Die letzte Versuchung Robert De Niros (Teil 1)


Bestandsaufnahme einer ebenso einzig- wie eigenartigen Karriere


von
Jochen Thielmann


Es begann mit MEAN STREETS (Hexenkessel, 1973), THE GODFATHER PART 2 (Der Pate Teil 2, 1974) und TAXI DRIVER (1976). Zu den letzten Einträgen gehörten RIGHTOUS KILL (Kurzer Prozess, 2008), LITTLE FOCKERS (Meine Frau, unsere Kinder und ich, 2010) und MANUALE D`AMORE 3 (2011). Es gehört nicht viel Kinosachverstand dazu, um festzustellen, dass der Qualitätsunterschied zwischen der ersten und der zweiten Gruppe von Filme immens ist. Aber wie ist es nur dazu gekommen, dass die Karriere des Schauspielers Robert De Niro diese Richtung genommen hat?


I. Die Zeit nach der Gipfelbesteigung

Kennen Sie Justin Zackham? Oder Rodrigo Cortès?

Man schrieb das Jahr 1983. Robert De Niro drehte mit Sergio Leone ONCE UPON A TIME IN AMERICA (Es war einmal in Amerika, 1984), als er seinen Freund und Hausregisseur Martin Scorsese bei den Filmfestspielen in Cannes traf, wo der gemeinsame Film THE KING OF COMEDY (King of Comedy, 1983) gezeigt wurde. Der gläubige Katholik Scorsese war zu diesem Zeitpunkt damit beschäftigt, seinen Traum von der Verfilmung des kontroversen Romans „Die letzte Versuchung Christi“ von Nikos Kazantzakis zu verwirklichen. Der Schriftsteller hat als die buchstäblich letzte Versuchung, der Jesus widerstehen muss, das normale Leben eines guten Menschen geschildert, der eine Familie gründet und seiner täglichen Arbeit nachgeht. Zu diesem Zeitpunkt fehlte Scorsese noch der geeignete Hauptdarsteller und es verstand sich von selbst, dass er als erstes De Niro die Rolle anbot. Doch der Schauspieler lehnte ab, indem er auf seinen für Leones Film kahlrasierten Schädel deutete: „Sehe ich so aus, als könne ich Christus spielen?“ De Niro wollte Christus nicht darstellen, obwohl er es als Freundschaftsdienst für Scorseses im Notfall getan hätte. So wurde statt seiner zunächst Aidan Quinn verpflichtet und später Willem Dafoe.

Um Robert De Niros Entwicklung der letzten Jahrzehnte zu verstehen, ist es notwendig, sich an seine Situation zu dieser Zeit zu erinnern. War er im Jahre 1973 – an seinem 30. Geburtstag – ein viel versprechender, wenn auch weitgehend unbekannter Schauspieler, so war er zehn Jahre später bereits eine Legende, Vorbild einer neuen Generation von Schauspielern. Sein Status nach dem Erscheinen von RAGING BULL (Wie ein wilder Stier, 1980) und den sich anschließenden Preisverleihungen war in der Filmgeschichte nur vergleichbar mit Marlon Brandos Situation nach ON THE WATERFRONT (Die Faust im Nacken, 1954): er hatte den Gipfel erklommen, nur wenige Kollegen in Reichweite, der Rest bewundernd zu ihm aufschauend, der „König der Welt“. Seine Filme spielten zwar keine Millionen Dollar ein – in dieser Hinsicht war er um Lichtjahre von Burt Reynolds entfernt, der von 1978 bis 1982 die Kinokassen beherrschte. Aber der neueste De Niro-Film war immer ein großes Ereignis, die Erwartungen der Filmwelt stets hoch. Er hatte mehr erreicht, als sich ein amerikanischer Filmschauspieler wünschen konnte, aber der Druck, der auf ihm lastete, muss enorm gewesen sein.

Wie geht es weiter, wenn man auf dem Gipfel angekommen ist?



II. Verschwendetes Talent?

Sagen Ihnen der Name Jessy Terrero etwas? Gary McKendry?

Robert De Niro hat mittlerweile ein Alter erreicht, in dem er als deutscher Arbeitnehmer seine Rente einreichen könnte. Der 1943 geborene Schauspieler hat in den letzten Jahren sehr viele Preise für sein Lebenswerk und keine Auszeichnungen mehr für seine Leistung in aktuellen Filmen erhalten. Zuletzt bekam er im Rahmen der Golden Globe-Verleihung 2011 den Cecil B. DeMille-Award und hielt eine überraschend launige Dankesrede, in der er auch ausdrücklich an einige der Filme erinnerte, die nicht in dem üblichen Zusammenschnitt vorgekommen waren. Bereits im Jahre 2003 hatte er die höchste Auszeichnung des amerikanischen Films erhalten, den Life Achievement Award des American Film Institute. Als diese Ehrung im November 2002 offiziell angekündigt wurde, wurden vier Filme herausgehoben, die De Niros Klasse verdeutlichen sollten: RAGING BULL, THE GODFATHER PART TWO, TAXI DRIVER und THE DEER HUNTER (Die durch die Hölle gehen, 1978). Es ist sicher nicht zufällig, dass alle diese Filme in den 70er Jahren entstanden sind, der Hochphase des „New Hollywood“, in der De Niro aufstieg zur lebenden Legende, zum „Schauspielergott“, wie ihn Jerry Lewis bezeichnete. Noch im Dezember 1997 überschrieb die Zeitschrift Esquire eine Titelstory über den Schauspieler mit „The Man who acts like god“. Im Oktober 2004 erschien im englischen Kinomagazin Empire unter dem Titel „The greatest living actors (Gods among us)“ eine Umfrage, bei der De Niro auf den ersten Platz gewählt wurde.

Heute wäre es für die jungen Kinogänger kaum mehr denkbar, dem Schauspieler Robert De Niro gottgleiche Attribute zuzuerkennen. Wenn man in den Fachzeitschriften blättert oder im Internet surft, so scheint es, als ob es allgemeine Ansicht ist, dass die große Zeit De Niros lange vorüber ist. Die Filme dieses großen Mimen scheinen immer schlechter, immer belangloser zu werden, ohne Änderung in Sicht. Dass einige Filme von De Niro in Deutschland nicht die Kinos erreichten, das war schon früher so gewesen, man denke nur an TRUE CONFESSIONS (Fesseln der Macht / Gefährliche Beichte, 1981) oder THIS BOY`S LIFE (1992). Mittlerweile gibt es aber nicht wenige Filme, die man selbst als US-Kinobesucher nur unter den günstigsten Voraussetzungen im Filmtheater ansehen kann, wie THE BRIDGE OF SAN LUIS REY (Die Brücke von San Luis Rey, 2004), WHAT JUST HAPPENED (Inside Hollywood, 2008) oder STONE (2010) beweisen. Das hat natürlich auch mit dem boomenden Home-Video-Markt zu tun, sagt aber trotzdem einiges über die öffentliche Wahrnehmung seiner Arbeit aus. Immer öfter gehen De Niros Filme - und er selbst mit ihnen – bei Kritik und Publikum unter und niemand wundert sich darüber. Es drängt sich die Frage auf, woran das liegt. Die Antwort ist nicht einfach: Hat Robert De Niro seine erstaunliche Fähigkeit verloren, stets die lohnenden Filmprojekte zu wählen? Hat er die Lust an seiner Arbeit verloren oder nimmt er seine Arbeit nicht mehr so ernst wie früher? Meidet er Risiken und setzt stattdessen auf typischen Hollywood-Einheitsbrei? Oder geht es ihm vielleicht nur noch um Geld? Während sein alter Weggefährte Martin Scorsese mit Leonardo Di Caprio vor seiner Kamera Kunst und Kommerz so gekonnt mischt wie niemals zuvor, scheint De Niro nur noch die Hälfte wert zu sein. In A BRONX TALE (In den Straßen der Bronx, 1993), seinem ersten Film als Regisseur, ist das Credo der von ihm selbst dargestellten Vaterfigur: „Es gibt nichts Traurigeres als verschwendetes Talent.“

Hat Robert De Niro in den letzten zwanzig Jahren sein Talent verschwendet?


III. Vom Kurz- zum Fließbandarbeiter

Wer kennt Neil Burger? Oder Giovanni Veronesi?



Der erste Versuch Robert De Niros, sich dem immensen Druck zu entziehen, der auf ihm lastete, bestand Mitte der 80er Jahre darin, in Nebenrollen aufzutreten. BRAZIL (1985), ANGEL HEART (1987) und THE UNTOUCHABLES (Die Unbestechlichen, 1987) waren offensichtliche Versuche, sich nur auf seine Arbeit zu konzentrieren und das grelle Scheinwerferlicht den Filmen bzw. Nachwuchsstars wie Mickey Rourke oder Kevin Costner zu überlassen. Sieht man sich die Berichte der beteiligten Filmemacher Terry Gilliam, Alan Parker und Brian De Palma an, so hatte der Umstand, dass De Niro nicht die Hauptrolle spielte, keineswegs zur Folge, dass er weniger Zeit und Mühe investierte. Er arbeitete für die Nebenrollen ähnlich akribisch, wie zuvor für die Hauptrollen, auch wenn er weit weniger Zeit auf der Leinwand zu sehen war. Da aber De Niro - im Gegensatz etwa zu einem Marlon Brando - mit Leib und Seele Schauspieler war und ist und diesen Beruf über alles liebt, konnte ihn diese Strategie auf Dauer nicht befriedigen. So folgte auf den „Kurzarbeiter De Niro“ der „Fließbandarbeiter De Niro“. Inflationär kamen seine Filme daher, bis heute erscheinen mehrere Filme pro Jahr.

- Dreizehn Filme drehte Robert De Niro in den 70er Jahren, darunter neben den bereits erwähnten Klassikern NOVECENTO (1900, 1976), THE LAST TYCOON (Der letzte Tyconn, 1976) und NEW YORK, NEW YORK (1977).

- Ebenfalls dreizehn seiner Filme kamen in den 80er Jahren in die Kinos. Bei der im Filmmagazin „American Film“ veröffentlichten Wahl der besten Filme der 80er Jahre durch die US-Filmkritiker landeten vier dieser Filme in den Top Twenty: RAGING BULL (Platz 1), ONCE UPON A TIME IN AMERICA (Platz 8), THE KING OF COMEDY (Platz 10) und BRAZIL (Platz 20). Auch die deutschen Filmjournalisten kürten RAGING BULL zum besten Film und ONCE UPON A TIME IN AMERICA auf Platz 13 (steadycam Nr.15).

- In den 90er Jahren waren es hingegen vierundzwanzig neue Kinofilme mit Robert De Niro in einer Haupt- oder Nebenrolle. Zwei Filme wie CASINO (1995) und HEAT (1995) - jeweils fast drei Stunden lange Epen - hätten den Schauspieler in den 70er Jahren vermutlich drei Jahre seines Lebens gekostet. Im Jahre 1995 liefen sie nur wenige Wochen nacheinander in den Kinos an. Pickt man sich die zwölf interessantesten De Niro-Filme der 90er Jahre heraus (eine rein subjektive Bewertung), so kommt noch immer eine höchst eindrucksvolle Liste zusammen: GOOD FELLAS (1990), AWAKENINGS (Zeit des Erwachens, 1990), CAPE FEAR (Kap der Angst, 1991), MAD DOG AND GLORY (Sein Name ist Mag Dog, 1993), A BRONX TALE, MARY SHELLEY`S FRANKENSTEIN (1994), CASINO, HEAT, MARVIN`S ROOM (Marvins Töchter, 1996), COPLAND (1997), WAG THE DOG (1997), RONIN (1998), ANALYZE THIS (Reine Nervensache, 1999). Bei der Wahl der besten Filme dieses Jahrzehnts durch die deutschen Filmkritiker landete HEAT auf Platz 3 und GOODFELLAS auf Platz 5 (steadycam Nr.40).

- Und auch in der ersten Dekade des neuen Jahrtausends hat der Schauspieler seine Schlagzahl nicht besonders verringert, auch wenn die Qualität spürbar nachgelassen hat. An neunzehn neuen Filme, darunter allerdings zwei Sprechrollen in den Animationsfilmen SHARK TALE (Große Haie, kleine Fische, 2004) und ARTHUR ET LES MINIMOYS (Arthur und die Minimoys, 2006), arbeitete De Niro zwischen 2000 und 2009 mit. Und hier fällt es schon um einiges schwerer, die zwölf besten Filme herauszusuchen: MEET THE PARENTS (Meine Braut, ihr Vater und ich, 2000) und MEET THE FOCKERS (Meine Frau, ihre Schwiegereltern und ich, 2004) gehören wohl oder übel dazu. Sicherlich THE GOOD SHEPARD (Der gute Hirte, 2006) und STARDUST (Der Sternwanderer, 2007), Sowohl THE SCORE (2001) als auch CITY BY THE SEA (2002) landeten auf der Liste. Diese Nennungen zeigen schon, dass es keine Überraschung war, als Filme mit Robert De Niro bei der das Jahrzehnt abschließenden Kritikerumfrage diesmal keine Rolle spielten (www.bbl-steadycam.de).

- Seit Beginn des Jahres 2010 ist das Tempo eher gestiegen: Im November 2011 sind insgesamt sage und schreibe zehn Filme mit De Niro entweder bereits erschienen oder schon abgedreht. Es ist also nicht damit zu rechnen, dass Robert De Niro in nächster Zeit kürzer treten wird.



Es war unausweichlich, dass sich der Schauspieler bei der Vorbereitung auf die einzelnen Rollen nicht mehr soviel Zeit nehmen konnte wie in den ersten zwanzig Jahren seiner Karriere. Für den gemeinen Kinobesucher ist die Dauer der Vorbereitungszeit eines Schauspielers ohnehin von geringer Bedeutung. Die absolute Besessenheit für die einzelne Rolle gehörte der Vergangenheit an. Auch in diesem Bereich war mit RAGING BULL ein Höhepunkt erreicht, der nicht mehr zu überbieten war. Sich für einen Film zunächst in einen durchtrainierten Boxer zu verwandeln, um danach eine mehrmonatige Auszeit zu nehmen, um als übergewichtiger Nachtclub-Entertainer überzeugend aufzutreten, ist eine doppelte Tortur, die in der Filmgeschichte ihres gleichen sucht. De Niro lebte seine Rollen, er verkörperte die dargestellten Menschen, so gut er konnte. So lange er konnte. Schon nach THE UNTOUCHABLES, als er für die Darstellung des Al Capone erneut durch die Restaurants zog, um sich die nötigen Pfunde anzufuttern, ließ er verlauten, er werde so etwas nicht noch einmal tun, um einen Part auszufüllen.

Die Ausdehnung der Arbeitsleistung auf viele Filme anstatt des vollen Einsatzes auf ein einziges lohnenswertes Projekt führte zwangsläufig dazu, dass die Konzentration der Öffentlichkeit auf den „neuen De Niro“ nachließ. Diese Entwicklung ist als eine bewusste Gegenbewegung des Schauspielers auf den überhöhten Erwartungsdruck zu werten. De Niro sei ein Schauspieler, kein Star, hatte Sergio Leone nach der gemeinsamen Arbeit an ONCE UPON A TIME IN AMERICA geäußert, und mehr wollte De Niro wohl auch nie sein. Auf ein Podest gestellt zu werden, war ihm peinlich, seine öffentliche Auftritte vor der Presse oder die seltenen Interviews spiegelten eine fast körperliche Abneigung wider, über sich selbst und seinen Status reden zu müssen. Um wieder von diesem Podest herunterzukommen, nahm es Robert De Niro in Kauf, Filme zu drehen, die seinem früheren Anspruch an sich selbst, der von der Öffentlichkeit bereitwillig übernommen worden war, nicht mehr gerecht wurden. Mit der bewussten Entscheidung für mehrere Filme pro Jahr hat De Niro die Frage nach dem weiteren Karriereweg für sich beantwortet: für die Arbeit, gegen die eigene Legendenbildung.


IV. Vom Gangster zum Familienvater

Wer weiß Näheres über Kirk Jones? Über John Curran?

Es kann von hier aus nicht beurteilt werden, wann der mittlerweile fünffache Vater Robert De Niro begann, sich verstärkt für das eigene Familienleben zu interessieren. Im Kino ist Robert De Niro spätestens Anfang der 90er Jahre ein Familienmensch geworden. Er hatte stets Themen, die ihm wichtig waren und die er erkunden wollte. Zu Beginn seiner Karriere war dies der Vietnam-Krieg (TAXI DRIVER; THE DEER HUNTER; der Dokumentarfilm DEAR AMERICA – LETTERS FROM VIETNAM (1988); JACKNIFE (1989)) sowie die Gewalt und ihre Folgen im amerikanischen Leben (die Scorsese- und die Gangsterfilme); als verbindendes Element konnte man in den meisten seiner Charaktere eine tiefe Einsamkeit ausmachen. Er war - nicht nur in TAXI DRIVER – der prädestinierte Darsteller von „God`s lonely men“. Die Familie gab diesen Männern keinen Halt – im Gegenteil wurde der Riss innerhalb dieser Gemeinschaft mehrfach im letztlich zerstörten Verhältnis zum eigenen Bruder deutlich (RAGING BULL, TRUE CONFESSIONS, THE MISSION (Mission, 1986), natürlich auch THE GODFATHER PART TWO). Im Laufe der Zeit wurde das Verhältnis zwischen den Generationen innerhalb einer Familie immer öfter zum Thema der Filme De Niros, untergebracht in den unterschiedlichsten Genres.



In CAPE FEAR steht nicht sein Racheengel Max Cady, sondern die zerrüttete Kleinfamilie im Mittelpunkt der Geschichte und auch in MARVIN`S ROOM geht es um Probleme, denen man sich durch die Krebserkrankung eines Familienmitglieds stellen muss. SLEEPERS (1996) führt vor Augen, was aus Jungen werden kann, die in ihrer Kindheit schwer misshandelt worden sind. Auch in den Komödien wird der Generationenkonflikt thematisiert. ANALYZE THIS behandelt im Gewand einer Mafia-Komödie die Auswirkungen, die die Handlungen der Väter für ihre Kinder haben können. Und De Niro in der „FOCKER-Trilogie“ ist Nachfolger eines seiner Lieblingsschauspielers, die moderne Version von Spencer Tracy als „Vater der Braut“ – natürlich mehr in der Tradition von FATHER OF THE BRIDE (Vater der Braut, 1950) als von GUESS WHO`S COMING TO DINNER (Rat mal, wer zum Essen kommt, 1967).

Überhaupt ist die Vaterrolle immer mehr Teil von De Niros Leinwandpersönlichkeit geworden und hat darin den Gangster abgelöst. Nachdem schon in MIDNIGHT RUN (1988) eine ergreifende Szene das Wiedersehen des Kopfgeldjägers mit seiner Tochter zeigte, die er zuvor jahrelang nicht gesehen hatte, ging es in THIS BOY`S LIFE um den Kampf des jungen Leonardo DiCaprio gegen seinen brutalen Stiefvater De Niro. Die Titelfigur in THE FAN (1996) beginnt die Kontrolle über sein Leben zu verlieren, als er von Frau und Sohn verlassen wird. Der unterschätzte CITY BY THE SEA zeigt De Niro als Polizisten, der gegen seinen eigenen Sohn (James Franco) ermitteln muss. Auch die beiden Horrorfilme GODSEND (2004) und HIDE AND SEEK (2005) gehören in diese Aufzählung, denn in beiden Filmen spielt De Niro monströse Vaterfiguren. Die letzte intensive Behandlung dieses Themas ist EVERBODY`S FINE (2009), in dem ein Witwer seine vier erwachsenen Kinder besucht und nach und nach die Risse entdeckt, die es zu kitten gilt. In Umkehrung seiner Vaterrollen spielte De Niro auch einmal noch den Part des Kindes: Kenneth Branaghs MARY SHELLEY`S FRANKENSTEIN ist weniger ein klassischer Horrorfilm und mehr eine filmische Abhandlung darüber, welche Tragödie geschehen kann, wenn der Vater seinen eigenen Sohn verstößt.

Höhepunkte dieser Auseinandersetzungen sind aber die beiden Filme, bei denen der Schauspieler selbst Regie geführt hat. A BRONX TALE, den er seinem eigenen Vater Robert De Niro sr. gewidmet hat, erzählt die Geschichte des kleinen Calogero, der zwischen der Welt seines Vaters und des örtlichen Mafiosi hin- und hergerissen ist. De Niro spielt Lorenzo, der seinen Lebensunterhalt als Busfahrer verdient, um seine Frau und dem gemeinsamen Kind ein glückliches Leben zu ermöglichen, und dabei allen Versuchungen widersteht, mit illegalen Methoden an das schnelle Geld zu kommen. Die harte Realität des normalen Mannes wird konfrontiert mit der Glitzerwelt der Mafiosi des Viertels, die eine ungeheure Faszination auf seinen Sohn ausübt und in die er „durch eine gute Tat für einen bösen Menschen“ Eingang findet. Am Ende sieht der Junge ein, dass der Weg seines Vaters vorzuziehen ist und dass hinter der schimmernden Fassade wenig Sinn, wenig Freunde und kein wahres Glück verborgen ist. A BRONX TALE – nach dem Bühnenstück von Chazz Palminteri – setzt dem kleinen Arbeiter ein Denkmal und zeigt in ihm das wahre Vorbild für die nächste Generation.



In seiner zweiten Regie-Arbeit THE GOOD SHEPARD steht zwar vordergründig die Welt des CIA und der internationalen Geheimdienste im Mittelpunkt. Auf einer weiteren Ebene ist aber auch dieser Film eine Abhandlung über das Verhältnis von Vätern und Söhnen. Der von Matt Damon verkörperte Edward Wilson muss als Kind den Selbstmord seines Vaters erleiden und lässt später zu, dass die Braut seines Sohnes vor der Hochzeit liquidiert wird, womit er unwissentlich auch sein Enkelkind verliert. Endete A BRONX TALE noch optimistisch mit dem Vater und Sohn, die vereint durch die nächtlichen Straßen New Yorks gehen, so ist von dieser Grundeinstellung in THE GOOD SHEPARD nicht mehr viel übrig geblieben. Der Film endet damit, dass Wilson zum ersten Mal den Abschiedsbrief seines Vaters liest, der ihm wünscht, ein guter Vater zu werden. Die vorangegangenen zweieinhalb Stunden haben gezeigt, dass dieser Wunsch sich nicht erfüllt hat.

Es bleibt abzuwarten, ob sich Robert De Niro noch einmal der Regie eines Filmes widmet – eine Fortsetzung von THE GOOD SHEPARD soll in Planung sein – und ob auch dann wieder das Verhältnis eines Vaters zu seinem Sohn behandelt wird. Als Schauspieler jedenfalls sind weitere Werke bereits abgeschlossen, das genau in diesem Bereich zuhause ist: BEING FLYNN (2012) basiert auf einem Tatsachenroman von Nick Flynn und erzählt von einem Sozialarbeiter, der nach Jahren ohne näheren Kontakt in den städtischen Obdachlosenheimen immer wieder auf seinen eigenen Vater trifft. Für seine Darstellung hat De Niro die besten Kritiken seit Jahren erhalten, auch wenn der Film selbst ein gespaltenes Echo fand. Und auch in THE SILVER LININGS PLAYBOOK (2012) von Davis O. Russell, der zur Oscar-Saison im November dieses Jahres gestartet wird, wird er als Vater der von Bradley Cooper verkörperten Hauptfigur zu sehen sein.



Den zweiten Teil dieses Beitrags finden Sie demnächst hier auf Screenshot Online.