

Neu auf DVD: Aki Kaurismäkis LE HAVRE

Aki Kaurismäki erzählt wortkarge, aber stilvoll-gewandte Märchen über die Realität in mattem Technicolor-Timbre. Und angesichts der frischen Brise seines idealistischen Kampfgeistes in LE HAVRE scheint der Regisseur in voller Blüte zu stehen.

Denn die neueste Arbeit des finnischen Auteurs berührt sozialkritisch eine afro-europäische Wirklichkeit, die er dieses Mal gar zu einer hoffnungsvollen zwischenmenschlichen Vision hin verfremdet: Kaurismäki rüttelt mit LE HAVRE auf, protestiert wie ein poetischer Preßlufthammer in Primärfarben gegen die Grenze der europäischen Moral und die allgemeine Deprivation. Und er liegt mit diesem reifen Plädoyer für mehr Poesie, in wieder liebevollst gesetzten Bildern, den Umständen in der Realität nie wirklich fern. Die DVD erschien am 30. März und enthält, außer diesem wunderbaren Film, auch in der französischen Originalversion mit deutschen Untertiteln, keine Extras.

Marcel Marx (André Wilms), ein alternder Schuhputzer, ehemaliger Bohemian und erfolgloser Autor aus Paris, tagelöhnt auf den Straßen von Le Havre, um sich und seine treue Frau Arletty (Kati Outinen) knapp über Wasser zu halten. Auf dem Heimweg ergaunert sich der schlitzohrige Jacketttaschenpoet charmant Baquettes und was er eben so bekommt von den aufgrund langer Rechnungen ihm eher unwillig gesonnenen Inhabern der kleinen Geschäfte in seiner Straße, die in einem kargen Arbeiterviertel liegt.. Im Hafen wird währenddessen ein Flüchtlingscontainer entdeckt, aus ein kleiner Junge flieht. Marx trifft den kleinen Idrissa (Blondin Miguel) aus Gabun und hilft ihm über aufwändige Umwege schließlich zur weiteren Flucht, um zu seiner Mutter zu gelangen, die in London lebt. Inspecteur Monet (Jean-Pierre Darroussin), mit schwarzem Trenchcoat, schwarzem Hut mit kurzer Krempe und einem altweißen Automobil, ist ihnen dabei stets auf den Fersen. Jener analysiert scharfen Blickes die kriminalistische wie gesellschaftliche Situation und überwindet schließlich seinen Konflikt zwischen menschlicher Würde und beruflicher Pflichterfüllung.

Dieses sozialisierende Märchen scheint im Zeitalter der multiplen Krisen Konjunktur zu haben: Es geht in einem der erfolgreichsten Arthouse-Filme des vergangenen Jahres um soziale, multikulturelle Solidarität und Opferbereitschaft, um treues, doch keineswegs bedingungsloses, sondern ehrenwertes Mitgefühl, kurz: um den Traum von Menschlichkeit. Indem ethische Entscheidungen eine kleingeistige Gesetzesmoral überwinden, mündet diese Parabel schließlich in die moralische Rehabilitation der Charaktere.

Darüber hinaus bewirkt das die Verwirklichung einiger Träume, inklusive mancher des Regisseurs, der schon länger auf der Suche nach einem geeigneten Dreh-Ort für diesen Film gewesen ist. Auch zieht sich Kaurismäki, nach der tristen "Trilogie der Verlierer", selbst aus dem Sumpf mit LE HAVRE als wieder hoffnungsvollere, betont sozialkritische, künstlerische Vision, die nicht nur im eigenen Mief schwelgt und sich beklagt, sondern konkrete, konstruktive, wenn auch märchenutopische Vorschläge macht, zentral in den Handlungen der Figuren Marcel und Inspecteur Monet. Der große Gestus des Leidens unterspielender Gesichter kommt natürlich dennoch nicht zu kurz. Doch Kaurismäki ist wieder auf der Höhe, auch wieder in Frankreich, und haut hart, aber gefühlvoll auf den Tisch, wie man es von einem europäischen Filmemacher verdammt noch mal erwarten können sollte.

In LE HAVRE kommt nicht nur die Problematik vieler Migranten auf der Suche nach einer lebensmöglichen Zukunft auf den Tisch. Auch der giftige Blick durch Zeitung und Fernsehen auf Flüchtlinge oder der exklusivierende Einfluss der Kirche im Beichtstuhl wird bloßgestellt; ebenso die kalte Hand des Innenministeriums in Form von polizeilichen Einsatzkommandos, rigorose Schuhgeschäftsbesitzer und der einzelne, stumme Denunziant. Die empathischen Menschen, die sich im Namen der Herzlichkeit fügen, werden ungewollt zu Helden, die ihrerseits lediglich einen Anstoß brauchten, aus der bürgerlichen Lethargie herausgefordert zu werden. Dieser herzhafte Einsatz aller Figuren, teils auch derer Existenz, hebt LE HAVRE von einem allzu bequemen, schönen Lifestyle-of-Health-and-Sutainability-Märchen ab, zu dessen Erfüllung nur der ferne, einzelne Held leidet. Der Erfolg der Geschichte basiert auf der direkten menschlichen Zusammenarbeit, wie bei einer Feuerlöschkette. Und wo die gegenseitige Bekanntheit aufhört, verläuft ein teurer Graben: Der Schwager des Cousins des Fischers, eines Freundes Marcels, nimmt den Jungen noch lediglich gegen Geld für Treibstoff mit, das nächste, anonyme, Glied in der Kette, der Schlepper, verlangt schon 3000 Euro.

Kaurismäki, das finnische Schwergewicht der wortkargen Schwermut, lichtet so Pfade der Solidarität, wo sie beinahe vergessen und/oder von interessedienlichen Gesetzen durchzogen sind: Sie führen, über den Umweg der Erinnerung der eigenen Not, zum grenzübergreifenden Mitgefühl der Figuren.

Schon alles verraten? Keineswegs – das war nur das nicht ganz trockene Baquette einer wirklich interessanten Kaurismäki-Geschichte, denn auch dieser Film des finnischen Auteurs lebt stark von dessen kargem, aber wesentlichem Stil, den dieser hier zu perfektionieren scheint: Recht lange und distanzierte Einstellungen, ein bedächtiger Erzählrhythmus, die knappe, elliptische Montage (Timo Linnasalo). Das dramatische Unterspielen der Mimik mit dann plötzlichen großen Gesten ist stark stilisierte Mileustudie.

LE HAVRE wird bestimmt von einem wieder herzlicheren Ton, auch jenem der treffsicher eingesetzten Musik: Von französischer Akkordeon-Folklore über finnische Surf-Klänge, Alt-Blues von der Schallplatte bis zum Rock’n’Roll en fabrique Haute-Normandie. Matte, augenzapfensättigende Farbtöne stechen entweder aus dem tristen Alltagsbild hervor, oder aber nehmen den ganzen Raum athmosphärisch ein, um die Einstellungen in eines dieser nur fast kitschigen Heiligenbildchen zu verwandeln, deren Plateu die Darsteller dann sehr verhalten beleben. Immer wieder verweilt die Kamera (Timo Salminen) nach dem "Abgang" der Darsteller auf dem Hintergrund, oder auf der unbewegten Szene, etwa nachdem die Blicke Marcels und Arlettys – die im Lauf der Handlung ins Krankenhaus eingeliefert wurde – wieder auseinander gingen: Diese "Bedenkzeit" wird nicht langweilig oder gar qualvoll, wenn sie auch noch so explizit ausgestellt ist – sie ist in diesem reflexiven Film inneres Spannungsmoment. Die visuelle Ruhe verdichtet das eben Gesehene, nun mehr Unsichtbare, die Bedeutung des Vergangenen, im Auge des Betrachters.

Abgesehen davon sind es unwirklich schöne, patinaablätternd verlebte Wände oder menschenleere Bar-Räume, die da stehen bleiben: Vollmundig klare, palimpsestische Vergänglichkeit, welche die Wertschätzung der Dinge hochhält. Die stilistische Spur einer subtilen Störung durchzieht das gesamte Aki-Kaurismäki-Filmuniversum, aber steht hier in voller Blüte. Es handelt sich um die speziellen, minimalen wie essentiellen Abweichungen von einer naturalistischen Darstellungsweise, die auf vielen Ebenen wirken: Die Positionierung der Figuren nahe an, aber nicht in der Bildmitte, wo sie in der Erzählung "bei sich" sind (und die im Breitbild-Format oft eine Aura von Einsamkeit der Figuren hervorruft). Eine wie immer sehr sorgfältige Bildkomposition, die still von der momentanen Intention der alltagsnahen Szene erzählt, wird betont durch intensive Lichtsetzung und spärliche Raumausstattung (Wouter Zoon). Auch wo keine Dialoge stattfinden, können die Wände vor Gefühlsausbrüchen zittern, so etwa, als Idrissa still den Blues ("Statesboro Blues" von Blind Willie McTell) entdeckt und man gar ein minimales Zucken seiner Beine zu vernehmen meint.

Die stimmungsvolle Störung betrifft hier auch die Dialoge in entscheidender Weise: Kaurismäki lässt seine Figuren aus existentiellen Gründen und auf poetische Weise lügen. Sie lenken so oft die Handlung, nach bestem Wissen und Gewissen, aber übernehmen dabei in erster Linie Verantwortung für den Anderen. Abgesehen davon geht es unter fein aufgesetzten Anführungszeichen darum, Würde zu bewahren ("Hast Du geweint?” – „Nein.” – „Gut, es hilft auch nicht."), oder mit trockensten Mitteln herzhaftes Lachen vom Stapel zu lassen. Im Falle des konformistisch-psychotischen, in der Figurenlandschaft des Filmes einzig einsam stehenden Nachbarn (Jean-Pierre Léaud) offeriert Kaurismäki – oder viel mehr der Darsteller selbst, der angeblich seine Dialoge stets zu improvisieren pflegt – sogar einmal psychologisches Profil. In LE HAVRE steht auch das Musikmachen an einer Stelle wieder im Rampenlicht: Der alternde Little Bob (Little Bob) elvist in knallroter Lederjacke wiegenden Breitbeines herum und singt Le Havreschen Arbeiterrock’n’Roll: „...I do my job..., ...try to stand free....". Auch die Literatur bekommt in LE HAVRE einen expliziten Auftritt: Bäckerin Yvette (Evelyne Didi) liest, neben Barfrau Claire (Elina Salo), Arletty im Krankenhaus aus Kafkas Nouvellen vor: „Wie könnten verrückte Menschen müde werden?“ Diese so minimalen wie essentiellen, lyrischen Störungen berühren nüchtern oszillierend die Normalität des Betrachtens.

So deutlich und wichtig wie kaum je zuvor scheint LE HAVRE ein unbedingtes Plädoyer zu sein für den Versuch der Verwirklichung eines eigenen, menschenmöglichen Traumes und das notwendige, aber würdevolle Einwirken auf die Welt, diesen zu Erreichen. Marcel Marx, der erfolglose Autor (aus LA VIE DE BOHÈME, R: Aki Kaurismäki, F/G/S/FIN 1992) praktiziert ein entschlossenes, leidenschaftliches Festhalten an dem Traum, der ihm das Leben möglich macht: Poetischer, verzweifelter Glaube an das Gute, die Liebe, die schöne Seite der Menschlichkeit, der wahr macht, was er kann und wunschdenkend überlagert, was unerträglich und unvermeidlich ist.

Doch kommt dieser neopoetisch-realistische Puppentheater-Märchenfilm letztlich nur dank seiner idealistischen Herzenswärme aus einem kleinbürgerlich eingerichteten Mief idealistischen Nebels heraus, jenem der Verbindung von Bourgoisie und Bohémian. Auch bejaht diese Wieder-Hinwendung des Finnen zu Frankreich als Ort filmischen Geschehens erneut, was schon aus der Ferne auszumachen ist: Die alte, sozialkritisch-lebenskulturelle Verbindung, deren Kinder des Olymp im Hafennebel oder unter den Dächern von Paris vor sich hin dösten, lange bevor der Tag anbrach. Es ist die Anknüpfung Kaurismäkis an den sogenannten poetischen Realismus französischer Regisseure der 1930er Jahre, die hier zu einem neu belebten, trocken wie leuchtend gestalteten Neo-Manifest seines eigenen Stils aufflammt. Die Analogien liegen etwa im ebenbürtigen, sympathisierenden Blick auf die Benachteiligten und der schmerzbewussten Aufmerksamkeit gegenüber sozialen Problemen wie auch in der deutlichen Positionierung zum Konflikt zwischen Individuum und Gesellschaft, sowie grundlegend in einer, wenn auch stilistisch jeweils sehr differierenden, phantastisch-parabelhaften filmischen Gestaltung der inhaltlichen Motive. Der aktuelle Bezug politischer, wirtschaftlicher und moralischer Krisen zu den 1930er Jahren, auch als Auslöser von Migration, birgt weitere Wurzeln. Kati Outinen schließlich wird hier mit dem Figurennamen Arletty geehrt: Dieser verweist namentlich wie mimisch-ikonisch auf die Schauspielerin, Stenotypistin, Mannequin und Revuetänzerin Arletty, eigentlich Léonie Marie Julie Bathiat, die ein Star in Filmen des sogenannten poetischen Realismus wie LE JOUR SE LÈVE (R: Marcel Carné, F, 1939) oder HOTEL DU NORD (R: Marcel Carné, F, 1938) war.


Andreas Michel


LE HAVRE. Buch, Regie: Aki Kaurismäki. Finnland, Frankreich, Deutschland 2011.
Darsteller: André Wilms (Marcel Marx), Kati Outinen (Arletty), Blondin Miguel (Idrissa), Jean-Pierre Darrousin (Kommissar Monet) etc.
Länge: 94 Minuten.
Anbieter: Pandora Film.
Keine Extras.


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FILMZ des Monats April: "Der blaue Engel"

FILMZ, das Festival des deutschen Kinos, fällt in diesem Jahr aus. Weiter geht es dagegen mit der Filmreihe "FILMZ des Monats", organisiert von Brainstream e.V. in Zusammenarbeit mit dem Mainzer Residenz & Prinzess-Filmtheater.

Dort wird am Mittwoch, 4. April, um 20 Uhr Josef von Sternbergs "Der blaue Engel" aus dem Jahr 1930 gezeigt; endlich wagt sich FILMZ damit auch an die deutsche Filmgeschichte vor 1950 heran: "Der blaue Engel" ist ein Klassiker des Weimarer Kinos, ein Melodram, eine Literaturverfilmung, der Film, mit dem Marlene Dietrich zur Ikone wurde.

Die Dietrich spielt die Tingeltangelsängerin Lola Lola, der der distinguierte Professor Rath (gespielt von einem wie immer großartigen Emil Jannings) haltlos verfällt. Er gibt sein bürgerliches Leben auf, zieht mit ihr durch die Lande, und nimmt, nur um bei ihr sein zu können, jede Demütigung auf sich.

Romanvorlage von Heinrich Mann ("Professor Unrat"), Drehbuch u.a. von Carl Zuckmayer: der Film war von vornherein als hochwertige Produktion vorgesehen. Von Sternberg und Jannings (allererster Schauspieleroscar 1928!), beide amerikaerfahren: "Der blaue Engel" war eine internationale Prestigeprojektion. Marlene in Unterwäsche, das Lied "Ich bin von Kopf bis Fuß auf Liebe eingestellt: Ikonische Bilder machten den Film zu einer Legende.

Die letzte Versuchung Robert De Niros (Teil 1)


Bestandsaufnahme einer ebenso einzig- wie eigenartigen Karriere


von
Jochen Thielmann


Es begann mit MEAN STREETS (Hexenkessel, 1973), THE GODFATHER PART 2 (Der Pate Teil 2, 1974) und TAXI DRIVER (1976). Zu den letzten Einträgen gehörten RIGHTOUS KILL (Kurzer Prozess, 2008), LITTLE FOCKERS (Meine Frau, unsere Kinder und ich, 2010) und MANUALE D`AMORE 3 (2011). Es gehört nicht viel Kinosachverstand dazu, um festzustellen, dass der Qualitätsunterschied zwischen der ersten und der zweiten Gruppe von Filme immens ist. Aber wie ist es nur dazu gekommen, dass die Karriere des Schauspielers Robert De Niro diese Richtung genommen hat?


I. Die Zeit nach der Gipfelbesteigung

Kennen Sie Justin Zackham? Oder Rodrigo Cortès?

Man schrieb das Jahr 1983. Robert De Niro drehte mit Sergio Leone ONCE UPON A TIME IN AMERICA (Es war einmal in Amerika, 1984), als er seinen Freund und Hausregisseur Martin Scorsese bei den Filmfestspielen in Cannes traf, wo der gemeinsame Film THE KING OF COMEDY (King of Comedy, 1983) gezeigt wurde. Der gläubige Katholik Scorsese war zu diesem Zeitpunkt damit beschäftigt, seinen Traum von der Verfilmung des kontroversen Romans „Die letzte Versuchung Christi“ von Nikos Kazantzakis zu verwirklichen. Der Schriftsteller hat als die buchstäblich letzte Versuchung, der Jesus widerstehen muss, das normale Leben eines guten Menschen geschildert, der eine Familie gründet und seiner täglichen Arbeit nachgeht. Zu diesem Zeitpunkt fehlte Scorsese noch der geeignete Hauptdarsteller und es verstand sich von selbst, dass er als erstes De Niro die Rolle anbot. Doch der Schauspieler lehnte ab, indem er auf seinen für Leones Film kahlrasierten Schädel deutete: „Sehe ich so aus, als könne ich Christus spielen?“ De Niro wollte Christus nicht darstellen, obwohl er es als Freundschaftsdienst für Scorseses im Notfall getan hätte. So wurde statt seiner zunächst Aidan Quinn verpflichtet und später Willem Dafoe.

Um Robert De Niros Entwicklung der letzten Jahrzehnte zu verstehen, ist es notwendig, sich an seine Situation zu dieser Zeit zu erinnern. War er im Jahre 1973 – an seinem 30. Geburtstag – ein viel versprechender, wenn auch weitgehend unbekannter Schauspieler, so war er zehn Jahre später bereits eine Legende, Vorbild einer neuen Generation von Schauspielern. Sein Status nach dem Erscheinen von RAGING BULL (Wie ein wilder Stier, 1980) und den sich anschließenden Preisverleihungen war in der Filmgeschichte nur vergleichbar mit Marlon Brandos Situation nach ON THE WATERFRONT (Die Faust im Nacken, 1954): er hatte den Gipfel erklommen, nur wenige Kollegen in Reichweite, der Rest bewundernd zu ihm aufschauend, der „König der Welt“. Seine Filme spielten zwar keine Millionen Dollar ein – in dieser Hinsicht war er um Lichtjahre von Burt Reynolds entfernt, der von 1978 bis 1982 die Kinokassen beherrschte. Aber der neueste De Niro-Film war immer ein großes Ereignis, die Erwartungen der Filmwelt stets hoch. Er hatte mehr erreicht, als sich ein amerikanischer Filmschauspieler wünschen konnte, aber der Druck, der auf ihm lastete, muss enorm gewesen sein.

Wie geht es weiter, wenn man auf dem Gipfel angekommen ist?



II. Verschwendetes Talent?

Sagen Ihnen der Name Jessy Terrero etwas? Gary McKendry?

Robert De Niro hat mittlerweile ein Alter erreicht, in dem er als deutscher Arbeitnehmer seine Rente einreichen könnte. Der 1943 geborene Schauspieler hat in den letzten Jahren sehr viele Preise für sein Lebenswerk und keine Auszeichnungen mehr für seine Leistung in aktuellen Filmen erhalten. Zuletzt bekam er im Rahmen der Golden Globe-Verleihung 2011 den Cecil B. DeMille-Award und hielt eine überraschend launige Dankesrede, in der er auch ausdrücklich an einige der Filme erinnerte, die nicht in dem üblichen Zusammenschnitt vorgekommen waren. Bereits im Jahre 2003 hatte er die höchste Auszeichnung des amerikanischen Films erhalten, den Life Achievement Award des American Film Institute. Als diese Ehrung im November 2002 offiziell angekündigt wurde, wurden vier Filme herausgehoben, die De Niros Klasse verdeutlichen sollten: RAGING BULL, THE GODFATHER PART TWO, TAXI DRIVER und THE DEER HUNTER (Die durch die Hölle gehen, 1978). Es ist sicher nicht zufällig, dass alle diese Filme in den 70er Jahren entstanden sind, der Hochphase des „New Hollywood“, in der De Niro aufstieg zur lebenden Legende, zum „Schauspielergott“, wie ihn Jerry Lewis bezeichnete. Noch im Dezember 1997 überschrieb die Zeitschrift Esquire eine Titelstory über den Schauspieler mit „The Man who acts like god“. Im Oktober 2004 erschien im englischen Kinomagazin Empire unter dem Titel „The greatest living actors (Gods among us)“ eine Umfrage, bei der De Niro auf den ersten Platz gewählt wurde.

Heute wäre es für die jungen Kinogänger kaum mehr denkbar, dem Schauspieler Robert De Niro gottgleiche Attribute zuzuerkennen. Wenn man in den Fachzeitschriften blättert oder im Internet surft, so scheint es, als ob es allgemeine Ansicht ist, dass die große Zeit De Niros lange vorüber ist. Die Filme dieses großen Mimen scheinen immer schlechter, immer belangloser zu werden, ohne Änderung in Sicht. Dass einige Filme von De Niro in Deutschland nicht die Kinos erreichten, das war schon früher so gewesen, man denke nur an TRUE CONFESSIONS (Fesseln der Macht / Gefährliche Beichte, 1981) oder THIS BOY`S LIFE (1992). Mittlerweile gibt es aber nicht wenige Filme, die man selbst als US-Kinobesucher nur unter den günstigsten Voraussetzungen im Filmtheater ansehen kann, wie THE BRIDGE OF SAN LUIS REY (Die Brücke von San Luis Rey, 2004), WHAT JUST HAPPENED (Inside Hollywood, 2008) oder STONE (2010) beweisen. Das hat natürlich auch mit dem boomenden Home-Video-Markt zu tun, sagt aber trotzdem einiges über die öffentliche Wahrnehmung seiner Arbeit aus. Immer öfter gehen De Niros Filme - und er selbst mit ihnen – bei Kritik und Publikum unter und niemand wundert sich darüber. Es drängt sich die Frage auf, woran das liegt. Die Antwort ist nicht einfach: Hat Robert De Niro seine erstaunliche Fähigkeit verloren, stets die lohnenden Filmprojekte zu wählen? Hat er die Lust an seiner Arbeit verloren oder nimmt er seine Arbeit nicht mehr so ernst wie früher? Meidet er Risiken und setzt stattdessen auf typischen Hollywood-Einheitsbrei? Oder geht es ihm vielleicht nur noch um Geld? Während sein alter Weggefährte Martin Scorsese mit Leonardo Di Caprio vor seiner Kamera Kunst und Kommerz so gekonnt mischt wie niemals zuvor, scheint De Niro nur noch die Hälfte wert zu sein. In A BRONX TALE (In den Straßen der Bronx, 1993), seinem ersten Film als Regisseur, ist das Credo der von ihm selbst dargestellten Vaterfigur: „Es gibt nichts Traurigeres als verschwendetes Talent.“

Hat Robert De Niro in den letzten zwanzig Jahren sein Talent verschwendet?


III. Vom Kurz- zum Fließbandarbeiter

Wer kennt Neil Burger? Oder Giovanni Veronesi?



Der erste Versuch Robert De Niros, sich dem immensen Druck zu entziehen, der auf ihm lastete, bestand Mitte der 80er Jahre darin, in Nebenrollen aufzutreten. BRAZIL (1985), ANGEL HEART (1987) und THE UNTOUCHABLES (Die Unbestechlichen, 1987) waren offensichtliche Versuche, sich nur auf seine Arbeit zu konzentrieren und das grelle Scheinwerferlicht den Filmen bzw. Nachwuchsstars wie Mickey Rourke oder Kevin Costner zu überlassen. Sieht man sich die Berichte der beteiligten Filmemacher Terry Gilliam, Alan Parker und Brian De Palma an, so hatte der Umstand, dass De Niro nicht die Hauptrolle spielte, keineswegs zur Folge, dass er weniger Zeit und Mühe investierte. Er arbeitete für die Nebenrollen ähnlich akribisch, wie zuvor für die Hauptrollen, auch wenn er weit weniger Zeit auf der Leinwand zu sehen war. Da aber De Niro - im Gegensatz etwa zu einem Marlon Brando - mit Leib und Seele Schauspieler war und ist und diesen Beruf über alles liebt, konnte ihn diese Strategie auf Dauer nicht befriedigen. So folgte auf den „Kurzarbeiter De Niro“ der „Fließbandarbeiter De Niro“. Inflationär kamen seine Filme daher, bis heute erscheinen mehrere Filme pro Jahr.

- Dreizehn Filme drehte Robert De Niro in den 70er Jahren, darunter neben den bereits erwähnten Klassikern NOVECENTO (1900, 1976), THE LAST TYCOON (Der letzte Tyconn, 1976) und NEW YORK, NEW YORK (1977).

- Ebenfalls dreizehn seiner Filme kamen in den 80er Jahren in die Kinos. Bei der im Filmmagazin „American Film“ veröffentlichten Wahl der besten Filme der 80er Jahre durch die US-Filmkritiker landeten vier dieser Filme in den Top Twenty: RAGING BULL (Platz 1), ONCE UPON A TIME IN AMERICA (Platz 8), THE KING OF COMEDY (Platz 10) und BRAZIL (Platz 20). Auch die deutschen Filmjournalisten kürten RAGING BULL zum besten Film und ONCE UPON A TIME IN AMERICA auf Platz 13 (steadycam Nr.15).

- In den 90er Jahren waren es hingegen vierundzwanzig neue Kinofilme mit Robert De Niro in einer Haupt- oder Nebenrolle. Zwei Filme wie CASINO (1995) und HEAT (1995) - jeweils fast drei Stunden lange Epen - hätten den Schauspieler in den 70er Jahren vermutlich drei Jahre seines Lebens gekostet. Im Jahre 1995 liefen sie nur wenige Wochen nacheinander in den Kinos an. Pickt man sich die zwölf interessantesten De Niro-Filme der 90er Jahre heraus (eine rein subjektive Bewertung), so kommt noch immer eine höchst eindrucksvolle Liste zusammen: GOOD FELLAS (1990), AWAKENINGS (Zeit des Erwachens, 1990), CAPE FEAR (Kap der Angst, 1991), MAD DOG AND GLORY (Sein Name ist Mag Dog, 1993), A BRONX TALE, MARY SHELLEY`S FRANKENSTEIN (1994), CASINO, HEAT, MARVIN`S ROOM (Marvins Töchter, 1996), COPLAND (1997), WAG THE DOG (1997), RONIN (1998), ANALYZE THIS (Reine Nervensache, 1999). Bei der Wahl der besten Filme dieses Jahrzehnts durch die deutschen Filmkritiker landete HEAT auf Platz 3 und GOODFELLAS auf Platz 5 (steadycam Nr.40).

- Und auch in der ersten Dekade des neuen Jahrtausends hat der Schauspieler seine Schlagzahl nicht besonders verringert, auch wenn die Qualität spürbar nachgelassen hat. An neunzehn neuen Filme, darunter allerdings zwei Sprechrollen in den Animationsfilmen SHARK TALE (Große Haie, kleine Fische, 2004) und ARTHUR ET LES MINIMOYS (Arthur und die Minimoys, 2006), arbeitete De Niro zwischen 2000 und 2009 mit. Und hier fällt es schon um einiges schwerer, die zwölf besten Filme herauszusuchen: MEET THE PARENTS (Meine Braut, ihr Vater und ich, 2000) und MEET THE FOCKERS (Meine Frau, ihre Schwiegereltern und ich, 2004) gehören wohl oder übel dazu. Sicherlich THE GOOD SHEPARD (Der gute Hirte, 2006) und STARDUST (Der Sternwanderer, 2007), Sowohl THE SCORE (2001) als auch CITY BY THE SEA (2002) landeten auf der Liste. Diese Nennungen zeigen schon, dass es keine Überraschung war, als Filme mit Robert De Niro bei der das Jahrzehnt abschließenden Kritikerumfrage diesmal keine Rolle spielten (www.bbl-steadycam.de).

- Seit Beginn des Jahres 2010 ist das Tempo eher gestiegen: Im November 2011 sind insgesamt sage und schreibe zehn Filme mit De Niro entweder bereits erschienen oder schon abgedreht. Es ist also nicht damit zu rechnen, dass Robert De Niro in nächster Zeit kürzer treten wird.



Es war unausweichlich, dass sich der Schauspieler bei der Vorbereitung auf die einzelnen Rollen nicht mehr soviel Zeit nehmen konnte wie in den ersten zwanzig Jahren seiner Karriere. Für den gemeinen Kinobesucher ist die Dauer der Vorbereitungszeit eines Schauspielers ohnehin von geringer Bedeutung. Die absolute Besessenheit für die einzelne Rolle gehörte der Vergangenheit an. Auch in diesem Bereich war mit RAGING BULL ein Höhepunkt erreicht, der nicht mehr zu überbieten war. Sich für einen Film zunächst in einen durchtrainierten Boxer zu verwandeln, um danach eine mehrmonatige Auszeit zu nehmen, um als übergewichtiger Nachtclub-Entertainer überzeugend aufzutreten, ist eine doppelte Tortur, die in der Filmgeschichte ihres gleichen sucht. De Niro lebte seine Rollen, er verkörperte die dargestellten Menschen, so gut er konnte. So lange er konnte. Schon nach THE UNTOUCHABLES, als er für die Darstellung des Al Capone erneut durch die Restaurants zog, um sich die nötigen Pfunde anzufuttern, ließ er verlauten, er werde so etwas nicht noch einmal tun, um einen Part auszufüllen.

Die Ausdehnung der Arbeitsleistung auf viele Filme anstatt des vollen Einsatzes auf ein einziges lohnenswertes Projekt führte zwangsläufig dazu, dass die Konzentration der Öffentlichkeit auf den „neuen De Niro“ nachließ. Diese Entwicklung ist als eine bewusste Gegenbewegung des Schauspielers auf den überhöhten Erwartungsdruck zu werten. De Niro sei ein Schauspieler, kein Star, hatte Sergio Leone nach der gemeinsamen Arbeit an ONCE UPON A TIME IN AMERICA geäußert, und mehr wollte De Niro wohl auch nie sein. Auf ein Podest gestellt zu werden, war ihm peinlich, seine öffentliche Auftritte vor der Presse oder die seltenen Interviews spiegelten eine fast körperliche Abneigung wider, über sich selbst und seinen Status reden zu müssen. Um wieder von diesem Podest herunterzukommen, nahm es Robert De Niro in Kauf, Filme zu drehen, die seinem früheren Anspruch an sich selbst, der von der Öffentlichkeit bereitwillig übernommen worden war, nicht mehr gerecht wurden. Mit der bewussten Entscheidung für mehrere Filme pro Jahr hat De Niro die Frage nach dem weiteren Karriereweg für sich beantwortet: für die Arbeit, gegen die eigene Legendenbildung.


IV. Vom Gangster zum Familienvater

Wer weiß Näheres über Kirk Jones? Über John Curran?

Es kann von hier aus nicht beurteilt werden, wann der mittlerweile fünffache Vater Robert De Niro begann, sich verstärkt für das eigene Familienleben zu interessieren. Im Kino ist Robert De Niro spätestens Anfang der 90er Jahre ein Familienmensch geworden. Er hatte stets Themen, die ihm wichtig waren und die er erkunden wollte. Zu Beginn seiner Karriere war dies der Vietnam-Krieg (TAXI DRIVER; THE DEER HUNTER; der Dokumentarfilm DEAR AMERICA – LETTERS FROM VIETNAM (1988); JACKNIFE (1989)) sowie die Gewalt und ihre Folgen im amerikanischen Leben (die Scorsese- und die Gangsterfilme); als verbindendes Element konnte man in den meisten seiner Charaktere eine tiefe Einsamkeit ausmachen. Er war - nicht nur in TAXI DRIVER – der prädestinierte Darsteller von „God`s lonely men“. Die Familie gab diesen Männern keinen Halt – im Gegenteil wurde der Riss innerhalb dieser Gemeinschaft mehrfach im letztlich zerstörten Verhältnis zum eigenen Bruder deutlich (RAGING BULL, TRUE CONFESSIONS, THE MISSION (Mission, 1986), natürlich auch THE GODFATHER PART TWO). Im Laufe der Zeit wurde das Verhältnis zwischen den Generationen innerhalb einer Familie immer öfter zum Thema der Filme De Niros, untergebracht in den unterschiedlichsten Genres.



In CAPE FEAR steht nicht sein Racheengel Max Cady, sondern die zerrüttete Kleinfamilie im Mittelpunkt der Geschichte und auch in MARVIN`S ROOM geht es um Probleme, denen man sich durch die Krebserkrankung eines Familienmitglieds stellen muss. SLEEPERS (1996) führt vor Augen, was aus Jungen werden kann, die in ihrer Kindheit schwer misshandelt worden sind. Auch in den Komödien wird der Generationenkonflikt thematisiert. ANALYZE THIS behandelt im Gewand einer Mafia-Komödie die Auswirkungen, die die Handlungen der Väter für ihre Kinder haben können. Und De Niro in der „FOCKER-Trilogie“ ist Nachfolger eines seiner Lieblingsschauspielers, die moderne Version von Spencer Tracy als „Vater der Braut“ – natürlich mehr in der Tradition von FATHER OF THE BRIDE (Vater der Braut, 1950) als von GUESS WHO`S COMING TO DINNER (Rat mal, wer zum Essen kommt, 1967).

Überhaupt ist die Vaterrolle immer mehr Teil von De Niros Leinwandpersönlichkeit geworden und hat darin den Gangster abgelöst. Nachdem schon in MIDNIGHT RUN (1988) eine ergreifende Szene das Wiedersehen des Kopfgeldjägers mit seiner Tochter zeigte, die er zuvor jahrelang nicht gesehen hatte, ging es in THIS BOY`S LIFE um den Kampf des jungen Leonardo DiCaprio gegen seinen brutalen Stiefvater De Niro. Die Titelfigur in THE FAN (1996) beginnt die Kontrolle über sein Leben zu verlieren, als er von Frau und Sohn verlassen wird. Der unterschätzte CITY BY THE SEA zeigt De Niro als Polizisten, der gegen seinen eigenen Sohn (James Franco) ermitteln muss. Auch die beiden Horrorfilme GODSEND (2004) und HIDE AND SEEK (2005) gehören in diese Aufzählung, denn in beiden Filmen spielt De Niro monströse Vaterfiguren. Die letzte intensive Behandlung dieses Themas ist EVERBODY`S FINE (2009), in dem ein Witwer seine vier erwachsenen Kinder besucht und nach und nach die Risse entdeckt, die es zu kitten gilt. In Umkehrung seiner Vaterrollen spielte De Niro auch einmal noch den Part des Kindes: Kenneth Branaghs MARY SHELLEY`S FRANKENSTEIN ist weniger ein klassischer Horrorfilm und mehr eine filmische Abhandlung darüber, welche Tragödie geschehen kann, wenn der Vater seinen eigenen Sohn verstößt.

Höhepunkte dieser Auseinandersetzungen sind aber die beiden Filme, bei denen der Schauspieler selbst Regie geführt hat. A BRONX TALE, den er seinem eigenen Vater Robert De Niro sr. gewidmet hat, erzählt die Geschichte des kleinen Calogero, der zwischen der Welt seines Vaters und des örtlichen Mafiosi hin- und hergerissen ist. De Niro spielt Lorenzo, der seinen Lebensunterhalt als Busfahrer verdient, um seine Frau und dem gemeinsamen Kind ein glückliches Leben zu ermöglichen, und dabei allen Versuchungen widersteht, mit illegalen Methoden an das schnelle Geld zu kommen. Die harte Realität des normalen Mannes wird konfrontiert mit der Glitzerwelt der Mafiosi des Viertels, die eine ungeheure Faszination auf seinen Sohn ausübt und in die er „durch eine gute Tat für einen bösen Menschen“ Eingang findet. Am Ende sieht der Junge ein, dass der Weg seines Vaters vorzuziehen ist und dass hinter der schimmernden Fassade wenig Sinn, wenig Freunde und kein wahres Glück verborgen ist. A BRONX TALE – nach dem Bühnenstück von Chazz Palminteri – setzt dem kleinen Arbeiter ein Denkmal und zeigt in ihm das wahre Vorbild für die nächste Generation.



In seiner zweiten Regie-Arbeit THE GOOD SHEPARD steht zwar vordergründig die Welt des CIA und der internationalen Geheimdienste im Mittelpunkt. Auf einer weiteren Ebene ist aber auch dieser Film eine Abhandlung über das Verhältnis von Vätern und Söhnen. Der von Matt Damon verkörperte Edward Wilson muss als Kind den Selbstmord seines Vaters erleiden und lässt später zu, dass die Braut seines Sohnes vor der Hochzeit liquidiert wird, womit er unwissentlich auch sein Enkelkind verliert. Endete A BRONX TALE noch optimistisch mit dem Vater und Sohn, die vereint durch die nächtlichen Straßen New Yorks gehen, so ist von dieser Grundeinstellung in THE GOOD SHEPARD nicht mehr viel übrig geblieben. Der Film endet damit, dass Wilson zum ersten Mal den Abschiedsbrief seines Vaters liest, der ihm wünscht, ein guter Vater zu werden. Die vorangegangenen zweieinhalb Stunden haben gezeigt, dass dieser Wunsch sich nicht erfüllt hat.

Es bleibt abzuwarten, ob sich Robert De Niro noch einmal der Regie eines Filmes widmet – eine Fortsetzung von THE GOOD SHEPARD soll in Planung sein – und ob auch dann wieder das Verhältnis eines Vaters zu seinem Sohn behandelt wird. Als Schauspieler jedenfalls sind weitere Werke bereits abgeschlossen, das genau in diesem Bereich zuhause ist: BEING FLYNN (2012) basiert auf einem Tatsachenroman von Nick Flynn und erzählt von einem Sozialarbeiter, der nach Jahren ohne näheren Kontakt in den städtischen Obdachlosenheimen immer wieder auf seinen eigenen Vater trifft. Für seine Darstellung hat De Niro die besten Kritiken seit Jahren erhalten, auch wenn der Film selbst ein gespaltenes Echo fand. Und auch in THE SILVER LININGS PLAYBOOK (2012) von Davis O. Russell, der zur Oscar-Saison im November dieses Jahres gestartet wird, wird er als Vater der von Bradley Cooper verkörperten Hauptfigur zu sehen sein.



Den zweiten Teil dieses Beitrags finden Sie demnächst hier auf Screenshot Online.

Grindhouse-Nachlese Februar 2012 – Satans Sohn und Supermarkt-Slasher

Samstag, 25. Februar 2012, Cinema Quadrat Mannheim:

„Warlock – Satans Sohn“, USA 1989, Regie: Steve Miner

„Intruder“, USA 1989, Regie: Scott Spiegel


Jaja, die 80er… also, ich meine jetzt die 1680er, als in Boston noch Hexen verfolgt wurden. Da sitzt dann der ultrablonde Hexenmeister Warlock im Turm, gefesselt und geschunden, und nein: er will nicht gestehen. Und auch dass Redferne, stilecht in Trapperpelz gewandet, ihn mit stechenden Pupillen in tiefen Augen anblickt, erweicht ihn nicht. Er weiß ja, dass er gerettet wird, schwupps kommt ein Wirbelsturm und zack ist er weg. Und Redferne wahrscheinlich tot, oder so.

Jaja, die 80er… jetzt 300 Jahre später, da ist Kassandra ziemlich abgebrannt, hat aber immerhin eine hippe Frisur und hippe Kleider – pink und aus Plastik! –, einen gesunden Jugendwahn und außerdem eine Bleibe gefunden bei einem Schwulen. Gemütlich eigentlich, bis Warlock durchs Wohnzimmerfenster fällt und dabei fast die antike Kommode kaputtmacht. Weil der schwule Mitbewohner sammelt nämlich alte Möbel, das ist nicht ganz unwichtig im weiteren Verlauf, damit per Zufall die Figurengrundkonstellation des Films zusammenkommen kann: Warlock – Redferne – Kassandra. Der Schwule ist in der Zwischenzeit gekillt, Warlock hat es nach dessen Ring gelüstet, also mit Messer den Finger abgehackt und Ring mitgenommen – von diesem Ring wird im Weiteren nie mehr was zu sehen oder zu hören sein. Dafür die antike Kommode: darin versteckt, o Wunder, ein Teil einer dreigeteilten Satansbibel, hinter der Warlock her ist. Was Redferne verhindern möchte; an den sich Kassandra hängt, weil Warlock, dieser gemeine Kerl, sie per Fluch täglich 20 Jahre altern lässt.

Bis hierhin hängt der Film ziemlich durch. Es passiert zwar einiges, aber das ist recht lahm, eher episodisch, ohne Elan und anscheinend hauptsächlich per Zufallsgenerator erzählt. Wenn sich die Elemente versammelt haben, wissen wir immerhin, wo es lang geht, und dann folgen wir dem Film recht gerne. So, wie Warlock den einer Wahrsagerin entrissenen Augen folgt, die er per Satanszauber so geeicht hat, dass sie die drei Böse-Bibel-Teile finden können. Und so wie Redferne – mit Kassandra im Schlepptau – einen Hexenmeister-Suchkompass hat, der ihm die Richtung anzeigt, wo das Böse sich aufhält.

Das Schöne ist, das Julian Sands als Bösewicht und Richard E. Grant als Bösewichtjäger gut zusammenpassen, beide sehen gut aus und können über ihre Präsenz faszinieren: solche Augen, und solche Blicke, das gibt’s heute nicht mehr. Während Lori Singer als Kassandra vor allem durch ihre Outfits heraussticht, und im Übrigen als echte Tuss nicht Auto fahren kann, weil sie sich ständig schminken oder nach einem Kaugummi runterbeugen muss. Ja: Der Film hat keine Angst vor kleinen Scherzen, und er scheut auch keine Schmerzen; immerhin nämlich lernen wir, dass ein Eisennagel, in die Fußspur einer Hexe/eines Hexenmeisters gehämmert, Pein in der Fußsohle verursacht.

Überhaupt lernen wir viel über Hexen und über die Regeln, denen sie unterworfen sind: Milch wird sauer, Pferde scheuen, Flammen züngeln bläulich – nicht nur Redferne, auch ein alter Bauer, ein Mennonit, weiß das zu deuten, es kommt zum ersten Duell auf einer Farm. Und wir sehen, wie ein Hexenmeister fliegt: das sieht so aus, wie’s in den 80ern aussieht, wir kennen das aus der TV-Kinderserie um den „Kleinen Vampir“, ihr wisst schon: wo Gerd Fröbe den Geiermeier spielt und das Fliegen vorm Bluescreen noch aussieht wie Fliegen vorm Bluescreen. Salz übrigens verabscheuen Hexen. Dass Redferne aber eine Wetterfahne mit sich rumträgt und in ein Flugzeug mitnimmt, ist wohl eher dem Gag geschuldet.

So ist „Warlock“ eben doch ganz lustig, wenn man sich auf die 80er-Ästhetik mal eingelassen hat; und er beinhaltet gar eine richtig gute Szene. Warlock setzt sich zu einem Jungen auf einer Schaukel, der spielt mit einem Proto-Gameboy, sie unterhalten sich ganz nett – warum bist du nicht in der Kirche? Mein Vater mag Religion nicht – Warlock offenbart sich als Hexe, und auf die Frage, wie er denn fliegen könne, schneidet der Film um. Später dann erfahren wir von einem Kind, das wahrscheinlich von Kojoten verschleppt wurde, dem die Haut abgerissen und das Fleisch zerfetzt wurde; und von Redferne hören wir: Hexen fliegen per Zaubertrank, gebraut aus dem Fett ungetaufter Kinder.

Gute Szenen en masse finden sich in „Intruder“. Darin geht ein Killer im Supermarkt nach Ladenschluss um und tötet die Angestellten, die mit Aufräumen, Warenkennzeichnen und Rumhängen beschäftigt sind. Der Film ist eine Art Freundschaftsprojekt unter „Evil Dead“-Veteranen, Sam Raimi spielt mit und Bruce Campbell, beide Regie und Produktion bei „Tanz der Teufel“-Filmen, Scott Spiegel führte Regie, er war Autor von „Evil Dead II“ – alle drei waren zudem Highschool-Freunde –, Robert Kurtzman besorgte das Special Make-Up, Sams Bruder Ted Raimi spielt auch mit.

Der gewalttätige Ex-Freund bedroht eine Kassiererin, wird rausgeschmissen, der Supermarkt geschlossen, aber er schleicht rum… Und von den Angestellten fällt einer nach dem anderen dem Killer zum Opfer. Das ist von der Story her überhaupt nicht spannend, als Whodunnit ist der Film unglaublich schwach – vielleicht deshalb verrät sogar der Filmtrailer, wer der Killer ist (Achtung – wer den Link anklickt, hat nen Spoiler am Hals!).

Aber die verschiedenen Todesarten, die dieser lustig-gewalttätige Film bietet, machen alles wieder gut. Sie haben keinerlei Funktion für die Story, für die Filmfiguren, die keine Ahnung haben, was die ganze Zeit über passiert, sie sind einzig und allein zum Vergnügen der Filmzuschauer inszeniert, und das reicht ja auch. Man hat in einem Supermarkt ja ne Menge Möglichkeiten: Messer gibt’s genug, Sägen und Fleischerhaken in der Metzgereiabteilung auch, und im Büro ein Zettelspieß… Doch nicht nur die Waffen, auch die Ausführung der Morde ist doll. Der Marktleiter, profitgierig wie man als Marktleiter halt so ist, erleidet sein Schicksal: er wird aufgespießt auf dem Papierhalter, sein Kopf fällt auf die Rechenmaschine, die blutrote Zahlenkolonnen ausdruckt… und sein Blut tropft auf die Schreibtischlampe, wo es auf der Birne vor sich hinköchelt, mit psychedelisch-roten Schattenschwaden an den Wänden…
Weil der Killer pervers ist, zerteilt er die Leichen, verteilt sie im Markt, und ich bin sicher, nicht alle Körperteile in all den Regalen und Verstecken entdeckt zu haben. Eine Hand im Hummerbecken, ein Torso im Mülleimer, ein Auge im Olivenglas…

Der Film ist eine Freude in seiner ausgefallenen Exzentrik; und er verweist auf die Zukunft des Filmemachens. Während „Warlock“ ganz in seiner Zeit der 80er verhaftet war, ist „Intruder“ das Produktionsdebüt von Lawrence Bender, der fürderhin ca. alle Tarantino- und tarantinoverwandten Filme produzieren wird. Nur ein Jahr später entstand nicht im Supermarkt, aber in einer Lagerhalle „Reservoir Dogs“ – der von den Erfahrungen des Filmdrehs auf Kammerspiel-Level, die Bender mit „Intruder“ gesammelt hat, sicherlich profitierte.

Und dann haben wir in „Intruder“ noch die wunderbaren Kamerastandpunkte, die Bender zu Tarantino mitgebracht hat. Subjektiven aus dem Einkaufswagen raus, vom Kassenband aus, ja sogar die Perspektive des Fußbodens, über den ein Besen drüberfegt, oder die Sicht eines sich drehenden Türknaufs; natürlich kippt die Kamera da mit. Boy, muss Tarantino von „Intruder“ gelernt haben! All die extravaganten Kameraeinstellungen, die wir immer wieder bei ihm finden, Subjektive eines Samuraischwertes, ausm Kofferraum raus etc.: Das hat Spiegel in „Intruder“ im Extrem vorgemacht.

Harald Mühlbeyer

Die Seele der Aronofsky-Filme - Darren Aronofsky-Seminar Mannheim

Im Dialog: Psychoanalyse und Filmtheorie. 10. Mannheimer Filmseminar, 2. bis 4. März 2012, Cinema Quadrat


Es geht bei Darren Aronofsky um ein schwankendes Gleichgewicht zwischen Geist und Körper, wie auf einer Wippe. Ist der Geist stark, schwächt sich der Körper, geht es ums Körperliche, lässt der Geist nach.

In „Pi“ verfängt sich der Protagonist Max Cohen in ein Netz aus Denken und Rechnen, aus Furcht und Paronoia – er ist der reine Geist, dessen Körper ihn mit Kopfschmerz straft, bis er sich – seinen Verstand, sein Denken, wahrscheinlich seine Identität – per Bohrmaschinen-Selbstlobotomie ruhigstellt. In „Requiem for a Dream“ steht der körperliche Verfall durch Sucht und Drogen den hehren Idealen einer großen Liebe und einer perfekten Selbstverwirklichung – all in the mind – entgegen. In „The Fountain“ geht es um das Sterben, um die Wiedergutmachung des Todes, auf einem Trip durch drei Zeitebenen und mehrere Jahrhunderte, die vielleicht nur im Traum, in Literatur oder gar in Wahn stattfinden. „The Wrestler“ ist nur Körper, so wie auch Nina in „Black Swan“ die perfekte Körperlichkeit zu erreichen will – inklusive Zerfall der Psyche.

Dass Aronofsky für das zehnte Mannheimer Filmseminar gewählt wurde, in dem Filmwissenschaftler mit Psychoanalytikern in fruchtbaren Dialog treten, ist bei dieser Gemengelage aus Wahn, Traum und dem Unvermögen einer Harmonie von Geist und Fleisch nur folgerichtig. Dass das 84-Platz-Cinema Quadrat vollständig ausverkauft war, ist Bestätigung der richtigen Wahl zu diesem Seminar, in der das Filmhistorische – das in vorherigen Seminaren etwa über Pasolini, Antonioni oder Bergman zwangsläufig mit hineinspielt – außen vor blieb, das dafür zugleich eine vollständige Werkschau des Regisseurs mit seinen bisher fünf Spielfilmen bot. Immerhin ist von Aronofsky noch vieles und wahrscheinlich Großes zu erwarten.

Peter Schraivogel, Psychoanalytiker aus Tübingen, unterzog Aronofskys Debütfilm „Pi“ einer eingehenden psychoanalytischen Deutung. Streng dem Filmtext entlang stieg er ein in die Psyche der Figuren, in die Psyche des Films: „Die Reise ins Innere als Verzeicht auf die absolute Wahrheit“ war sein Vortrag betitelt, er fing mit Faust an – der danach strebt zu wissen, was die Welt im Innersten zusammenhält – und führte bis hin zum kabbalistischen Schöpfungsmythos, mit einem Protomenschen, dessen Lichtausstrahlung in Gefäße gefüllt wird, die daran zerbrechen – inklusive einem Hinweis auf eine Anselm-Kiefer-Collage, die dieses Zerbrechen der Gefäße thematisiert.

Für den psychologischen Laien manchmal etwas verstiegen, was die psychoanalytischen Begrifflichkeiten und Denkmodelle angeht, ging Schraivogel doch den Weg, den auch eine Filmanalyse gehen würde – Beweis dafür, wie universell kompatibel psychologisch-psychoanalytische Deutungsmodelle sind, und wie fruchtbar sie auf die Gebiete des Lebens und der Kunst angewandt werden können. Ob nun die Sonne, von der der „Pi“-Protagonist im Kindesalter geblendet wurde, nach der einen psychoanalytischen Schule das väterliche, mithin göttliche Prinzip bedeutet und die anschließende Blendung die Kastrationsstrafe, oder ob die Sonne nicht vielleicht eher das mütterliche Prinzip des vollkommenen Körpers symbolisiert, die Strafe also auf den Übertritt über das Inzestverbot erfolgt – unbestritten ist die metaphorische Auffassung als Licht der Erkenntnis, dem Max Cohen zustrebt, hin zu einer Wahrheit, die allein Gott – oder welchem Übergeordneten immer – vorbehalten bleiben sollte. Und dass es sich bei den verschiedenen Figuren des Films (auch) nur um „innere Objekte“ von Cohen handeln könnte, dass also die objektive Wahrheit um die kabbalistische Sekte oder um die Wall-Street-Händler, die Cohen verfolgen um der großen mathematischen Formel der absoluten Erkenntnis willen, dass die Vermieterin eine Mutter-, der mathematische Mentor eine Vaterfigur sind, ist einleuchtend für jeden, der sich näher mit dem Film beschäftigt. Hier psychoanalytische Interpretationsmethoden zu unterlegen ist mehr als schlüssig.

In diese Richtung ging auch Marcus Stigleggers einführendes Referat über eine Motivgeschichte innerer Bilder in Aronofskys Œuvre. In seiner eingehenden Betrachtung untersuchte Stiglegger insbesondere die ästhetischen Leitlinien der Filme: Die Zusammenarbeit mit Clint Mansell etwa und das Zusammenspiel von Ton, Musik und Bild, die oft auf jeweils eigener Ebene eine eigene Dimension hinzufügen; die Kameraarbeit, die Mise en scene, die Irritationsmomente, in denen sich die Elemente des Bildes zu verselbständigen scheinen; die HipHop-Montage, die die Bilder rhythmisierend und dynamisierend zu sich steigernden Sequenzen antreibt.

Daraus entwickelt Stiglegger seine thematischen Leitmotive in Aronofskys Werk: die unbedingte Suche nach dem Glück – von der Weltformel und dem Baum des Lebens bis zu Liebe, Erfolg und Tanzkarriere –, das Streben nach Perfektion, die Liebe angesichts des nahen Todes als Reminiszenz an die Schwarze Romantik und die schizophrene Perspektive – im Bewusstsein der Schwierigkeit, vor einer Ansammlung von Psychoanalytikern von Schizophrenie zu sprechen. Dieser Aspekt – Film an sich als paranoides System, bei dem Einzelelemente für eine sinnstiftende Deutung zwingend aufeinander bezogen werden müssen – ist grundlegende, reflektierte Strategie bei Aronofsky, der in seinen filmischen Erzählungen wenige verlässliche Verweise auf objektive Realität zulässt, bei dem die subjektive Perspektive an der Zerstörung der Wahrnehmung – der Figuren bezüglich ihrer Welt wie auch der Zuschauer bezüglich des Filmes – arbeitet.

Am Ende – bei der Diskussion mit dem Publikum – brachte Stiglegger es auf den Punkt: Ein Aronofsky-Werk übt Gewalt am Zuschauer aus, ist autoritär, eine Diktatur von der Leinwand herunter; es ist ein Film, der uns in die Fresse haut, kurz: es ist große Kunst.

Harald Mühlbeyer