FILMZ 2013: Mainz fühlt sich Disco

Ranisch-Pinkowski-Festspiele


FILMZ 2013 ist vorbei und hat einen glücklichen, sehr guten Hauptgewinner. Nach DAS KALTE EISEN von Thomas Lauterbach als bestem Dokumentarfilm und DIE SCHAUKEL DES SARGMACHERS von Elmar Imanov als bestem mittellangen Film ist es Axel Ranisch mit seinem ICH FÜHL MICH DISCO, der das „Mainzer Rad“ mit nach Hause nehmen darf. Knapp war die Entscheidung – die FILMZ-Filmprämierungen sind alles Publikumspreise, und fast ebenso gerne wie DISCO mochten die Mainzer KOHLHAAS ODER DIE VERHÄLTNISMÄSSIGKEIT DER MITTEL von Aaron Lehmann und Michaela Kezeles Drama DIE BRÜCKE AM IBAR. Doch eben nur fast. Und gewonnen hatte Axel Ranisch zusammen mit Pinkowski auch darüber hinaus.



Neben ICH FÜHL MICH DISKO, in dem Pinkowski die zweite Hauptrolle spielt, präsentierten beide gleich noch einen weiteren Film auf dem Festival des deutschen Kinos: den ebenfalls ohne fertige Dialoge produzierten Kinderfilm REUBER, in dem Pinkowski mit seiner stattlichen Gestalt titelgebenden – des Schreibens und Lesens eben eher unkundigen – Wegelagerer gibt. Darüber hinaus war der Schauspieler noch in zwei weiteren Werken – KOHLHAAS und dem mittellangen STUFE DREI – zu sehen, so dass schon bei der Moderation von ICH FÜHL MICH DISCO gescherzt wurde, es handele sich beim FILMZ 2013 eigentlich innoffiziell um die Heiko-Pinkowski-Festspiele.

Tatsächlich war es eher ein Ranisch-Pinkowski-Festival, aller hervorragenden Filme vor allem im Wettbewerb zum Trotz. Allein schon, weil sich der fröhlich-herzliche „Spielleiter“ Ranisch zusammen mit seinen „Sehr-Gute-Film“-ProduktionsfirmenmMitbegründern Pinkowski und Produzentin Anne Baeker (es fehlte nur noch Kameramann Dennis Pauls) auf der Bühne des Capitol-Kinos wie Bolle nicht nur über die 1.500 Euro Preisgeld oder die Auszeichnung an sich freuten, sondern auch die erneut von Juwelier Richard Weiland gestiftete und von ihm höchst selbst kreierte Bergkristalltrophäe bestaunten und bewunderten. Bis hin, dass die Sorge aufkam, ob nicht die ICH FÜHL MICH DISCO-Produzentinnen Ansprüche auf die Skulptur erheben könnten. So gewannen Ranisch und Co. auch die letzten Mainzer Zuschauersympathien.
Juwelier R. Weiland (l.), A. Ranisch (m.) u.
H. Pinkowski (Bild: FILMZ)

Ranisch freilich konnte schnell beruhigt werden: Der Preis und mithin das kleine Kunstwerk ist für den Regisseur. Selbst wenn dieser sich wie Ranisch lieber als „Spielleiter“ sieht und tituliert. Denn das Filmen, erklärte er bei den Fragerunden zu seinen Filmen, mache ihm einfach so viel Spaß. Und da sowohl der „Sehr gute Film“-Film REUBER (der im Nachklapp zu Ranischs Überraschungserfolg DICKE MÄDCHEN entstand und wie dieser quasi an der No-Budget-Grenze ansiedelt) wie auch der von Arte und dem Kleinen Fernsehspiel des ZDF geförderte ICH FÜHL MICH DISCO (mit zehn erstellten und schließlich allesamt weggeworfenen richtigen Drehbuchfassungen) lediglich ausgehend von einer (vor allem Figuren-) Skizze frei entstand, ist das Spiel der Darsteller mehr als üblich als ein eben solches zu betrachten: Ein Spiel, das sich entwickelt, das seine eigenen Regeln kennt und entfaltet und in dem der Schauspieler, wie Ranisch unumwunden zugibt, eher dem Regisseur etwas zu sagen hat als umgekehrt. „Zu 99 % hat der dann recht“. Schließlich wisse der Schauspieler, so Ranisch, ja viel besser über "seinen" Charakter Bescheid als er.

Ganz warm und freundlich wird’s einem in der Seele im traurig-grauen adventlichen Mainz, wenn Ranisch dort unten vor der Leinwand steht, schelmisch schmunzeln, das Mikro wie ein kleines Küken mit beiden Händen dicht unterm Kinn, dabei eine fröhlich Lust an seiner Arbeit und mitreißende Lebensfreude und -freudlichkeit verströmt. Entsprechend wachsen nicht nur auf der Leinwand mit und über Ranischs „Filmfamilie“ hinter und v.a. vor der Kamera – seine Oma Ruth Bickelhaupt etwa oder die „DICKEN MÄDCHEN“ Pinkowski und Peter Trabner (der in DISCO nur einen Kleinstauftritt hat, in REUBER aber mit Verve und Aberwitz den bösen Zauberer hinlegt) – die Filme zusammen und Einem ans Herzen: Dank Ranischs Auftritten, seinen Anekdoten und einnehmenden Art, die sich auf den unterschiedlichen Ebenen seiner Filme wie eine Weltsichtweise mit positiver Energie-Aura wiederfindet, schwappen eben diese Filme sozusagen von der Leinwand hinein in die Wirklichkeit, werden Oeuvre und grenzenloses Gesamtkunstwerk der besonderen Art.

Zumal sich diese Werke wiederum vieles aus der Realität fischen, den Neffen Tadeus als kleiner Held in REUBER, in ICH FÜHL MICH DISCO die Biografie. Auch Ranischs Schwimmmeister-Papa, dem der Film gewidmet ist, lehrte Turmspringen, doch anders als Florian (Frithjof Gawenda) hat der kleine Axel damals gekniffen. Die sagenhafte Postkarte mit dem denkwürdigen Lebensweisheit „Dicke Kinder sind schwerer zu entführen“, die in Florians Kinderzimmer an der Wand hängt, stammt aus Ranischs eigener Wohnung. Gänzlich frei erfunden, etwa in Sachen Unsportlichkeit ist ICH FÜHL MICH DISCO also nicht, aber das macht und sagt ja (noch) nichts, bleibt im Thematischen. Wie der Film mit der erwachenden Sexualität, mithin dem Schwulsein, umgeht, ist bestechend in seiner Leichtigkeit und Selbstverständlichkeit, weil der Film zugleich nicht die Unsicherheiten, die Risiken und Verletzungen ausspart, die Florian da mit dem rumänischen Jungen Radu (Robert Alexander Baer), Sprungturmschüler von Florians Papa Hanno (Pinkowski), machen und durch diesen erdulden muss. Dass derlei einfach „dazugehört“ zum homosexuellen Leben (ebenso wie ähnliche Schmerzlichkeiten überhaupt zu allen Herz- und Hormondingen) vermittelt ICH FÜHL MICH DISCO auch verblüffend bestechend: indem Liebe / Freundschaft zwischen Florian zum „uneindeutigen“ Radu schlicht nicht auserzählt bzw. zu keinem auch nur zwischenzeitigen oder moralischen Ende gebracht wird.

Eigentlich mehr geht es ja auch in ICH FÜHL MICH DISKO um Papa Hannos Verhältnis zu Florian, die miteinander nicht so viel anfangen können. Hier der Macher, der seinem Sohn das Familienmofa aufnötigen und einen ganzen Kerl aus ihm machen will, dort der pummelige Zartgeist mit dem Wunsch nach einem Klavier und ansonsten seiner Ruhe. Dabei hat Ranisch wohl daran getan, nicht den bösen harten, aber im Kern weichen Vater gegen einen unverstanden-leidenden Sohnemann zu setzen. Hanno macht von Beginn an in seiner polternden Hilf- und Tölpelhaftigkeit eine solch einnehmende Figur, dass man ihn auch noch dann drücken möchte, wenn er schnauffig-hadernd in der Schwimmhalle Radu oder Florian auf dem Zehner zusammenwettert. Ein voluminöser walrossbärtiger Klotz, der gestisch und mimisch hinter jedes Wutgezeter noch ein relativierendes „Is’ doch wahr...“ stumm zu setzen scheint.

Florian wiederum kann auch schon Kontra geben. Und überhaupt ist da ja noch Mutti (Christina Große). Und Christian Steiffen. Mit ersterer kann sich Florian herrlich unter der Disco-Kugel in tropisch-entspannende Gefilde träumen (während dem ersatzhaften Papa später zur Ausgestaltung des imaginierten Meer-Idylls ein Öltanker gerade mal einfällt, auf dem Weg nach Rotterdam). Oder Mama und Flori tanzen kostümiert zu den Songs von letzterem: Schlager-Comedian Steiffens famoses Stück „Sexualverkehr“ liefert das Intro des Films – und dass daraus ICH FÜHL MICH DISCO (auch so ein Steiffen-Titel) was für eine ausgelassen-warmherzige Mutter-Sohn-Nummer macht, kennzeichnet schon eine spezielle Güte des Films.

Aber Mutti bekommt einen Schlaganfall und fällt ins Koma. So müssen sich Hanno und Florian zusammenraufen, sich näher kommen, sich gegenseitig stützen. Auch hier mischt Ranisch wohldosiert Tragik mit großem Ulk und teils unwiderstehlich absurdem Witz: Erscheint Schnulzenbarde Steiffen Florian noch klar im Tagtraum, lässt er sich vom betrunkenen Papa in einem Asia-Restaurant verständnisvoll und souverän in die Fresse hauen, um ihm hernach ein Ständchen zu singen („Das Leben ist nicht immer nur Pommes und Disco, das sag‘ ich dir. Manchmal ist das Leben nur eine Flasche Bier“), sich mit ihm die Kante zu geben und abschließend Hanno eine Aufklärungsset in puncto „Schwuler Sohn, was nun?“. Ganz real also ist die enthaltene DVD aus den Händen des magischen Helfers Steiffen, die Hanno am nächsten morgen einlegt. Ein Ratgeberfilm von Rosa von Praunheim (einer von Ranischs Lehrern an der HFF-Potsdam, über den er u.a. mit Tom Tykwer und Chris Kraus die Doku ROSAKINDER gedreht hat). Und neben von Praunheim sieht Hanno sich plötzlich selbst sitzen, bei sich daheim, auf der Couch (siehe dazu auch den Filmtrailer HIER) ...


Improvisation hin, Skizzenhaftigkeit her: ICH FÜHL MICH DISCO präsentiert eine im Kern klassische, man könnte auch sagen allzu bekannte Geschichte. Umso überraschender, fast überrumpelnder ist es, was Ranisch daraus, ja,  überhaupt: wie viel Spaß der Film macht. ICH FÜHL MICH DISCO fabuliert sich schwungvoll wie irrwitzig, dabei mit der richtigen Menge an – auch stilistischen – Ecken und Kanten durch sein Familiendrama, umschifft auch die wichtigen, teils generischen Klippen der Tragödien mit Bravour, um am Schluss zwar nicht alles gut sein zu lassen, aber letztlich das Leben einen Partykeller mit Lichtorgel, Rüschenhemd und guter Laune, damit: alles ein bisschen besser. Auch die Stimmung und das Gemüt der Zuschauer, die sich schon auf den nächsten Streich Ranischs und Pinkowskis und vor allem beider zusammen freuen.


zyw

P.S.: Einen Beitrag über Axel Ranisch, seine Arbeit(sweise) und die anderer Vertreter des "German Mumblecore" finden Sie in ANSICHTSSACHE - ZUM AKTUELLEN DEUTSCHEN FILM.

FILMZ 2013: DAS MERKWÜRDIGE KÄTZCHEN


Fehlerhaft und phänomenal

Happy Birthday, KONTRASTFILM! Die Mainzer Produktionsfirma, langjähriger Förderer und Wegbegleiter des FILMZ – Festival des deutschen Kinos, feierte gestern, am Freitag den 29.12., sein Zehnjähriges. Die Party war zugleich gesellschaftlicher Höhepunkt des FILMZ außerhalb der Kinos, wie schon die KONTRASTFILM-Feiern in den Jahren zuvor. Nach der alten Postpakethalle hinterm Bahnhof oder, beim letzten Mal (sprich: im vorletzten Jahr), der ausgedienten Schule am Cinestar lud Tidi von Tiedemann mit seinen Mitstreitern dem Jubiläum angemessen in den feinen Klinkerblock am Mainzer Zollhafen. In schickem Ambiente wartete im Südteil des Baus Büffet beim Empfang, ehe dann im Norden des Gebäudes Bummbumm- und andere Musik die FILMZ-Party so richtig startete.

Ein zweifellos gelungener Abend (bzw. Nacht bzw. Morgen) auf der Mole für KONTRASTFILM. FILMZ hingegen, für das dieses Event erneut den Endspurt (Samstag und Sonntag) einläutete, steht hingehen im Jahr seiner Wiederkehr unter keinem allzu guten Stern. Zumindest, was die Technik betrifft. Mehr als gemeinhin üblich wird man Zeuge (oder hört von) Vorführungsproblemen: Hier ein falsches Bildformat, dort stockt die BluRay. Das erinnert an den Max Ophüls Preis, bei dem die digitalen Projektionen auch solche Schwierigkeiten machten, dass die Festivalleiter ad hoc zu dem Thema ein Pressefrühstück anberaumte. 2006 war das.

Andererseits lacht Fortuna dem FILMZ und seinen Zuschauern hinsichtlich des Angebots in der Spielfilmwettbewerbsschiene. Selten, vielleicht sogar wie nie zuvor, finden sich so viele Perlen im zugleich bunten (und mutigen) Programm, dass die Verleihung des „Mainzer Rads“, des Haupt- und zugleich Publikumspreises, am Sonntag tatsächlich spannend wird. Kleiner Wermutstropfen nur: keiner der zwölf Kandidatenfilme feierte in Mainz seine Premiere; das war schon mal anders. Aber FILMZ hat ja auch ein Jahr pausiert, und Tiziana Calò, Kerstin Krieg, Cornelius Kern und Urs Spörri als Auswahljury der Langspielfilme ist herzlich zu danken, nicht zuletzt weil sie und das FILMZ demonstrieren, welches vorzügliche Jahr für den aktuellen deutschen Film hinter uns liegt.

Einer dieser grandiosen Filme neben KOHLHAAS, dem harten TORE TANZT u.a. ist DAS MERKWÜRDIGE KÄTZCHEN von Ramon Zürcher, dessen Publikum auch Pech in Sachen Projektion hatte: Die erste Vorstellung von Festplatte wies ein enges Lichtpunkteraster auf der Leinwand auf, und denjenigen, die sich daran störten, wurden Ersatzkarten für das zweite Screening offeriert – das dann allerdings auch, so war zu hören, seine Macken hatte. 

Ganz egal: DAS MERKWÜRDIGE KÄTZCHEN stand und steht in seiner Brillanz über solchen technologischen Faxen, wurde durch diese vielleicht noch besonderer (zumindest besonders merkwürdiger, und man denke an seltene, begehrte, folglich teure Fehldrucke, -prägungen etc. -- vielleicht ein originelle Innovations- und Alleinstellungsidee für das FILMZ?). Auf der diesjährigen Berlinale erregte dieses seltsame Stück Kino jedenfalls Aufmerksamkeit und erntete Beifall. Für Rüdiger Suchsland auf artechock war es der „überraschendste Film“ und DER Geheimtipp der Berliner Filmfestspiele, aber schon, wenn man auch nur grob an so etwas wie eine Deutung oder auch nur Inhaltsangabe gehen will, wird es schwierig. Frédéric Jaeger von/auf critic.de erkannte „eine deutsche Gesprächskultur“ zelebriert, „wie sie selten in Spielfilmen erfahrbar wird“, eine Untersuchung in Sachen Kommunikation und eine Milieustudie im Berliner Altbau. Das kann man so auffassen, tatsächlich aber lässt sich DAS MERKWÜRDIGE KÄTZCHEN partout nicht auf derlei Themen und Inhalte festnageln oder runterbrechen, flutscht einem durch die Finger. Grob lässt sich die Handlung, wenn denn von einer solchen die Rede sein kann, beschreiben als der Tag eines Familientreffens zu Hause, und tatsächlich verbleibt der Film weitgehend in der Altbauwohnung, doch wer da wer bzw. was in der Familie ist, lässt sich zum großen Teil nur deuten (oder aus Paratexten wie dem Presseheft erschließen). Jenny Schily als „melancholische“ (Suchland), aber auch leise bissig-biestige Mutter, klar. Die große (MEIN FREUND AUS FARO-Anjorka Strechel) und die kleine Schwester, okay. Aber ist etwa der junge Mann, der da unvermittelt in der Küche auftaucht, nun der Bruder oder der Freund der älteren Tochter? DAS MERKWÜRDIGE KÄTZCHEN hilft einem nicht weiter, auch die Wohnung selbst muss man in Teilen zusammenreimen; plötzlich ist da irgendwie noch ein Zimmer ... ---

Als Rezensent rettet man sich, um diesem großartigen Film, zumindest ein kleinbisschen Herr zu werden, unweigerlich ins Metasprachliche. Zum einen weil DAS MERKWÜRDIGE KÄTZCHEN weniger ein Rätselspiel ist oder überhaupt narrativ, sondern in erster Linie eine Erfahrung. Zum anderen ist eben diese nicht nur, aber vor allem in Sachen Kino so ungewöhnlich, dass sie verführt, Oxymora auf einander zu schichten oder zumindest mit Widerspruchsmetaphern zu hantieren und mit bizarren Vergleichen. „[A]ls ob die strengen Autorenfilmer der »Berliner Schule« eine Familien-Soap inszenieren würden“, so Suchsland. Man könnte ebenso sagen: Wie wenn Jacques Tati WARUM LÄUFT HERR R. AMOK? als sanfte, liebende, humorvolle und doch befremdende Vor-Vor-Vorgeschichte der Maniac-Familie aus dem TEXAS CHAIN SAW MASSACRE gedreht hätte. Nur eben in Berlin, im Altbau, mit Hund und Katze und mit roten Dielen. -- Hilfe!

DAS MERKWÜRDIGE KÄTZCHEN ist ein phänomenaler Film. Nicht nur im Sinne von „außerordentlich“ oder „grandios“, sondern auch von „phänomenologisch“. Zu den Sachen selbst; aber hier wie bei Husserl meint das keinen simplen Realismus oder falschen Positivismus. DAS MERKWÜRDIGE KÄTZCHEN beobachtet und ist zugleich hochgradig artifiziell in seiner Inszenierung, pickt mit Großaufnahmen und genau komponierten Einstellungen Figuren und Details heraus – schneidet sie aber auch nur an oder belässt im Off, begrenzt die Wahrnehmung. Dadurch und darüber wird ein feines Netz an Dingen, Handlungen, Worten, Blicken und Reaktionen geknüpft, dieses aber auch offen lässt, Verweisfäden des Nichterklärten, des Nicht-Nachvollziehbaren.

Zürcher betreibt so mit leichter Hand eine Pathologie des Normalen, (re)konstruiert den Surrealismus des Alltäglichen und Allgewöhnlichen bei allen bizarren Kleinigkeiten, wie einer leere Flasche, die in einen Topf gestellt, unaufhörlich wippt und kreiselt und damit schließlich auch einige der Figuren selbst amüsiert (womit jeder filmsymbolische Metaphern-Charakter sich schon wieder erledigt).

Mal notiert der Film in der Summe seiner Gestaltungsmittel zusammen mit diesem oder jenem Familienmitglied etwas, mal beobachtet er sie beim Beobachten; bleibt außen vor. Mal ist es ein eigenständiger umherschweifend-zufälliger, dann wieder genau interessierter, registrierender Blick (hier wird vor allem die rotbraune Katze zum heimlichen Protagonisten des Ganzen). Alles in statischen Einstellungen. Viele der kleinen großen Figurenreden, Anekdoten, zwei illustriert durch den Film, kommen in steifer Sprache daher – wer redet schon im Alltag im reinen Imperfekt? Dann wieder hingeworfenen, lautdenkende Dialogsätze, die sich an keinen richten, die durch den Raum und die Figuren wabern wie elektronische Wellen. Dabei bleibt DAS MERKWÜRDIGE KÄTZCHEN, das ist das erstaunliche, so originell wie unforciert, schlicht beeindruckend in seiner Souveränität. 

Alles hat, vielleicht, auch seinen Sinn, seine Logik, sind die gestischen „Spielhandlungen“ der Figuren, mal heiter, mal leicht bedrohlich (so wenn die Mutter sich verträumt anschickt, der futternden Katze mit dem Fuß den Kopf in den Napf zu drücken). Weil wir aber nichts erklärt bekommen, weil Psychologie und Kausalitäten weitgehend ausgespart sind, stehen wir mal lachend, mal mit einem unheimlichen Gefühl, stets aber staunend vor den Dingen, die nicht oder nur bedingt eine „errettete Wirklichkeit“ ist. Über das Unausgesprochene, das Verweigern und das Geworfene, das Traumartige, das Verrätselte (eines, das keine Lösung kennt – darin ähnelt der Film dem Beobachten eines David Lynchs, bei allen Unterschieden), über das Andeuten, Anschneiden und das Periphere lehrt DAS MERKWÜRDIGE KÄTZCHEN nicht das Sehen neu, aber ein fremdartiges Sehen. Man kann auch sagen: DAS MERKWÜRDIGE KÄTZCHEN ist vornehmster cineastischer Vertreter eines zärtlich magischen Autismus. Ein Film, der sich einem immer noch über die Augen legt und die Wahrnehmung verrückt, wenn man aus dem Kinosaal hinaus ist.

Kongenial und immer besser, immer treffender entlang des Filmverlaufs, tritt zur famosen Bildgestaltung des dffb-Kamerastudenten Alexander Haßkerl die Musik u.a. von Stephane Leonard hinzu. Freilich hätte man als Soundtrack ebenso gut Jazz-Meister Dave Brubecks „Take Five“ wählen können. Eleganz und doch neurotisch, leicht schizophren. E
rschienen ist das Stück auf dem Album von 1959 mit dem für DAS MERKWÜRDIGE KÄTZCHEN ebenso passenden Titel Time Out. „Gruppenbild mit Katze“, so lautet die Logline des Films von Zürcher, der, ebenfalls noch an der dffb studiert (Regie). Sein Film ist im Rahmen eines Kurses von Béla Tarr entstanden (wurde dabei inspiriert von Kafkas „Die Verwandlung“, ist mithin gedacht [gewesen?] als soziale Studie in puncto Raum), und eigentlich kann Herr Zürcher (Jahrgang 1982) einem fast ein bisschen leid tun. Die Latte für seinen Abschlusswerk hat er sich selbst jedenfalls mit DAS MERKWÜRDIGE KÄTZCHEN sehr hoch gelegt.  

zyw




FILMZ 2013: Summer's gone

Zum Auftakt des Festival des deutschen Kinos in Mainz

Juhu, es ist wieder da, das Mainzer FILMZ – Festival des deutschen Kinos, der Lichtblick in der spätherbstlichen Tristesse. Ein Jahr hat es pausiert, dabei aber nichts an seiner Frische verloren und macht, im Großen und Ganzen da weiter, wo es aufgehört hat. Gottlob. Sicher, der Spielfilmwettbewerb ist enorm gewachsen: Zwölf „Lange“ konkurrieren dieses Jahr, und es wird ein harter Kampf. Das Rahmen- und Reihenprogramm ist erneut üppig: Urs Spörri präsentiert in der Altmünsterkirche wieder das Stummfilmkonzert (Fr., 29.11., ab 20.00 Uhr), gezeigt wird heuer ORLACS HÄNDE von Robert Wiene aus dem Jahr 1927, Drehbuchpitching am Sonntag, lokale Dokus, lokale Kurze neben den Contest-Reihen – und chill-out-after-hour-FILMZirkel ab 20.00 Uhr, diesmal bei „Oma Else“.

Gelb-Schwarz-Weiß, FILMZ ist wieder da, inklusive einem 007-Titelsequenz-würdigen Festivaltrailer. Aber irgendwie ist auch ein klitzekleinwenig der Wurm drin. Das ist natürlich auch nicht neu, macht auch nichts: FILMZ wird gestemmt von Ehrenamtlichen, was in Mainz eben auch heißt: von Studierenden, und da ist soviel Wechsel und Fluss drin, dass sich FILMZ zumindest hinter den Kulissen ohnehin schon öfters neu erfunden hat. Und das auch bei der Eröffnung nicht alles ganz rund lief, ist folglich ebenso traditionell wie sympathisch (mithin: welches Filmfest ist dahingehend schon perfekt).

Mindestens ein Mikro fällt am Dienstag aus (obligatorisch), das Beamerbild mit den Sponsoren flackert und wird just in dem Moment abgeschaltet, als eben darauf verwiesen wird, die Moderation noch ein bisschen steif. Egal, mehr noch: das hat Charme, lockert auf, war immer schon so (überall!), muss so sein. Was jedoch mehr befremdet und intuitiv schwerer wiegt ist, dass zum Start im großen "Capitol"-Kino nicht, wie die Jahre zuvor, dasselbe rappelvoll war. Viele Plätze blieben leer; vielleicht wegen zu viel eingeplanter Ehrengästen. Aber man vermisste ihn schon, den Aufruf, sich doch bitte zu melden, falls noch ein Platz neben einem unbesetzt ist. Schlimmer noch: Gerade nach der einjährigen Pause drängte sich zumindest für eine Schrecksekunden der Gedanke auf, dass das Interesse an FILMZ nachgelassen haben könnte, das Mainz und die Mainzer und aller drum herum zwar das Festival des deutschen Kinos loben und lieben, es aber doch schnell aus Herz und Hirn verlieren, kaum dass es mal aussetzt. Treulosigkeit, Oberflächlichkeit, Entbehrlichkeit? Die nächsten Tagen werden zeigen, ach was, beweisen, dass dem nicht so ist! Denn FILMZ ist wieder da, und mit einer weiteren Tradition hat man auch zur Eröffnung auf verlässliche Weise nicht gebrochen, nämlich jene, nicht gerade mit dem dollsten Film des Wettbewerbs zu beginnen. Wer verschießt schon sein Pulver gleich zu Anfang – Spannungskurve, Dramaturgie, das gilt nicht nur für Filme, sondern auch für ihre Festivals.

Dabei war es gut geplant und stimmig getimed: Kaum wird es (mal wieder) so richtig kalt in Mainz, lockt FILMZ 2013 mit südfranzösischer humorvoller Leichtigkeit: STILLER SOMMER von Nana Neul (MEIN FREUND AUS FARO) hat eigentlich auch alles, was die Seele wärmen könnte – rustikale Idylle mit groben natursteinernen Bauernhäusern, Künstlertum und Rotwein, Katze, Trüffelschwein und Lamas, vitalen Franzosen, vor allem ein grandiose Dagmar Mantzel (NACH FÜNF IM URWALD; DIE VERLORENE ZEIT), der auch eine gelungene Storyidee, naja, quasi „in den Mund gelegt wird“: Ihrer Kristine ist die Stimme abhanden gekommen, und wie sie sich den größten Teil des Films nur mit Mimik und Gestik verständigen kann, so dass sich die Figuren ringsum an ihr abarbeiten können, hat große Klasse und besonderen Charme. Die kecke Tochter (frisch: Marie Rosa Tietjen) hat was mit einem feschen Einheimischen, auf den auch Mama ein Auge wirft (und umgekehrt, dieser auf sie), dann kommt Papa noch dazu (gespielt vom ebenfalls großen Ernst Stötzner; s. H.-C. Schmids WAS BLEIBT) ...

Doch statt es beim luftigen Liebes- und Beziehungsreigen zu belassen und ihn auszukosten, wartet STILLER SOMMER mit einer Volte auf, die ein ganz neues Fass aufmacht, Schuld und sexuellem Doppelleben, ein bisschen zu ausgedacht und teutonisch-tragisch in der Idee, als wäre Neuls Drehbuch ein bisschen zu sehr am Redaktionsbesprechungsthemen-Tisch konzipiert worden (und selbst wenn dieser Tisch nur im Kopf gestanden hat). In Rückblenden wird dann alles noch mal Vieles aus der anderen Perspektive gezeigt, und passé ist die Sommerfrische, die auch leider in den Bildern nicht so wirklich eingefangen ist, so blass und eng gehalten, aller Spontanität, allem Witz (inklusive Psychopilz-Naschen) zum Trotz.

STILLER SOMMER ist kein schlechter Film, kein verbiesterter Film, aber er steht sich selbst letztlich im Weg herum, weiß nicht wohin mit sich, macht sich seine Probleme selbst. Bei allem Flair und Schwung, Deutsche in Südfrankreich eben.

zyw

FILMZ 2013 in Mainz









Nach einem Jahr Pause mit der Gelegenheit zur Besinnung und Neuorientierung startet am 26.11. in Mainz das FILMZ - Festival des deutschen Kinos.

Bis zum 1.12. sind im Langfilmprogramm die in ANSICHTSSACHE behandelten Jungfilmer Axel Ranisch und Tom Lass zu sehen. Lass präsentiert seinen KAPTN OSKAR, Ranisch ICH FÜHL MICH DISCO - sowie in der Sparte "Märchenfilm" REUBER. Dem einzigen Film in dieser Rubrik, übrigens ...

Außerdem in Langfilmwettbewerb zu sehen: Katrin Gebbes TORE TANZT, NORDSTRAND von Florian Eichinger, Aaron Lehmanns KOHLHAAS ODER DIE VERHÄLTNISMÄSSIGKEIT DER MITTEL oder die Berlinale-2013-Überraschung DAS MERKWÜRDIGE KÄTZCHEN von Ramon Zürcher.

Mehr zum FILMZ - Festival des deutschen Kinos gibt es HIER.

zyw

Grindhouse-Nachlese September 2013 – Sieben auf einen Streich

28. September 2013, Cinema Quadrat Mannheim: Grindhouse Day & Night


„Daikaijû kettô: Gamera tai Barugon" / „Gamera vs. Barugon“, Japan 1966, Regie: Shigeo Tanaka

„L’uomo che viene da Canyon City“ / „Die Todesminen von Canyon City“ / „Keine Gnade für Verräter“, Spanien, Italien 1965, Regie: Alfonso Balcázar

„Double Nickels“ / „Mit Vollgas durch die Hölle“, USA 1977, Regie: Jack Vacek

„Enter the Ninja“ / „Ninja – Die Killer-Maschine“, USA 1981, Regie: Menahem Golan

„Linda“ / „Die nackten Superhexen vom Rio Amore“, Spanien, Deutschland 1981, Regie: Jess Franco

„Nightmare in a Damaged Brain“ / „Nightmare“, USA 1981, Regie: Romano Scavolini

„Trouble Man”, USA 1972, Regie: Ivan Dixon


Sieben Filme in vierzehn Stunden sind per se schon mal keine schlechte Bilanz. Wenn von diesen sieben Filmen ganze vier gut sind, dann ist das unterm Strich mehr, als man erwarten könnte – zieht man in Betracht, dass es sich bei all diesen Filmen um Trash handelt, um genau die Schundware, die unsere Jugend verdirbt. Und zwar unsere Jugend seit den 1960ern! Kein Wunder, dass die Welt ist, wie sie ist!

Wobei auf verquere Weise natürlich auch und gerade Grindhouse-Filme den Finger auf die Wunden der Zeit legen; deutlich im ersten guten Film, „Gamera vs. Barugon“. Der zweite Teil der Gamera-Filmreihe, ein Konkurrenzprodukt zum erfolgreichen Godzilla, in dem dankenswerterweise die ersten Minuten ein „Was bisher geschah“ destillieren: Kampfflugzeugabsturz in der Arktis, versehentlich geht eine Atombombe los, zack: Gamera wird freigeschmolzen und zerstört Japan. Gamera: Das ist eine feuerspuckende Riesenschildkröte; wenn sie die Füße einzieht, kann sie durch die Löcher in ihrem Panzer per Düsenantrieb fliegen, das ist sowas wie eine fliegende Untertasse. Nur in lebendig und echt. Im ersten Film war sie am Ende auf den Mars geschossen worden; durch eine wirklich unglückliche Asteroidenlaufbahn wird sie zurückgeschleudert und macht erstmal einen Staudamm kaputt. Die Arbeiter und Ingeniere rennen panisch umher, der Vorgesetzte gibt Anweisungen: Am Tor fünf den Strom abschalten! (das wird innerhalb weniger Minuten gleich zweimal angewiesen), nützt aber nichts, Katastrophe ist nicht aufzuhalten. „Wir haben getan, was wir können“, seufzen die Opfer, und man weiß nach dieser Szene, wie es seit März 2011 in der Tepco-Zentrale zugeht: die Unteren tun nichts, die Oberen befehlen nur Unsinn, und alles ist Schicksal. Jaja, die japanische Mentalität.

Gierig sind die Schlitzaugen übrigens auch. Zwielichtige Typen unternehmen eine Expedition nach Polynesien – und das hat jetzt erstmal gar nichts mehr mit Gamera zu, der wahre Fan wird sich jetzt zu langweilen anfangen; denn die Superschildkröte hat sich in einen Vulkan zurückgezogen und wird nur noch zu zwei Szenen später im Film auftauchen (dann aber mit Macht…). Jedenfalls ist jetzt Abenteuerfilm angesagt, ein Opal in einer geheimnisvollen Höhle voller giftiger Skorpione im Tal der Regenbogen; ein Tabu-Ort für die Eingeborenen, zu denen glücklicherweise auch ein japanischer Arzt und seine hübsche Krankenschwester gehören. Jedenfalls: Merken muss man sich Onodera, das ist der böse Gierhals, der über Leichen geht; und Keisuke, der Gute unter den Zwielichtigen, der aber erstmal verletzt zurückbleibt. Während Onodera den Opal mit nach Japan nimmt, dummerweise das Infrarotlicht in seiner Kabine anlässt – und sich der Opal als Ei entpuppt. Ein Ei, aus dem Barugon schlüpft, seines Zeichens Monsterechse mit Riesenzunge, aus deren Spitze er einen Kältestrahl schießen kann. Rasch wird Kobe zerstört.
Dann geht es ins Landesinnere, währenddessen killt Onodera noch ein paar Leute auf der Suche nach dem vermeintlichen Opal, Keisuke tritt auf, im Gefolge hat er die Krankenschwester, er und Militär und Wissenschaft suchen nach Wegen, dem Monster beizukommen, die Gier Onoderas ist ein bisschen im Weg dabei und so weiter – das ist ja auch alles egal, wichtig ist: Bei Bedrohung aus der Ferne entsendet Barugons Rücken einen Regenbogen als Fernwaffe, der zum Beispiel japanische Kanonen zum Schmelzen bringt. Also: Für die Nähe Kältestrahl, für die Ferne Regenbogen. Im Übrigen ist er wasserscheu, wenn man Barugon mit Wasser bespritzt, bewegt er sich nicht mehr, das ist ganz OK, weil zu diesem Zeitpunkt der Film eh auf der Stelle tritt.
Die Echse liebt auch das Leuchten von Diamanten. Die Diamantentrategie funktioniert trotzdem nicht, 5000 Karat sind zuwenig, man muss die Brillanz verstärken mit einer Maschine, die eigentlich zur Generierung eines Todesstrahls mittels eines Rubins dient. Zwischendrin übrigens tritt Gamera auf, um das Durcheinander perfekt zu machen: Er wurde von der Energie des Regenbogens angelockt, wird nach einem heftigen Kampf der Supermonster aber schockgefroren.
Später versuchten die Militärs es mit der Operation Rückspiegel: Eine Parabolantenne mit Quecksilber-Bespiegelung soll den Regenbogen aufs Monster zurückwerfen, was nur halb gelingt. Als deus ex machina muss Gamera wieder auftau(ch)en, um im Endkampf die Katastrophenechse zu ersäufen. Und dann zu verschwinden, bis zum nächsten Film der Gamera-Reihe.

In der aufsteigenden Reihenfolge des Spaßfaktors folgt nach diesem Matinee-Film die Spätnachtvorstellung: Blaxploitantion mit dem „Trouble Man“, sprich: Mr. T, der im Kiez der gute König ist. Im Billardsalon hält er Hof und regelt die Dinge – gegen einen geringen Obulus seiner Untertanen. Der Bruder von einem wieder mal im Knast? T. kann die Kaution stellen; aber wenn die flöten geht, dann geht’s dem Halunken ans Leder! Ein Mietshaus in so schlechtem Zustand, dass ein Kleinkind durchs marode Treppengeländer fällt? Kurzer Besuch beim (weißen) Immobilienverwalter, und seine starke Präsenz und sein einnehmendes Charisma überzeugen, der Bonze spurt: Besuch im Krankenhaus, Übernahme der Kosten und Versprechen, das Haus zu sanieren… Klar, dass T. auch ein super Billardspieler ist, der damit locker aus dem Handgelenk ein paar hundert Dollar nebenbei einnimmt.
Auftritt Chalky. Der hat illegale Glückspiele laufen, auf der „schwarzen“ Seite der Straße kontrolliert er, auf der „weißen“ der Kompagon Pete: Diese abendlichen Pokerrunden werden regelmäßig überfallen, T. soll herausfinden, warum, für 10.000 Dollar. T., selbstredend mit Privatdetektivlizenz ausgestattet, macht sich an die Arbeit – und wird verwickelt in einen Mordfall, in Täuschung, in einen Bandenkrieg, inmitten der Fronten zwischen Kiez und Cops, zwischen schwarz und weiß.
Einen tollen Plan haben sich Chalky und Pete ausgedacht: Sie fingieren einen Überfall auf die eigene Pokerrunde, einen fetten Typen in blauem Anzug nehmen sie als Sündenbock, der von hinten erschossen wird. Wie sich herausstellt: Einer der Handlanger von Big, einem weiteren Kiezgranden, dem sie damit nicht nur die angeblichen Überfälle in die Schuhe schieben, nein: auch T. gilt plötzlich als Mörder. Zumal die Polizei ihn eh auf dem Kieker hat: Dreihundertdollar-Anzüge, aber keine richtige Beschäftigung, und zudem Lizenzen für alles, vom Waffenbesitz bis zum Diamantenhandel…
Ist das nicht eine dolle Noir-Konstellation? T., der gute, einsame König, an dessen Stellung gerüttelt wird – von denen, die er für Freunde hielt, und von der Polizei, der er fast schon zu viele Schnippchen geschlagen hat. Er bekommt die ganze Schuld des Schwarzen- und des Weißen-Ghettos auf seinen Schuldern geladen und muss mit dieser Bürde zwischen den Fronten zu tanzen beginnen.
Gefilmt ist das im bunten Blaxploitation-Stil, aber ganz ohne Albernheiten, sondern straight auf die Spannung zielend, und auf die Rachevorbereitungen von T., der alles recht schnell durchschaut. Der aber zuvor noch einen weiteren Mord, nämlich den an Big persönlich, ummodeln und seinen Kumpel und seine Freundin in Sicherheit bringen muss. (Apropos Freundin: Die ist ihm hörig, er gibt ihr Befehle, sie fragt nicht, sondern führt aus. Ihre Tätigkeiten: Sie singt, spielt Klavier, liest Zeitschriften. So war das damals in den 70ern!)
Wie T. sich nun einschleicht bei Chalky, einen Handlanger nach dem anderen tötet, sich dann aufmacht zu Pete ins weiße Viertel, sich das Hochhaus ins Penthouse hocharbeitet, wo Schurken mit großen Wummen auf ihn warten: Das hat was, gerade weil es weniger als Superhelden-Rache inszeniert ist, sondern als die Notwendigkeit des Königs, sich auf dem Thron zu halten; eines Königs, der unwillentlich in eine Fehde geraten ist, der benutzt wurde und nun mal nicht anderen, sondern sich selbst helfen muss. Und helfen kann. Auch wenn es diesmal keinen direkten Profit bringt.

„Nightmare in a Damaged Brain“: Ein fieser Film, der sich ins Gehirn des Zuschauers hineinwindet und dort sitzen bleibt wie eine Trichine im Speck. Kein Wunder, dass er als Video nicht vertrieben werden darf, Paragraf 131 etc. Ein Glück, dass wir hier im Kino sitzen. Und dass wir in den Genuss einer 35mm-Kopie kommen, zur Verfügung gestellt von einem fanatischen Sammler, der den Film in allen, wirklich allen Erscheinungsformen besitzt (außer vielleicht das britische Master für die VHS-Produktion).
Ein völlig geschädigtes Gehirn, ein Film über die Psyche eines Psychopathen, in die der Zuschauer nolens volens hineingeschleudert wird. Ein Alptraum – direkt zu Filmbeginn: Der abgehauene Kopf einer Frau, blutig auf der Bettdecke, und sie schlägt die Augen auf. Purer Horror für George Tatum, der schreiend erwacht. Und vom Psychiater befragt wird. Und medikamentös ruhiggestellt wird. Und wieder einschläft. Und wieder alpträumt. Während in Florida, in einem kleinen Häuschen, ebenfalls der Horror zuschlägt, für die Babysitterin, die vom zehnjährigen Lausebengel in den Wahnsinn getrieben wird…
Man kennt sich nicht aus, trotz der klaren Kapitelüberschriften: Erste Nacht in New York, erste Nacht in Florida. Und erst allmählich versteht man die Zusammenhänge, als nämlich George abhaut aus der Psychiatrie, was den shrink – typisch mit Vollbart und weichgespülter Birne – kaum juckt. Er hat ja dieses neue Psychomedikament bekommen, kann ja gar nichts passieren. Dass er in eine Peepshow geht – OK. Dass er eine Frau, die abends alleine zuhause ist, killt: nuuuun… Er braucht schließlich ein Auto. Um nach Florida zu gelangen. Richtig: in dieses Haus mit den drei Kindern und der überforderten alleinerziehenden Mama, die keinen richtigen Bock aufs Muttersein hat und lieber mit dem Boyfriend aufm Boot rummacht… Und der von diesem ungezogenen Satansbraten von Sohn andauernd böse Streiche gespielt werden, so dass man ihr ihr Verhalten nicht verdenken kann…
Gegen George Tatum stellt sich ein Mann; einer, der mit seinen weich-gedunsenen Körperrudnungen und der Fistelstimme auch eine dicke Frau mit aufgeklebtem Schnurrbart sein könnte, so eindeutig ist die Geschlechtlichkeit nicht. Ebensowenig wie sein Status, wahrscheinlich ist er Polizist, vielleicht auch eine Verkörperung himmlischer Gerechtigkeit, die leider immer wieder zu spät kommt. Dieser Ermittler hat einen Computer, den man alles fragen kann, der im zeitgenössischen grünfarbenen textbasierten Programm weiß, wohin der Mörder als nächstes fahren wird, eine Art Google lange avant la lettre. Und er (sie?) ist der einzige, der um die Gefährlichkeit von George weiß, das macht den Zuschauer noch rasender – denn schließlich kommt George in Florida an. In der schönen Kleinstadt mit dem schönen Häuschen, wo CJ, der junge Bengel, wohnt, wo die Mutter ganz ahnungslos ihr Leben lebt. Wo der Mörder nun sein Unwesen treibt.
Unglaubliche Szenen am Bootshaus, wo CJ spielt. Wo eine Teenagerin nach ihm sieht, das Haus betritt, einen Streich vermutet, in die höheren Stockwerke gelangt… wo einer lauert, im Dunkeln… Wo dann, um die Schraube noch weiter zu drehen, ein Freund von CJ diesen ebenfalls sucht, ebenfalls ins Haus reingeht… ebenfalls nach oben steigt… dort die entstellte Leiche der Teenagerin sieht… der letzte Schock in seinem Leben…
CJ hat ohnehin der Ruf eines Soziopathen. Vielleicht hat er, der Zehnjährige, die beiden gekillt? Die Polizei vermutet dies. Er ist auch reichlich ungerührt beim Anblick der Leiche des Freundes. Doch das Böse, das geht weiter umher… Und es sind eben keine Lausbubenstreiche mit Maskeraden als Monstermörder, oder mit fingierter Messerwunde im Bauch, vollverschmiert mit Ketchupblut, wie sie CJ immer wieder inszeniert.
Irgendwann ist George im Haus seiner designierten Opfer. Oben CJ in seinem Zimmer. Unten der Killer, der umherschleicht. Und der, weil eine Ecke in seinem Gehirn noch nicht völlig kaputt ist, per Haustelefon anruft, oben, im Kinderzimmer: Verschwinde, hau ab aus dem Haus… In den kleinen Kammern, in den Schränken, im Schatten nistet er sich ein, und was sich falsch bewegt, wird zum Opfer. Wir sind live dabei. Mitten in dem traumatisierten Psychopathenhirn des Killers, der schon als Kind kräftig dabei war… Was Tom Savini, dem legendären Spezialhorroreffektmacher, eine dolle Gelegenheit gibt, seine Kunst im Kopfabhauen zu beweisen.

Vierter bester Film und Überraschungssieger des Tages: „Ninja, die Killermaschine“. Der in einer völligen Fantasiewelt beginnt, in der ganz pur und ohne Zusatzingredienzien das gezeigt wird, was wir sehen wollen: Wie einer gegen viele kämpft, alles Könner auf diesem Gebiet, mit verschiedenen Waffen irgendwo in Wald, Gebüsch, hohem Gras, wo von überall her der Feind herausbrechen kann, um getötet zu werden. Feinde, die vermummt sind, gekleidet in reinem Schwarz, in Weiß, in Rot. Kämpfe mit tollen Posen, die tödlich enden. Ein Durchkämpfen durchs Gelände, hin zu einem Gebäude, wo noch einem Mönch der Kopf abgeschlagen werden muss, um endgültig einzudringen, um anzukommen – um die Prüfung zu bestehen.
Denn alles war nur die Abiturprüfung für den frischgebackenen Ninjakämpfer Cole, gespielt von niemand geringerem als Franco Nero. Der nun in sein normales Leben zurückkehrt, sagen wir: er besucht einen alten Kriegskameraden auf den Philippinen, der eine geile Frau hat und dem Alkohol verfallen ist. Sie haben’s schwer: Denn böse Bonzen wollen ihnen Grund und Boden abknöpfen, vergraulen die Arbeiter mit Gewalt und setzen ihnen zu, wo es geht. Klar, dass Cole hier helfen kann. Und wenn er es nebenbei mit einem fetten Schwein mit Hakenhand namens Siegfried Schulz zu tun kriegt: umso besser, da haben wir einen, an den wir uns halten können, zunächst mal. Solange nämlich, bis wir, also der begierige Zuschauer im Verbund mit Franco Nero, an den oberbösen Hintermann rankommen, Venarius heißt der, hat sein Büro in einem riesigen Penthouse – sprich: Ein Schreibtisch und ein großer Pool, in dem sich schöne Bikinimädchen räkeln und auf Zuruf Synchronschwimmen performen.
Venarius: Eine faszinierende Persönlichkeit, gespielt von Christopher George auf ganz unnachahmliche Weise, böse und charmant, mit feinsten Manieren und immer ein bisschen over the top, in den kleinen Gesten, im Spiel seiner Finger, im ironisch zuckenden Lächeln der Mundwinkel – keine Frage, stockschwul und stolz drauf – eine dieser Performances HIER... Ein abgrundtiefer Schurke natürlich auch. Zudem hat er eine Sammlung exquisiter Pornos – halt nee: Da sind keine Nackedeis, das ist ja der Bewerbungsfilm eines Ninjas, dem großen Rivalen von Cole, seit dessen Ausbildungstagen in Japan. Ein Ninja, den Vesarius angeworben hat, um es aufzunehmen mit Franco Nero, der seine Mannen unaufhaltsam niedermacht…
Ein doller Film, ein Kampfsportspektakel, das schön mäandert: Nicht einfach Gut gegen Böse, sondern Gut gegen allerlei diverse Bösewichter, die sich abwechseln in ihrem Status als Antagonisten. Kein Wunder, dass dies der erfolgreiche Beginn der Ninjafilmwelle war, die auf den Easternhongkongkungfukaratefimen draufsaß wie ein Affe auf rasendem Motorrad. Produziert und inszeniert von den Machern der erfolgreichen „Eis am Stiel“-Filmreihe, die Geld genug hatten, um Franco Nero auf die Philippinen zu locken, und um mit genügend Zeit ganz vorzüglich den Film in den Kasten zu kriegen, perfekt gerade in den kleinen Details, in den Seitenblicken, im richtig getimeten Filmrhythmus, die man mit weniger Budget – und weniger Talent – nicht hinkriegen kann. Die aber den entscheidenden Unterschied ausmachen in der Qualität, den es eben auch im Trash geben kann.
Es geht im Übrigen das Gerücht, dass Regisseur Menahem Golan so viel Zeit in philippinischen Puffs verbrachte, dass einen Großteil des Films Franco Nero in den Kasten kriegen musste. Wie auch immer: Gut gemacht!

Im Gegensatz zu den Filmen, die an diesem Tag ablosten, die wir auch getrost unter den Teppich kehren können.
„Die Todesminen von Canyon City“, auch bekannt als „Keine Gnade für Verräter“, könnte eine schöne Screwballvariante des Buddy-Spaghettiwestern-Genres sein, mit dem US-Amerikaner und dem dicken Mexikaner, die gemeinsame Sache machen, um 70.000 Dollar zu gewinnen und nebenbei einen bösartigen Silberminenbesitzer, der seine mexikanischen Arbeiter sklavisch ausbeutet, zur Strecke zu bringen. In schönen Streitdialogen beweisen die beiden immer wieder ihre symbiotische Zusammengehörigkeit – der Film aber verliert sich in sinnlos-willkürlichen Begebenheiten, die nur die Dramaturgie verwirren und wenig zum Ziel führen. Das nicht nur der Zuschauer, auch die Protagonisten aus dem Auge zu verlieren drohen, weil sie irgendwann auch nicht mehr so richtig zu wissen scheinen, wer eigentlich für wen arbeitet und wem was vormacht. Der Dicke ist irgendwann Koch beim Bösewicht, der aufrechte Gringo wird einer seiner Handlanger, offenbar aber doch nur, um ihn reinzulegen, weshalb der Mexikaner plötzlich als General einer Revolutionsarmee auftaucht – schön dabei: Eine farcehafte Gerichtsszene, in der die Leichen getöteter Mexikaner als Geschworene und als Zeugen auftreten, echt lustig. Aber eben alles völlig zusammenhangslos, immer wieder explodieren Leute, das ist auch doll, freilich weiß man nicht recht, warum. Vielleicht ist das auch dem Regisseur klar, im Film heißt es mal: „Es ist besser, nichts zu verstehen und weiter zu atmen als zuviel zu wissen, wenn man dafür ins Graf beißt.“ Gut, dass wir noch leben.

Und schade, dass wir dann zu „Mit Vollgas durch die Hölle“ kommen, einem Car-Chasing-Film ohne echte Autoverfolgungsjagd, über zwei Cops, die Autos verschieben, die sie denen klauen, die ihre Raten nicht zahlen können. Ganz legal, gute Kohle, so sagt man ihnen – stimmt natürlich nicht, ist alles kriminiell, ist irgendwie aber auch alles egal. Ebenso, wie ihr Job als Highwaypatrolmen kaum was ausmacht, außer, dass der eine diesen nutzt, um Frauen anzubaggern und so an eine neue Geliebte gerät, mit der er dann durch die Gegend brettert. Seine vorherige Freundin hat er irgendwie scheiße gefunden, wie er sie loswurde, versickert im elliptischen Erzählstil. Ein Stil, der wahrscheinlich gewollt, vielleicht aber nur reiner Dilettantismus ist. Ohne jede Spannung, auch ohne wirkliche Charaktere bleibt nur eines: Wie ein Auto von Cop-Cars verfolgt wird und dabei eine lange, lange Treppe runterfährt, holterdipolter – so ähnlich, wie Dick und Doof einst ein Klavier hochtransportierten, nur andersrum.

Der Abschuss aber: „Die nackten Superhexen vom Rio Amore“; der das zeigt, was der Titel verspricht, nunja: Nacktheit sowieso, ist ja ein Jess-Franco-Filmchen. Superhexe: das ist die böse Hotelbesitzerin, die zugleich Puffmutter ist. Rio Amore: Das ist dieser Puff, in den die Schurkin eine Nebenbuhlerin um den schönen Portier verbringen lässt. Diese Betsy nämlich, die neu angefangen hat im Hotel, wird zugedröhnt mit Drogen öffentlich ausgestellt und von geilen Männern wie Frauen begattet, zur Belustigung der Chefin. Die dies auch ihrem Lover vorführt, der wiederum echt verliebt ist in Betsy und sie unter diesen entwürdigenden Umständen aber nun auch nicht mehr will. Zumal die Hotelchefin all ihre Reize einsetzt, um ihn so richtig durchzuficken.
Nebenhandlung: Linda fliegt von München ein, sie ist Klosterschülerin und wurde zum Abschied in ihrer Schlafkammer von der Kameradin noch abgeschleckt, oben und unten. Sie will ihre Schwester Betsy besuchen und trifft auf einen richtig netten jungen Eingeborenen – gedreht wurde, glaube ich, auf Madeira –, in den sie sich total verknallt, obwohl sie ja eigentlich noch total rein und unschuldig ist; naja, bis auf die Abschiedsszene in München. Egal. Die zwölfjährige Schwester des jungen Freundes jedenfalls hat ein vorlaut-präsexuelles Mundwerk und will die beiden unbedingt verkuppeln, nein: geschlechtsorganisch aneinanderkuppeln, aber es kommt dann doch zu einer total romantischen Liebesszene am Strand, ohne Zutun der Schwester. Betsy wiederum lebt das Schicksal so vieler Zwangsprostituierter, Linda erinnert sich ab und an an sie, um die beiden Filmhandlungen nicht völlig aneinander vorbei laufen zu lassen. Doch tatsächlich etwas zu tun haben die beiden nicht miteinander, die Teenie-Liebe und das aufgeilende Porträt eines Puffs im Jess-Franco-Style.
Vollkommener Quatsch das alles, mit deftiger Soße, und völlig zum Vergessen. Wäre da nicht Linda, nach der immerhin der Film im Original benannt ist: Gespielt wird sie in all ihrer Nacktheit, in all ihrer erotischen Ausgestelltheit von Katja Bienert, die zum Tatzeitpunkt des Filmdrehs gerade mal 14 Jahre alt war. Ihr Geburtsdatum und ihr pickliges, ungeclearasiltes Gesicht verraten es.

Harald Mühlbeyer

Hofer Filmtage 2013: "The Traveler" und "The Gansfeld Experiment" von Michael Oblowitz

Nicht nur Weihnachten, auch der Tod steht vor der Tür
Cops gehören offensichtlich zum Obsessionskreis von Michael Oblowitz. Nach dem Vampir-Buddymovie aber ist „The Traveler" aus dem Jahr 2010 wieder was ganz anderes. Weihnachtsabend, sechs Polizisten müssen Dienst schieben, als ein Fremder die Wache betritt: Val Kilmer, aufgedunsen, unbewegt, souverän, ein schwarzer Engel mit so sanfter Stimme. Unheimlich tönt sein Pfeifen durch die Gänge des Polizeireviers, Mozarts unheilschwangeres "Requiem"... Er will gestehen, sechs Morde. Er hat keine Fingerabdrücke. Er kann nicht fotografiert werden. Er taucht auf und verschwindet. Er ist deutlich ein Geist. Und wird erstmal der üblichen erkennungsdienstlichen und verhörtechnischen Routine unterzogen. Er gesteht, wie er im Dunkeln lauert, die Angst des Opfers auskostet, dann attackiert – und während er erzählt, wird im Keller einer der Bullen auf genau diese Art getötet, von einer unsichtbaren Macht…

Es geht um Rache. Rache für den Tod eines kleinen Mädchens, der Tochter von Detective Black. Der mit seinen Kollegen einen Drifter aufgegriffen hat und aus ihm die Wahrheit über den Kindermord herausprügeln wollte… Und es geht um Rache an dieser Folterung, an der alle schuldig sind, an dieser Brutalität, an dem Blutrausch, der die Polizisten in der Zelle ergriffen hat, als sie mit Scheren und Gürteln, mit Plastiktüte und Schaufel den Verhafteten ins Koma prügelten.

Val Kilmer ist eine Art Nosferatu, der Pein und Tod über seine Opfer bringt, unerbittlich, unausweichlich – und es ist überraschend spannend, da wir doch alle den Fortgang des Films kennen. Zu überlegen ist der Racheengel, zu unüberlegt handeln die Polizisten, die einer nach dem anderen abgemurkst werden. Die Regeln sind klar: Auf dem Spielbrett geht es nicht mehr ums Gewinnen, sondern nur darum, den Gegner rauszuschmeißen. Ein Gegner, der nie zum Zuge kommt.

Jeder bekommt seine Untat heimgezahlt, mit den Mitteln, die er damals, ein Jahr zuvor, gegen den Drifter angewendet hat. Gürtel um Gürtel, Schaufel um Schaufel – er sei Fan des Alten Testaments, sagt der tödliche Fremde, der sich Nobody nennt, der Bibelteil mit dem strafenden Gott; erst, als die Menschen dieses Konzept nicht mehr ausgehalten hätten, hätten sie den netten, freundlichen Jesus mit seinem Neuen Testament dazugesetzt…

Oblowitz inszeniert ganz zwingend, zumindest über weite Teile. Zu redundant wird die Folterszene gezeigt – alsbald hat der Zuschauer natürlich die Korrespondenz zwischen Tat und Strafe kapiert, das muss nicht immer extra betont werden. Die Polizisten dagegen verstehen den Zusammenhang allzu spät, der Zuschauer ist viel weiter und wundert sich über deren Blindheit. Während Oblowitz, wahrscheinlich, um die Story zu steigern, jeden Racheakt blutiger und blutiger inszeniert, da werden Gedärme aus dem noch lebenden Körper geschaufelt, einer Polizistin schießen die Eingeweide aus dem Unterleib… An solchen Stellen stimmt die Balance nicht, weil offenbar wird, dass Oblowitz – oder seine Produzenten, oder wer immer – ihrer Prämisse der reinen Rache nicht vertrauen. Und erst am Ende holt der Film sich selbst wieder ein, mit einem Twist, der dann doch alles nochmal düsterer, nochmal erbarmungsloser macht. Denn in der Tat ist das Böse immer und überall.

Ganzfeld-Apparatur
Immer und überall, vor allem im Verborgenen. Wenn etwa vier junge Studenten sich zurückziehen für ein Psychologieexperiment, Teil der Semesterabschlussprüfung, es geht um Telepathie, um ein Experiment aus den 50er Jahren, um Ganzfeld-Versuche zur Übertragung von Wahrnehmungen von einem isolierten Raum zum anderen, aufgezeichnet mit einer Apparatur zur Dokumentation parapsychologischer Vorgänge. Hitler und die Filterzigarette hätten den Grundstein gelegt, heißt es im Film, denn um des Führers überlange Reden aufzuzeichnen, habe man das Eisenoxid aus den Filtern extrahiert und das Magnetband erfunden, das hier extensiv zum Einsatz kommt – eine extravagante Retro-Filmausstattung, wie sie Oblowitz, der bekennende „Brazil“-Adept, immer gerne benutzt. Die Vampire in „The Breed“, die außerhalb der Zeit leben, die die Jahrhunderte überdauern; die uralten Vehikel, mit denen die Cops im „Traveler“ umherkutschieren, ein Film, der heute wie vor Jahrzehnten spielen könnte, würde nicht einmal kurz erwähnt, dass die Handys alle ausgefallen sind…

Das „Ganzfeld-Experiment“, Oblowitz’ neuester Film, der hier in Hof seine Weltpremiere hatte, vermischt die Zeiten, nicht nur in Design und Ausstattung. Auch, wieder ein Oblowitz-Thema, durch die alte Schuld, die die Protagonisten einholt, eine metaphysische Wiedervereinigung von Geschwistern, die sich längst vergessen haben, ein alter Mord, der in Erinnerung, Halluzination, in der Manifestation durch ein Geisterwesen gegenwärtig ist…

Nunja. Vor allem sind da die jungen Leute, die klischeehaft mehr an Drogen und Sex interessiert sind als an Studien. Die ihre Ganzfeld-Experimente an einem „neutralen“ Ort ausführen wollen und dafür ein halbverfallenes, düsteres Haus wählen, wie es in jedem Horrorfilm vorkommt. Die es mit überlauten Geräuschen, flackernden Lampen, auf- und zuschlagenden Türen zu tun bekommen. Was halt dummerweise alles schon so ausgelutscht ist, dass es den Zuschauer kaum mehr berührt.

Die Vermischungen von Halluzination, Traum und übersinnlicher Wirklichkeit hatten wir so und ähnlich auch schon mal, dass diese Typen ständig koksen, machts nicht besser. Und eine lange Sexorgie – die aber abbricht, bevor irgendeine unanständige Nacktheit zu sehen ist – dient auch eher zur Aufrechterhaltung des Interesses: Mädels in Unterwäsche, die durchs Haus rennen, sind sicher ein Hingucker.

Über weite Strecken ist dies ein ziemlich schlechter Film. Was einem leidtut, wenn man sich mehrere Oblowitze am Stück reingezogen hat. Doch dann, ganz unvermutet, kommt am Ende wieder ein ganz großartiger Moment, Oblowitz pur, wenn Polizisten auftauchen am Ort des Schreckens. Wobei der eine dem anderen seine Pommes wegfrisst, bevor sie aufgeladen mit dem Zynismus aus Jahrzehnten von Berufserfahrung und deshalb auch korrumpiert bis aufs Blut ungerührt dieses maniac mansion besichtigen und auch mal eine Nase Koks wagen: Da hat wohl einer sein Rezept abgeholt – SNIFF!
Da sind sie wieder, die überlebensgroßen Figuren, die Oblowitz’ Filme immer wieder bevölkern, und die in ihren Szenen den ganzen Film nochmal ein paar Level höher pushen. Oh, ich erinnere mich an einen der „Breed“-Vampire, ein fetter Italiener, der täglich das Grab seiner Mama besucht und ansonsten seiner Schauspielerleidenschaft frönt, der in einem vollgestopft-halbverfallenen Theater in dröhnendem Pathos den Monolog von Peter Lorre aus „M“ rezitiert… Diesen Touch bringt auch die letzte Szene wieder hinein in das „Ganzfeld-Experiment“ – zusätzlich natürlich zum ständigen unterschwelligen Bezug zu „This World, then the Fireworks“. Auch bei „Ganzfeld“ spielt Billy Zane mit, in parapsychologisch heraufbeschworenen Erinnerungsrückblenden, als tödlicher Vater, der es auf zwei Geschwister (!) abgesehen hat… Das stecke alles freudianisch in ihm drin, das komme raus, wenn er Filme dreht, so Oblowitz. Überhaupt: Billy Zane, das sei immer sein Alter Ego, man sehe es an der dicken Hornbrille. Die Hornbrille in seinen Filmen: Sowieso immer ein Zeichen für die filmische Verkörperung des Regisseurs…
Ebenfalls mit Brille: Der fette feige Polizist mit dem Traveler

Muss man noch erwähnen, dass das Ganzfeld-Schreckenshaus schön vor dem ikonischen Hollywood-Zeichen in den Hügeln von Los Angeles drapiert ist? Nein; ich denke, dass das eine Selbstverständlichkeit ist bei Oblowitz.

Harald Mühlbeyer

Hofer Filmtage 2013: "Breed" von Michael Oblowitz

Manchmal hat man es nicht leicht auf einem Filmfestival. Da sieht man den Dokumentarfilm über einen Wiener Underground-Trash-Filmemacher namens "Robert Tarantino", der für seine Filme konsequent kein Geld ausgibt, sondern schlicht und einfach dreht. In dessen Filme alles, was schlecht ist, sich versammelt, die genau deshalb so viel Charme haben, weil "Tarantino" um diese mangelnde Qualität weiß und sie willkommen heißt.
Und dann muss man innerhalb von einer Minute ins nächste Kino, zum Michael Oblowitz-Film "Breed", der in einer so schlechten Projektionsqualität vorliegt, dass man erstmal gar nicht weiß, ob man noch im Wien von "Vampire City" oder "Blood City Massacre" ist. Man hat keinen Wechsel des Blicks bei einem ganz anderen Film - und muss sich erst langsam adaptieren, was, ich will nicht prahlen, aber doch eine enorme geistige Anstrengung verlangt.

"This is a vampire movie", erklärte Oblowitz vor dem Film, "but an intelligent one", warf die Moderatorin ein. "Well, I wouldn't go that far", versetzte Oblowitz - aber das ist natürlich Koketterie.
"The Breed" ist ein Cop-Fantasy-Buddy-Movie, zunächst. Nach dem grausigen Tod seines Partners muss Steve, die Hauptfigur, erkennen, dass es eine Menge Vampire gibt, die mit den Menschen koexistieren, eine Minderheit, die man so mitlaufen lässt. Und selbst sein neuer Partner Adrian ist einer der Blutsauger - nein: sowas tun sie nicht mehr, es gibt jetzt künstlichen Ersatz, der den Blutdurst voll befriedigt.
Doch etwas ist falsch, die Fronten sind verhärtet. Dräut ein Krieg zwischen Mensch und Vampir am Horizont? Warum läuft einer der Vampire Amok, nur um des Todes, nicht um des Blutes willen?

Das ist schonmal genug, um drei, vier Normal-Blockbuster mit viel CGI zu drehen (drei Jahre später wurde, ebenfalls für Sony, an denselben Locations "Underworld" gedreht...) Oblowitz aber geht andere Wege. Nicht Horror, kaum Action, sondern ein Thriller ist dies, ein Politthriller noch dazu. Denn Oblowitz weiß perfekt, seine Ästhetik einzusetzen. Das Design des Films ist absolut unglaublich: Überwacht werden die Vampire von der NSA - ja: die NSA, die auch Kanzlerinnen und andere Menschen überwacht, wie wir jetzt, dreizehn Jahre später, wissen! Und diese NSA residiert bei Oblowitz in einem Gebäude, ein Stein gewordener, feuchter Totalitarismustraum, gedreht in den kommunistischen Großbauten von Budapest und ausgestattet mit Albert-Speer-Ideen. Genau das im Grunde, was Terry Gilliam - für etwas mehr Geld - in "Brazil" gemacht hat, ihm huldigt Oblowitz in "Breed" erklärtermaßen.

Paranoia und Totalitarismus - bei Nazis, Kommunisten oder sonstwo - schließlich ist Oblowitz im
Jüdische Vampire
Apartheit-Südafrika aufgewachsen! Und plötzlich bekommt dieser Filme eine ganz persönliche Note, mit seinem Vampir-Ghetto, in dem die dort lebenden Wesen gekleidet sind wie die ikonischen zusammengepferchten Juden in zahllosen Spielfilmen (und realen Dokumenten von damals!) Wir tauchen ganz tief ein in eine Erzählmaschine, in der sich die Geschichte ständig wiederholt, umgewälzt und mit neuen Akzenten: Weil Oblowitz natürlich und glücklicherweise klug genug ist, KEINE bloße Allegorie zu schaffen, keine einfach decodierbare Fabel nach der Gleichung J=V. Oblowitz ist raffinierter, auch, weil er seine Story nicht verraten will, sondern ihr schlicht wichtige und bedeutsame Ebenen hinzufügt.

Der schwarze Cop, die chinesische Jüdin
Bai Ling spielt eine der Vampirinnen, sie residiert mit schwarzen Panthern und ausgefallenen Kleidern in einem riesigen Schloss. Und das ist für Oblowitz ein besonderer Witz, wie er erklärte: "Jüdische Vampire, das könnte viele in Hollywood verärgern. Deshalb ist mit Bai Ling eine chinesische jüdische Vampirin eingebaut, das wird sie völlig verwirren!" Es geht um das Feeling, um die Atmosphäre, auch um das Unbehagen, um den Schoß, aus dem das Böse kriechen kann. Mittendrin Steve, der schwarze Cop, dem ob seiner anfänglichen Ablehnung der Vampire Rassismus vorgeworfen wird - ein weiterer Oblo-Witz... Steve, der alles auseinandersortieren will und einiges dabei falsch macht. Und im Hintergrund eine böse Verschwörung einer Massenvernichtung, die auch nicht politisch korrekt aufgelöst wird.

Manchmal hat man es leicht auf einem Filmfestival. Weil einem Filme und Filmemacher vorgestellt werden, die man sonst völlig übersehen hätte. Leute wie Robert Tarantino und Michael Oblowitz, die mit Leidenschaft drehen, die sich einbringen in ihre Filme - und dabei an ganz unterschiedlichen Enden des Qualitätsspektrums operieren.

Harald Mühlbeyer

Hofer Filmtage 2013: "The World, then the Fireworks" von Michael Oblowitz

In diesem Jahr fuhr der geneigte Verfasser mit leichtem Unbehagen nach Hof. Der neue von Atom Egoyan; der neue von Francois Ozon; der neue von Roman Polanski; der neue von Jim Jarmusch - sie alle liefen auf dem Filmfest in Hamburg, vor ein paar Wochen. Und die stille Hoffnung, dass Heinz Badewitz den neuen Gilliam-Film "The Zero Theorem" hat holen können - immerhin liefen hier auch schon Wes Anderson und Darren Aronofsky - hat sich auch nicht erfüllt.

Wie Hohn fühlt es sich da an, wie Badewitz im Vorwort zum Programmheft den Gast der diesjährigen Retrospektive vorstellt: Er zählt unter anderem Kathryn Bigelow und Jim Jarmusch (siehe oben!) auf, um auf Michael Oblowitz zu kommen. Michael wer? Hatte ich noch nie gehört. Und es wird nicht besser, ihn so zu charakterisieren: "Er ist mit den oben genannten Filmemachern nicht nur befreundet, sondern sie haben zum Teil auch an seinen Filmen mitgearbeitet." Ja und? - fragt der Verfasser, der vor vielen Jahren mal Marie Bäumer gesehen hat, wie sie in der Deutschen Bank Geld geholt hat, lange übrigens, bevor andere diese Erfahrung machen konnten.

Michael Oblowitz in Hof
Oblowitz aber stellt sich als überaus interessant heraus: Nunja, immerhin spricht er sehr offen, bezeichnet etwa sich selbst als fünftklassigen B-Regisseur, dessen Filme nie das wurden, was sie sein sollten. Bei einem aber, bei "The World, then the Fireworks" von 1996, habe dann doch alles gut zusammengepasst. Außer, dass sich die Rechteinhaber offenbar des Films schämten, den sie weder auf DVD oder BluRay noch auf Onlinestreaming freigaben, bisher.

Zunächst befinden wir uns im Jahr 1926, Unabhängigkeitstag und Katastrophe für die Zwillinge Marty und Carol. Ein Eifersuchtsdrama, der fremdgehende Vater erschießt den rechtmäßigen Ehemann der Geliebten, vor den Augen der Kinder, kommt später dafür auf den Stuhl, die Geliebte begeht Selbstmord, die Mutter verfällt einigermaßen dem Wahnsinn. Superlustig für die Kids, so Marty in seinem von Weltekel geprägten Voice-Over-Kommentar.

Um ihn wird es gehen, 30 Jahre später, in den Großstadtdschungeln von Chicago und L.A. Er weiß, wie die Spiele laufen, die der Politiker, der Cops, der Medien und der Gauner. Und er weiß sich zu behaupten, als einsamer Wolf, der mit allen Mitteln zu verhindern sucht, dass ihn und seine Motive irgendwer durchschaut. Warum hat er eine fette Kuh geheiratet, einen fetten Sohn gezeugt? Irgendwer musste sie ja heiraten, und wer, wenn nicht er. Er, der All American Boy mit dem markanten Gesicht, irgendwo zwischen Marlon Brando und Warren Beatty.

Billy Zane als Marty, Gina Gershon als Carol
Er kehrt zurück zu Mama und Schwester; und das Verhältnis zu Carol, dem Zwilling, ist anrüchig. Sie präsentiert sich ihm gerne halbnackt, er liegt gerne bei ihr im Bett - eine zwielichtige Affäre in einer zwielichtigen Welt. Carol ist Nutte, aber erhaben über all die schmierigen Männer, denen sie begegnet. Marty ist angewidert vom System und stellt sich bewusst ins Außerhalb. Das ergibt unglaublich starke Szenen - wie er eine Polizistin anmacht, indem er unmissverständlich sagt, was er will, wie diese dann ihr ritualisiertes Cop-Gebaren auf- und sich ganz der Geilheit hingibt. Oder wie er einem fetten, weißgekleideten Detektiv nachstellt, der seine Schwester beschattet, wie er ihm die Würmer aus der Nase zieht, um ihm dann den Kopf auf einen Briefaufspießer drückt.

Die Handlung ist voller Volten, recht verwirrt, ich habe wohl auch kaum alles voll verstanden - das macht aber nichts, das Labyrinthische ist Teil des Vergnügens, und was ist das Vergnügen an einem Labyrinth, wenn man den Weg gleich rausfindet? Marty jedenfalls will seiner Cop-Geliebten ihr Haus abschwatzen und so zu Geld kommen, Carol steckt als Independent-Hure im Visier von Bullen und Mafia, zudem von ihrem Ex-Mann. Dazu kommt die nörgelnde, Inzest vermutende Frau Mama. Marty entpuppt sich mehr und mehr als Psychopath, der sich auf irritierende Weise der verrotteten Gesellschaft angepasst hat, die der Film zeigt. Und Carol ist nicht minder kaputt. Einmal fickt sie, angefeuert vom Trauma der 1926er-Kindheit, einen Freier zu Tote... oder war es ein wissentlicher Mord?

Unglaublich atmosphärisch, der Film, mit wirklich starken Bildern - einer der wenigen, vielleicht der einzige im ganzen Hof-Programm, der von 35mm abgespielt wurde. (Einen der Vorführer hab ich klagen hören, wie hinter den Kulissen unglaubliche Probleme mit den digitalen Materialien herrschen; tatsächlich mussten wir bei einem anderen Film das Q&A stark abkürzen, weil wegen Abspiel-Problemen im Nachbarkino dort der Saal gewechselt werden musste - es wird eben nichts besser mit dem Fortschritt...)

Jedenfalls: Oblowitz, den merk ich mir. Heute Nacht um 00.15 Uhr der nächste - und vielleicht morgen hierzu hier mehr...

Harald Mühlbeyer

Mannheimer Filmsymposium 2013 – Dramaturgie der Spannung


Ein Bericht. Und ein Nachdenken.


23 Filme listet die imdb für die Zeit von 2010 bis 2015 auf, in denen Norbert Maass als Script Consultant mitgewirkt hat – beileibe nicht alles Meisterwerke. Maass ist Dramaturg, sitzt im Vorstand des Verbandes für Film- und Fernsehdramaturgie und referierte im Mannheimer Cinema Quadrat über seine Profession – was bei dem Thema „Dramaturgie der Spannung“ eine überaus passende Wahl ist.

Dass die Arbeit als Script Consultant mitunter auch frustbeladen sein kann, konnte man zwischen den Zeilen heraushören: Denn sicherlich ist „Lost Place“, an dem sich Maass’ Rede unter anderem orientierte, nicht perfekt. Und offenbar hätte Maass, der auch an diesem Regiedebüt als Dramaturg beteiligt war, ein paar gute – zumindest bessere – Ideen beisteuern können. Anscheinend aber war Regisseur Thorsten Klein recht beratungsresistent – das ist eben das Dilemma: Man kann Ratschläge erteilen, ob auf sie gehört wird, ist eine andere Sache.

„Lost Place“ ist ein kleiner Horrorthriller in den Tiefen des Pfälzer Waldes, ein Viererpack von Teenagern befindet sich auf Geocaching-Tour und trifft auf eine diffuse Gefahr, die zu tun hat mit dem US-militärischen HAARP-Projekt und ELF-Wellen – Extreme Low Frequency, in tune mit dem menschlichen Gehirn, so dass die Experimente zu Wetterkontrolle auch als Waffe zur Bewusstseinsbeeinflussung eingesetzt werden können. Ein tiefes, wohliges Wühlen im Verschwörungstheoretischen also, das durchaus mit Spannung, mit schönen Volten und einer atmosphärischen Grundstimmung umgesetzt wurde. Nunja: freilich mit Pappkameraden-Protagonisten, mit etwas unverbundenen Filmteilen, die von Geocaching unversehens ins Epileptische hopsen, und auch, wie Maass ausführte, mit einem sehr anspruchsvollen Konzept der antagonistischen Kraft – die nämlich nicht von menschlichen Bösewichtern, sondern von einem quasi außer Kontrolle geratenen Funkturm ausgehen. Eine Vagheit, die als originelle Abweichung vom Standard durchaus reizvoll ist – die aber auch dazu führt, dass die Figuren über weite Strecken ohne rechtes dramaturgisches Ziel durch die Landschaft stolpern.

Dennoch: Für die Zielgruppe – die Protagonisten gehen in die zwölfte Klasse – ein durchaus effektvoll inszenierter kleiner Reißer, der definitiv ein viel größeres Potential hat als die 12.769 Zuschauer, die „Lost Place“ von seinem Kinostart am 19. September bis zum 8. Oktober erreichen konnte. (Nunja: Der Film ist in 3D gedreht, was eine sicherlich nicht zielgruppengerechte, unnötige Verteuerung des Kinotickets nach sich zieht…)
Dass aber diesem Debüt bei der Sichtung während des Symposiums eine solche negative Energie entgegenschlug, hat mich überrascht. Offenbar war es einem Teil des filmaffinen, intellektuellen Publikums nicht möglich, sich einzufühlen in das, was der Film sein will, und in die, für die der Film gemacht wurde. Filmbewertung ist ja keine absolute Größe. Film muss in Relation zu seinen Bedingungen und zu seinen Ansprüchen beurteilt werden – was hier freilich unterblieb. Kalte Ablehnung wurde ihm zuteil – und sooo schlecht ist „Lost Place“ auf keinen Fall.

Woran genau es bei diesem Film hapert, machte Maass in seinem Vortrag klar: Indem er die Defizite aufzeigte, indem er Vergleiche mit anderen – gelungenen und nicht gelungenen – Werken aufzog. Indem er aus dem Nähkästchen plauderte. Und indem er verdeutlichte, auf welchen Ebenen Film wirkt, auf welchen Ebenen ein Dramaturg eingreifen kann – und damit, bezogen auf das Symposiumsthema, auf welchen Ebenen sich Dramaturgie und Spannung entfalten.
Maass blickt in seinen Beratungen auf drei Ebenen, auf die rationale, die dem Film seine handlungslogische Stringenz erschafft, auf die sinnliche, die sich auf den Bereich des Visuellen, der Töne, des Rhythmus und des Flusses eines Films beziehen, und die emotionale, die den Zuschauer an die Filmfiguren bindet; oft, indem die Emotionalität der Figuren erzählt wird.

Im Emotionalen hapert es sicherlich bei „Lost Place“; und Maass führte auch das Beispiel „Die Tür“ (2009, Regie: Anno Saul) an, in dem die Möglichkeiten des Protagonisten, der sich in eine Parallelwelt geworfen sieht, zuwenig ausgespielt würden. Als Gegenbeispiel diente „Die Dämonischen“, der originale Körperfresser-Film aus den 50ern: Auch hier werden Freunde zu Feinden, wie in „Die Tür“, wo sich Mads Mikkelsen in der vertrauten Fremde, unter Familienmitgliedern, die er so nicht kennt, wiederfindet. „Die Dämonischen“ aber enthält eben auch das Paar, dessen Zuneigung sich im Lauf des Films steigert – während gleichzeitig die Gefahr absoluter Gefühllosigkeit immer größer wird… Schlichtweg besser erzählt. Was übrigens auch im deutschen Bereich funktioniert: Marvin Krens Zombiesause „Rammbock“, mit Flucht vor Zombies bei gleichzeitigem versuchtem Wiedergewinnen der Ex-Freundin, ist auch für Maass ein überaus positives Beispiel.

Das Modell der drei dramaturgischen Ebenen ist bei der Betrachtung von Filmen wie auch beim Nachdenken über Dramaturgie überaus hilfreich. Zumal sich diese Sichtweise schön verbinden lässt mit anderen Vorträgen des Symposiums: Etwa mit Marcus Stiglegger, der die Mechanismen filmischer Spannungserzeugung vorstellte und den Spuren von Suspence, Schock und Thrill in der Filmgeschichte nachging, von Pabsts „Die Büchse der Pandora“ bis zur Horrorshow des heutigen Terrorkinos, das Stiglegger mit Alexandre Ajas „High Tension“ ins Spiel brachte (nicht zu verwechseln mit dem berndzywietzschen Terrorismuskino). Die krass-heftigen Szenen von Ajas Sadismus-Home-Invasion-Film aus dem Jahr 200e zeigte Stiglegger bewusst nicht, schließlich ist der Film in Deutschland wegen Gewaltverherrlichung indiziert und nur in geschnittener Form erhältlich…
„High Tension“ jedenfalls wurde interessanterweise ebenfalls vom Großteil des Publikums abgelehnt; allerdings nicht in Bausch und Bogen verdammt, sondern als Diskussionsgrundlage akzeptiert, auch als eine Art von Film, für die es eine bestimmte Affinität in bestimmten Arten von Kinogängern geben kann, vielleicht gar darf.

Auf Ernst Schreckenbergs Überlegungen zum filmischen Subtext ließen sich Maass’ Ideen ebenfalls schön übertragen – und dass der Staffelstab der Subthemen so elegant übergeben ließ, ist ein Glücksfall für dieses Symposium (und lässt sich wohl vor allem in dieser Atmosphäre des filmischen Denkens, in diesem Miteinander von Film, Vortrag, Diskussion und Publikum herauskitzeln). Subtext: Das ist für Schreckenberg ganz klar nicht etwas, was erst in einen Film hineininterpretiert werden muss, nichts, was irgendwo verborgen liegt und darauf wartet, ausgegraben zu werden, um dem Film eine neue Perspektive, vielleicht eine ganz andere Lesart zu geben. Subtext ist intendiert, wird auch deutlich gezeigt – nur achtet der Zuschauer nicht darauf, weil er im Daneben, im Beiläufigen und Unbeachteten abläuft.
Dieses Phänomen kann man Subtext nennen – einiges von dem, was Schreckenberg nennt, würde freilich bei Ralf Fischer, der über visuelle Spannungen und den innerfilmischen Dialog der Bilder referierte, vielleicht bildliches Leitmotiv oder symbolische Bildkomposition heißen. Das aber sind terminologische Fragen – und zeigt eigentlich vor allem nochmals, wie die Vorträge bei ganz verschiedener Thematik ineinander übergehen.

Schreckenberg nimmt als offensichtliches Beispiel „Oh Boy“ mit Tom Schillings vergeblicher Suche nach Kaffee, die symbolisch für sein Underachiever-Leben ist, in dem ihm nichts gelingt, weil er nichts erreicht (wie gesagt: über die Begrifflichkeit, dies als Subtext zu bezeichnen, kann man streiten). Vor allem aber nahm sich Schreckenberg Polanskis „Ghost Writer“ vor, in dem er nach eigener Aussage mindestens zehn Subtextlinien gefunden hat. Zum Beispiel die merkwürdigen Bediensteten – die undurchsichtige Asiatin, die in der Küche werkelt, ihr Mann, der im Dünenwind versucht, Blätter zusammenzurechen: geheimnisvolle Figuren, die ihre Geheimnis niemals offenbaren, ja, deren Geheimnis nie angesprochen wird.

Vor allem auf eins konzenentrierte sich Schreckenberg: Auf die BMW-Linie.
Wir erinnern uns: Der Beginn des Films zeigt eine Fähre, von der die Autos eins nach dem anderen runterfahren – bis auf ein wuchtiges Product-Placement-Gefährt, dessen Fahrer in der nächsten Einstellung tot an den Strand gespült wird (eine Reminiszenz an Fritz Langs „Testament des Dr. Mabuse“, in dem nach Ampelstopp alle Fahrzeuge weiterfahren bis auf das, in dem der soeben Ermordete sitzt…) Der Tote bei Polanski: Das ist der Ghostwriter des britischen Ex-Premiers, der auf seiner Ferieninsel an seinen Memoiren arbeitet. Ersatzmann wird Ewan McGregor, unwillig zuerst, dann neugierig, schließlich einem Geheimnis auf der Spur… Und immer wieder wird er in Autos gezwängt, immer wieder übernimmt BMW die Führung, leitet ihn weiter, voran im Plot, näher an den Abgrund heran, auf den der Ghost unweigerlich zusteuert. Das Auto als Motor einer Tragödie der Unausweichlichkeit – Dehumanisierung, so nennt es Schreckenberg. Und allein schon aus den Filmausschnitten mit diesem Motiv zeigt sich, wie perfekt, wie reich dieser Thriller ist.

Und wir entsinnen uns: Auf der Berlinale 2010 wurde der Film eher verhalten bis enttäuscht aufgenommen, als seichte Unterhaltung ohne Biss und Relevanz – ähnlich negative vibrations, wie sie in Mannheim „Lost Place“ entgegenschlugen. Wie ernst ist diese Ablehnung eines zugegebenermaßen nicht voll gelungenen Films also zu nehmen, wenn sie mitunter auch dem runden, dichten Werk eines der besten Regisseure überhaupt zuteil wird?

Was nicht nur die Frage aufwirft, in welchem Kontext welche Schwingungen für oder gegen einen Film generiert werden; oder die danach, wieweit ein Publikum von sich selbst zu abstrahieren vermag, sprich: nicht von sich ausgeht, sondern sich hineinversetzt in die Eigenansprüche des Films und in die Ansprüche des anvisierten Zielpublikums. Sondern auch die, inwiefern ein Film für seine von ihm selbst intendierte Wirkung alle Ebenen der gesamten Wahrnehmung jeder Dramaturgielinie erfüllen muss.

Zumal nämlich unter den während des Symposiums vorgeführten Filmen mit Fred Zinnemanns „The Day of the Jackal“ / „Der Schakal“ von 1973 und Tetsuya Nikashimas „Kokuhaku“ / „Geständnisse“ von 2010 zwei Filme waren, die ganz bewusst mit ihrer Wirkung auf den Zuschauer spielen. „Geständnisse“, die eiskalte Rachegeschichte einer Lehrerin an ihren Schülern, fährt jede Emotionalität der Figuren extrem herunter, Psycho- und Soziopathie bestimmen den alltäglichen, niemals liebevollen Umgang miteinander. „Der Schackal“ betont extrem die rationale Ebene mit ständig eingeblendeten Uhren, mit genauen Datumsangaben, mit der Verankerung des fiktiven Geschehens in der Realität: Nach dem tatsächlichen, gescheiterten Anschlag auf Präsident de Gaulle von 1962 beauftragt die radikal-rechtskonservative OAS einen auswärtigen Auftragskiller mit einem neuen Attentatsversuch, dessen minutiösen Vorbereitungen der Film exakt beschreibt; während als gegenläufiges Uhrwerk die Bemühungen von Polizei und Geheimdiensten geschildert werden, die das Komplott zerschlagen wollen. Klar, präzise, fast übermenschlich wird geplant und gegengeplant – und gottseidank kam keiner der Filmemacher auf die Idee, etwa die Ehegeschichte des Chefermittlers auszubauen, um seiner Figur mehr emotionales Gewicht zu verleihen!

Wenn bestimmte Wirkungsaspekte der Dreier-Dramaturgie bewusst heruntergedimmt werden, so wie Zinnemann und Nakashima die emotionale Schiene abschalten, dann wird damit ja auch eine Aussage getroffen. Ebenso wie in den von Ralf Fischer in seinem Vortrag über visuelle Spannungen angeführten Beispiele von Kubricks „2001“ oder Jacques Tatis „Playtime“. In beiden wird die rationale Ebene vernachlässigt, und zwar auf ähnlich unterschiedliche Weise, wie „Der Schakal“ und „Geständnisse“ die Emotionen übergehen, mit gänzlich unterschiedlicher Intention und Wirkung nämlich: Wo beim „Schakal“ ein mechanistisches Spannungsmoment vorherrscht, erklärt „Geständnisse“ den kalten Krieg zwischen den Figuren (und auch zwischen Leinwand und Publikum); „2001“ schraubt die logischen Handlungsfolgen von Ursache und Wirkung herunter, um per Verrätselung philosophisch zu erzählen, während Tati in „Playtime“ die Stringenz der Handlung auseinanderzerrt zu unverbundenen Absurditäten.

Alle dramaturgischen Schichten – die rationale, die sinnliche, die emotionale – aufzufüllen, ist, wie sich zeigt, nicht der Weisheit letzter Schluss. Unausgewogenheit in den erzählerischen Ebenen ist eben – siehe „Lost Place“ – nur dann ein Problem, wenn sie aus Nachlässigkeit oder Unvermögen entsteht, weil dann die potentielle Wirkung des Filmes nicht voll ausgeschöpft wird. Und selbst dann kann man bis zu einem gewissen Maße darüber hinwegsehen, wenn man vom Ideal, vom Absoluten wegrückt und das Relative, das Notwendige ins Sichtfeld rücken lässt: In dieser Perspektive ginge man nicht vom Bestmöglichen aus, von dem verschenkte Möglichkeiten subtrahiert werden müssen. Sondern vom Minimalen, davon, was unabdingbar vorhanden sein muss für den gewollten Effekt im angepeilten Markt, und würde sich über alles freuen, was darüber hinaus geboten wird. Diese Haltung ginge dann bis hin zum amüsiert-bewundernden Blick auf das Trashkino.


Harald Mühlbeyer