Cronenberg-Seminar in Mannheim

Das 11. Mannheimer Filmseminar im Cinema Quadrat beschäftigt sich vom 8. bis 10. März mit dem Werk von David Cronenberg. Im Dialog von Psychoanalyse und Filmtheorie tauchen Psychologen wie Stefan Hinz, Angelika Zitzelsberger-Schlez und Helmut Däuker und Filmwissenschaftler wie Marcus Stiglegger, Manfred Riepe und Christiane Mathes in die tieferen Schichten von Cronenbergs Werk ein. Vorträge und Diskussionen werden ergänzt durch fünf Cronenberg-Filme:

"The Brood", 1979
"eXistenZ", 1999
"Spider", 2002
"Eine dunkle Begierde"/ "A Dangerous Method", 2011
"Cosmopolis", 2012


Weitere Infos auf cinema-quadrat.de.

Billy Wilder in Hannover

Die Ausstellung "Eins, zwei, drei - Billy Wilder", die im Sommer letzten Jahres im Jüdischen Museum Rendsburg zu sehen war, ist nach Hannover gewandert und wird dort bis Ende Mai im Theatermuseum zu sehen sein.
Den Screenshot-Bericht über die Ausstellung finden Sie HIER; ein Interview mit Hellmuth Karasek über Billy Wilder HIER.

Anschrift und Öffnungszeiten:

Theatermuseum Hannover, Prinzenstraße 9, 30159 Hannover

"Eins, zwei, drei - Billy Wilder" vom 17. Februar bis 26. Mai, geöffnet Dienstag bis Freitag und Sonntag 14.00 bis 19.30 Uhr; Montag und Samstag geschlossen.
Eintritt 5 Euro, ermäßigt 3 Euro, frei mit Theaterkarte für den gleichen Tag.

Weitere Infos auf der Webseite des Theaters Hannover.

Das Kommunale Kino Hannover bereitet begleitend eine Billy-Wilder-Filmreihe vor, Näheres ist aber derzeit auf der Homepage koki-hannover.de noch nicht zu finden.

Zu den deutschen Kino-Zahlen 2013

Von unserer Projektseite:

In unserer Einleitung von ANSICHTSSACHE – ZUM AKTUELLEN DEUTSCHEN FILM haben wir uns ein bisschen mit den Zahlen der FFA zu den deutschen Kinostarts und -Besucherzahlen vergangener Jahre befasst. Nun hat die FFA diejenigen für 2012 vorgelegt. Gemäß der Übersichtspublikation FFA Info Compact (die wir auch im Buch heranziehen) sah es im vergangenen Jahr nicht gut aus für den deutschen Film auf der Leinwand. Spitzenreiter der deutschen Top 10 war TÜRKISCH FÜR ANFÄNGER – mit gerademal 2,39 Mio. Zuschauern. Zum Vergleich: Spitzenplatz 2011 war KOKOWÄÄH mit 4,32 Mio.

Zusammengerechnet brachten die erfolgreichsten zehn Filme hiesiger Produktion es 2012 auf gerademal 11,7 Mio. Besucher. Das ist mehr als in 2010 (9,8 Mio.), aber deutlich weniger als 2011 (15,4 Mio.) und im Superjahr 2009 (21,8 Mio.).

Die hohe Zahl von 135,1 Mio. Eintrittskarten, die vergangenes Jahr gekauft wurden (2011: 129,6 Mio.; 2010: 126,6 Mio., 2009: 143,3 Mio.) mag zwar für die Kinobetreiber erfreulich sein. Der Marktanteil deutscher Produktionen fiel mit 18,1 % (= 24 Mio. Besucher) gegenüber 2011 (21,8 %) und 2009 (27,4 %) dagegen aber eher mau aus (überrundete jedoch immerhin das Loser-Jahr 2010 mit seinen 20,9 Mio. Eintritten bzw. 16,8 % MA).  

Noch trauriger sieht es aus, wenn man die (zumindest nominelle) Gesamtzahl der deutschen Premieren mitberücksichtigt. Die hat nämlich 2012 gegenüber den Vorgängerjahren einen neuen Höchststand erreicht: 220 deutsche (bei 551 gesamt – also 39,92 %). Zum Vergleich: 2011 waren es 212 deutsche bei 532 Gesamtpremieren (39,85 %), 2010 189 deutsche bei 507 insgesamt (37,28 %) und 2009 216 deutsche bei zusammengenommen 513 Erstaufführungen (42,1 %).   

In Sachen künstlerischer und gesellschaftlicher Wertigkeit sagt das natürlich nichts aus. Es deutet aber an, dass die Tendenz zur „Verpuffung“ von vor allen kleineren Produktionen in den Kinos eher zunimmt, was wiederum in Qualitäts- und Inhaltsdebatten nicht irrelevant sein kann. Sei es, weil am Publikum vorbei gedreht wird, sei es, weil viele Filme für den interessierten Zuschauer angesichts der Miniatur- und Speed-Dating-Starts, die einem Werk in Zeiten der Massenabfertigung lediglich wenige Wochen – oder gar nur Tage – der allgemeinen Leinwandpräsenz zugestehen, sich nicht etablieren und die Aufmerksamkeit generieren können, die ihnen zustehen. 

Die Zahlenübersicht der FFA zum Jahr 2012 finden Sie HIER.

zyw

BERLINALE 2013: Panahis PARDÉ / CLOSED CURTAIN


Sehn betroffen - den Vorgang zu ...

Eigentlich muss man Jafar Panahis PARDÉ gar nicht mehr loben, das wird schon überall getan. In der Zeit („ein beklemmendes Kammerspiel“, das „das Denken und Fühlen in Bilder verwandelt“), bei DRadio („ein mutiger Film“) und in der taz („ein trotziger Kommentar zu einer Situation, die sich mit gängigen filmischen Mitteln kaum beschreiben lässt“). Gibt es eigentlich noch mehr zu sagen? Und: Darf man eigentlich auch was anderes sagen? 

Keine Frage, filmisch, in Sprache, Gedankenreichtum und Ausdruck ist PARDÉ (international: CLOSED CURTAINS) meisterlich. Und trotzdem hat der Film ein Problem (oder bereitet es mir zumindest). Wobei das nicht ganz stimmt, es ist ein Bauchgrimmen, das vom Film ausgeht, das aber auch vom der Lücke zwischen Film und Zuschauer ausgeht. Eines, das besonders schlimm wird, wenn Ekkehard Knörer in der taz (vom 13. Feb., S. 23) das einzelne „Buh“ nach der Pressevorführung am Dienstagmorgen flapsig mit: „Da hätte sich der iranische Geheimdienst aber ein bisschen mehr Mühe geben können“ kommentiert. Nur bedingt weniger wurstig gesagt: Wer PARDÉ also nicht mag, muss zwangsläufig Agent eines Repressionssystems sein.


PARDÉ ist auch dank Panahi selbst wenig mehr als der Film zum Zensur-Skandal, der eine so schöne eingängige Geschichte bietet. Dort das unmenschliche, unterdrückerische, undemokratisch-tyrannische und praktischerweise so gesichtslose „System“ der Mullahs, hier der märtyrerhafte auteur, dem die Lebensbestimmung geraubt wurde, der in seiner Brillanz gehemmt, darob leidend, seine Kunst nicht ausüben darf. Und der dann doch, im kleinen, einmal mehr mit Witz und Pfiff obsiegt. David versus Goliath, und das in seinem Werken und Wirken erst seiende Genie noch obendrein. 

Nicht falsch verstehen: Dass der Iran diesen seinen Bürger ein 20-jähriges Berufs- und Reiseverbot auferlegte und ihn mit Haft bedroht, ist nicht nur eine ausgemachte Schweinerei, sondern auch idiotisch, denn wie uns nicht die theokratische, sondern das westliche kapitalistische Ordnung vormacht, neutralisiert man Kritik nicht, indem man sie verfolgt, verbietet und bestraft, sondern indem man sie einbindet, institutionalisiert, zur leicht verdaulichen Ware macht.  

Ein bisschen Mitleids-, Empörungs- und Protest-Gut ist PARDÉ nun leider insofern auch, als PARDÉ zwar nicht das Buch zum Film zum Event ist, aber immerhin der Film (und ein "Ereignis", so Verena Lueken in der FAZ) zum Zensurfall Panahi. Und damit leider viel zu wenig ein Kinokunstwerk aus und mit eigenem Recht. Eines, das schon von Geburt an ohne seine Politikum hinkt.

In einfachen wie famosen Einstellungen (gerade der ersten, der überlangen), die zugleich wenig mit denen von so manchen Berliner Möchtegern-Schülern zu tun haben, präsentiert PARDÉ einen älteren, sorgenvollen Schriftsteller (Kamboziya Partovi). Wir sehen ihn durchs Fenster, durchs Gitter, wie er mit einem Taxi ankommt, das Haus betritt, die Fenster verhängt – denn in seiner Reisetasche hat er einen putzigen, cleveren Hund hereingeschmuggelt (Boy, der wahre Star des Films!).

Hintergrund: der islamische Republik habe – so vermitteln uns (fiktionale) Fernsehnachrichten, die besagtes Haustier sich bequem im Sessel „anschaut“ – die „unreinen“ Kreaturen verboten, weshalb die gemeuchelt werden. Der Mann verbirgt seinen Hund wie einen Flüchtling, lässt ihn in einer selbstgebauten Sandbox sein Geschäft verrichten. Dann gelangt ein junges Pärchen auf der Flucht in die abgeschottete Villa; die vorgeblich selbstmordgefährdete Frau (Maryam Moghadam) bleibt zurück, und nun wird der Film leicht und vorsichtig immer merkwürdiger – bis Panahi als Panahi auftritt in diesem seinen Haus am Meer, die Vorhänge herunternimmt, dabei Plakate seiner Filme enthüllt. Der ältere Herr und die junge Frau sind allegorische Gestalten, die ein Geisterparalleleben führen, eine Arte Ideen-Konkurrenz ausfechten. Realität, Fantasie, Fiktion vermischen sich, überkreuzen sich, oder aber bleiben sattsam und lustvoll deutungsgierig. Ist die Frau an der Tür, die ihre Schwester sucht, nun ein Kurzschluss zwischen den Sphären oder die nachgezogenen Inspiration für die Erfindung der nächtlichen Besucherin?

Das ist leichthändig wie intelligent und vielschichtig, macht aber auch – insbesondere wenn Panahi als dröger Schauspieler seiner selbst sein Berufsverbot und Leben unter permanenter Beobachtung direkt, im Gespräch mit dem Hüter seines Feriendomizils, reflektiert (und reflektieren lässt) – die spannende, berührende und für sich meisterliche Geschichte der (knapp) ersten Hälfte von PARDÉ preisgibt (selbst, wenn er sie in etwas anders überführt).

Dass PARDÉ auf der Berlinale, wo 2011 Panahis Jury-Stuhl demonstrativ leer blieb, im Wettbewerb läuft, ist selbstverständlich wie auch von der künstlerischen Originalität im Einzelnen her berechtigt. Es ist aber etwas anderes, ob man – wie Lueken in der FAZ schreibt – „unter den Bedingungen, unter denen Panahi lebt und verbotenerweise arbeitet, keinen Film drehen [kann], der diese Bedingungen nicht enthält“, oder ob man sich selbst und diese Bedingungen so sehr zum Gegenstand macht wie Panahi, der schließlich gar sein kleines Team vor die Kamera vor der Kamera bringt.      

Kunst als Ausdruck der eigenen Erfahrung, des eigenen Leidens, eine Kritik der Situation, ein Aufschrei, Protest, Subversion, das ist mehr als nur legitim für den Film und das Kino. Welches Zeichen von Unbeugsamkeit und der heiligen Macht der Kreativität wäre es jedoch gewesen, hätte Panahi einfach unter den widrigen Bedingungen einen Film gemacht, der quasi ohne ihn, ohne den „Fall Panahi“ funktioniert hätte, der zwar auch auf ihn verwiese, zugleich aber allgemeiner und universeller sinnbildlich geworden wäre. Eine souveränere Geste, die die Sittenwächter des Staates stärker noch bloßgestellt hätte, zusammen mit ihrer Machtlosigkeit was die Einhegung des menschlichen Geistes und seiner Kreativität aller Verzweiflung und Widrigkeit zum Trotz betrifft.  

So aber hebt sich PARDÉ und seine Wucht leider doch eher simpel aufmerksamkeitsmerkantil als künstlerisch transponierend oder sonst wie ergiebig in dem Widerspruch selbst auf, dass Jafar Panahi seinen Triumph gerade als ein Filmemacher feiert, der weniger sein Verbot als das Verunmöglichen des Filmemachens thematisiert. Indem er einen gelungenen Film darüber macht. 

Ist nach THIS IS NOT A FILM und PARDÉ hier also ein Genre am Entstehen? Das des selbstbeobachtenden, selbstinszenierenden, des staatlicher verbotenen und durch subversive Digitaltechnik ermöglichten Märtyrer-Dissidenten-Films für die Wohlmeinenden in Freiheit? Ein neues mediales Exportprodukt für Diktaturen? 

Wem das zu zynisch ist, der soll warten, ob PARDÉ nicht den Goldenen Bären in Berlin bekommt und dann sehen, dass und wie wir uns mit Panahis Schicksal nicht längst prächtig arrangiert haben.


zyw





Brüggemann vs. Berliner Schule

Am 11. Februar hat Dietrich Brüggemann, Regisseur von RENN, WENN DU KANNST und 3 ZIMMER / KÜCHE / BAD, sich, nachdem er sich Thomas Arslans GOLD (hier bei uns besprochen) angesehen hat, auf seinem Blog d-trick.de den Frust von der Seele geschrieben. Titel der Tirade, die mittlerweile mit einem Nachtrag nach dem Wirbel, den Brüggemann verursachte, versehen ist: "Fahr zur Hölle, Berliner Schule".

Zitat:

Was sind das für Regisseure, die die ganze Filmgeschichte gefressen haben, sich einen prätentiösen Titel nach dem anderen ausdenken, aber nicht in der Lage sind, eine einziges echtes Gefühl auszulösen? Geschweige denn irgendwie glaubhaft von der Liebe zu erzählen? Wo genau liegt eigentlich die künstlerische Individualität, wenn hundert Filme alle gleich aussehen? Und was ist das überhaupt für eine dämliche Kultur, in der man diese Simulation von Kino gut finden muß, weil es ansonsten ja nur noch den gräßlichen Mainstream gibt? Die Leute, die kluge Unterhaltung konnten, die haben wir ja vor 80 Jahren alle rausgeschmissen, und aus ihren Arbeiten besteht die interessanteste Sektion dieser Berlinale. Aber sind inzwischen keine nachgewachsen? Oder konnten sie sich nicht entfalten und haben irgendwann frustriert aufgehört, weil in Deutschland ja alles entweder todernst und tonnenschwer sein muß oder halt vor lauter Dämlichkeit stinken?

Ob jetzt ausgerechnet GOLD als Anlass für den Brandbrief taugt, insbesondere, wenn Brüggemann zumindest Innovation fordert (und, hey, immerhin ist GOLD Berliner Schule im Wilden Westen, und schöne Landschaft zeigt der Film auch schön her!) - darüber mag man anderer Meinung sein.   


Darüber hinaus aber hat Brüggemann in der Sache Recht, wenn er - wie übrigens auch wir in unserem Buch (irgendwo, mal kurz) - einen vernünftigen middle ground fordert. Wie und auf welche Weise der zustande kommen kann und sollte...

Brüggemann:

Jedes europäische Land produziert einerseits fürchterlich spaßbefreite Kunstfilme und andererseits wahnsinnig plattes Unterhaltungskino. Dazwischen gibt es dann noch so wohlmeinendes Wellness-Arthouse für Brigitte-Leserinnen, denen man öfter mal mitteilen muß, daß das Leben bezaubernd ist. Und das ist alles gleichermaßen beschissen.

Umso mehr tut es mir persönlich leid, dass Christian Petzolds BARBARA vom Verband der deutschen Filmkritik (VdFK) gestern Abend zum besten Film des Jahres 2012 gekürt wurde - und nicht der ebenfalls nominierte 3 ZIMMER / KÜCHE / BAD. Nicht weil es BARBARA nicht wert wäre. Nicht, weil Deutscher-Filmpreis-Anwärter BARBARA auch sonst so viele Preise und Nominierungen erhalten hat (kann ja kein Kriterium sein, wenn es um die Qualität eines Films per se gehen soll). Sondern weil Dietrich Brüggemann zusammen mit seiner Schwester (und Co-Drehbuchautorin) Anna nicht zuletzt dank 3 ZIMMER / KÜCHE / BAD als einem Film, der Generationen und Niveaus zusammengebracht hat, zwei der Hoffnungsträger für die Zukunft des deutschen Kino sind.

Übrigens: GOLD-Hauptdarstellerin Nina Hoss, die laut Brüggemann "fünf Filme lang herumlaufen muß wie ein abgeschalteter Roboter" bekam auf der letzten Berlinale den Silbernen Bären für ihre BARBARA.
Und nichts gegen Lars Eidinger und Alina Levshin (die wir - kleine Werbeschalte - ja auch in unserem Buch kurzporträtieren). Aber die als Beste Darstellerin" und "Bester Darsteller" hätte der VdFK-Jury gerne und mit gutem Recht eigentlich auch mal pauschal das Ensemble von 3 ZIMMER / KÜCHE / BAD prämieren können...

zyw

Filmkritiker zeichnen aus

Am Abend des 12.2. prämierte der Verband der deutschen Filmkritik (VdFK) seine Besten des Jahres 2012.
In der Tube Station in der Berliner Friedrichstraße wurden „Barbara“ von Christian Petzold als bester Spielfilm und „Oh Boy“ von Jan Ole Gerster als bester Debütfilm ausgezeichnet.

Die weiteren Preisträger: beste Darstellerin:

Alina Levshin („Kriegerin“),
bester Darsteller:  Lars Eidinger („Was bleibt“),
bester Schnitt:  Bettina Böhler („Barbara“),
bestes Drehbuch:  Bernd Lange („Was bleibt“),
beste Kamera:  Jakub Bejnarowicz ((„Der Fluss war einst ein Mensch“),
beste Musik:  The Major Minors und Cherilyn MacNeil („Oh Boy!“),
bester Dokumentarfilm:  „Das Ding am Deich“ (Antje Hubert).

Zum ersten Mal wurde ein Preis für den besten Kinderfilm vergeben. Er ging an Norbert Lechner für „Tom und Hacke“.

Den Ehrenpreis des Verbands der deutschen Filmkritik erhielten Christel und Hans Strobel für ihre Verdienste um den deutschen Kinderfilm.

Fred Kelemen wurde mit dem Innovationspreis ausgezeichnet für seine herausragende Bildgestaltung von Béla Tarrs „Das Turiner Pferd“.

BERLINALE 2013: gloriose GLORIAS

Kleiner Schnellschuss vor dem nächsten Film: GLORIA von Sebastián Lelio mit einer hinreißenden Paulina Garcia. Sie spielt die Titelfigur, eine geschiedene Endfünzigerin in Chile, die wir zu Beginn noch mit ihrer übergroßen Plastikbrille nach Anschluss suchen sehen. Gloria ist einsam, jedoch niemand, der entweder je gelernt hat, Spaß im Leben zu haben oder es mittlerweile vergessen hat. Linkisch, naiv aber nie denunziatorisch und dabei mit leisem, treffsicheren und genau beobachtenden Humor begleitet der 1974 geborene Lelo diese sozial unsichere und doch so sehnsüchtige Frau, wie sie ihrem erwachsenen Sohn auf den Geist geht, bei ihrer Tochter die Jogaklasse besucht - und schließlich auf einer der Ü-40-Veranstaltungen einen Gefährten findet. Doch Radolfo kommt nicht los von seinen Töchtern und seiner geschiedenen Frau, sodass sich Gloria versucht, sich in der zweiten Reihe einzurichten.


Ganz großes Kino mit kleinem Gestus und gewöhnlicher Geschichte ist es, wenn der Film mit leicht gesetzten, unaufdringlichen oder einsichtige Symbolismen Glorias Alltag zeichnet, ihr Changieren zwischen Hemmung und Lebensgier, ihre Suche nach Nähe, einem Halt oder den Zugang zu einem neuen Leben und einem ebensolchen Ich. Wie sie die kurzen Freunden des Joints entdeckt, zwischen Minderwertigkeitsgefühlen und kleinem Zorn sich mit ihren Gefühlen und ihrer Selbstvorstellung (sowie der Nachbarskatze) arrangieren lernt. Eine, wenn nicht gar die berührendste und ganz unsentimentale Szene, wie der gesamte Film mit dezenter Handkamera intim, aber unaufdringlich gefilmt: Gloria bringt ihre Tochter zum Flughafen, wo diese ein neues Leben in Schweden erwartet. Nein, die Tochter will nicht von Gloria zum Gate begleitet werden, so verabschieden sie sich kurz in der Parkzone. Gloria fährt davon - und stellt das Auto eilig auf dem Parkplatz des Airports ab, hastet suchend durch die Warte- und Abflughalle, um versteckt, aus der Ferne noch einen Blick auf die junge Frau zu erhaschen und dort, heimlich, ihren Tränen freien Lauf zu lassen.

Ganz einfach erzählt, unspektakulär und doch so treffend weiß Drehbuchautor und Regisseur Lelio die Figur und ihr Inneres samt Leben drumherum zu beschreiben, dass man nicht anders kann als GLORIA völlig ins Herz zu schließen, spätestens, wenn sie am Ende ein wenig zu sich selbst findet, Gelassenheit lernt - auf einer Hochzeit ist sie es am Schluss, die eine Tanzofferte ausschlägt. Um dann doch, ein wenig ungelenk, ein klein bisschen peinlich loszutanzen zum Song "Gloria" vom Umberto Tozzi, alleine und ganz sie selbst.

Viele Kritiker waren begeistert; offensichtlich auch angetan: Berlinale-Jury-Mitglieder Tim Robbins, hinter dem ich saß, und Andreas Dresen, der mit WOLKE 9 sich selbst der Liebe und dem Sex im Alltag (vor der Bebilderung scheut sich auch GLORIA nicht und gewinnt in der sinnlichen Darstellung der reifen Körper).

GLORIA - ein herzlicher Anwärter auf den Goldenen Bären, zumindest aber auf den Silbernen - für eine hinreißende, nuancierte Paulina Garcia.

zyw
 



Berlinale 2013: (Katzen-) GOLD

Thomas Arslans bemerkenswert uneindeutige Reise durch die Wildnis

Kein Western sei es, erklärte Regisseur und Drehbuchautor Thomas Arslan in der Pressekonferenz, sondern eher, als Subgenre, ein Treck-Film. Die Zeit der klassischen Frontier, der Cowboys und all der großen Zivilisations- und Eroberungsmythen ist auch eigentlich schon vorbei, in der Zeit, in der GOLD spielt: Es sind die 1890er Jahre, und der Goldrausch in Kanada lockt auch deutsche Emigranten. Darunter das ehemalige Dienstmädchen Emily Meyer, die sich einer kleinen Reisegruppe unter Führung des sich schließlich als windig herausstellenden Wilhelm Laser (Peter Kurth) anschließt, um 1.500 Kilometer durch das unbesiedelte Land zu den Goldfeldern des Klondike zu gelangen. Beginn eines strapaziösen Zugs und eines fordernden Films.


Thomas Arslan (DEALER, und zuletzt mit IM SCHATTEN gefeiert) zählt gemeinhin zur ersten Generation der (Neuen) Berliner Schule, und man kommt nicht umhin, GOLD als einen entsprechenden Klassenausflug nach Bad Segeberg zu betrachten. Was zumindest nicht ganz fair dahingehend ist, als Bildgestalter Dominik Orth (sowas wie der Hauskameramann der Berliner Schule) atemberaubende Aufnahmen der Berg-, Wald- und Steppenlandschaft British Columbias und der kanadischen Rockys eingefangen hat, die zudem auf der Berlinale-Leinwand wundervoll scharf präsentiert wurden und die in den ruhigen und wohl gewählten Einstellungen voll zur Geltung kommen. Darüber hinaus ist es aber schwierig, den Film einzuschätzen – oder zumindest, mit ihm so recht warm zu werden. Was, je nach Standpunkt Programm sein mag oder halb geglücktes Bemühen.

Nina Hoss, Berlinale-Dauergast und Bären-Gewinnerin des letzten Jahres für ihr Spiel in Christian Petzolds BARBARA, hat den Sattel eines DDR-Fahrrads gegen einen auf einem echten Pferderücken getauscht, und wie gemacht scheint die spröder leidensbegabte blonde Schönheit für den wilden (Nord-)Westen und seine Strapazen – schließlich heißt sie auch, auch nur mit dem Nachnamen, wie der dicke Cartwright-Sohn in „Bonanza“. Aber Kalauer hin oder her, GOLD fehlt es letztlich doch bei allem Existenzialismus und der Lust am Geworfensein im großen ehrfurchtsgebietenden Nirgendwo-Idyll als Hoffnungshölle auf dem Weg ins bessere Leben am notwendigen erzählerischen Surplus, um seine abgenutzten Situationen, Typen und Konflikte, mit denen der Film jongliert, zu legitimieren. So strauchelt, zumindest vordergründig, GOLD hin und wieder, schliddert auf blanker Drehbuchebene ins Metier eines TV-Westerns ab, selbst, wenn es ein anspruchsvoller und authentisch rauer sein mag.

Die Langsamkeit in ihrer Analyse, das distanzierte Beobachtende bei gleichzeitigem Einbezug des Zuschauers, das Berliner-Schulische (das freilich bei Arslan hier wie sonst nie so intellektuell-ästhetische geriet wie bei anderen, vor allem auch jüngeren Vertretern) kann und konnte seine enthüllende, analytische Wirkung wunderbar vor allem entfalten, wenn es wie ein Instrument auf die moderne Gegenwart und Oberfläche gerichtet war, um dahinter zu schauen, verdeckte oder nicht abbildbare Verhältnisse zu durchdringen und wenn auch nicht symbolisch-sichtbar, so doch erfahr- und begreifbar zu machen. In GOLD aber haben wir es mit einer anderen, fernen und fremden Zeit, ihren Menschen und Daseinsbedingungen zu tun, und das Spröde des Blicks geht so an den bisweilen museal hergezeigt wirkenden Westerndörfern, den immer etwas zu sauberen oder zu sorgfältig angeschmutzten Kostümen und Requisiten ins Leere – wenn er nicht zuvor von der Naturschönheit verschluckt wird.

Nach langer, fast lebensraubender Odyssee erwacht Nina Hoss so dezent wie geschmackvoll – und dennoch: – geschminkt, wie sie aus dem originalen Dampflockzug am Anfang steigt: die Brauen akkurat konturiert, die Lippen leicht kaminrot. Etwas irritierend Anachronistisches hat das Banjo von Lars Rudolph alias Rossmann, so hell, so viel Metall, nicht auch Plastik die Stimmdrehknöpfe?

Das ist keine Schluderigkeit der Ausstatter, auch nicht mit dem Verweis auf das mit zwei Millionen für einen solchen Film wie GOLD erstaunlich geringe Budget abzutun. Es hätte ein faszinierender künstlerischer Einfall sein können, der bewusste Einsatz von Unzeitgemäßem (vielleicht je mehr desto länger die Reise dauert). Auch die Elektrogitarrenklänge als Soundtrack gemahnen, zusammen mit der gesamten reduzierenden, getragenen Methaporikstimmung, auf Jim Jarmuschs (Konter?-, Satire?-, Mystik?-) Western DEAD MAN – auch wenn Arslan sich in der Pressekonferenz davon zurecht distanzierte. Was aber will er und GOLD sonst? 

Thomas Arslan (r.) mit Cast auf der Berlinale-Pressekonferenz (Bild: zyw)
Die reflexive, rekapitulierende Beschäftigung mit vielen hier gebündelten, realen Reise-Erlebnisse  deutscher Emigranten als arme Glückritter – sowas mag die Förderstellen und Produzenten überzeugt haben. Es ist aber keine geeignete, zumindest keine hinreichende Grundlage oder Ausgangsbasis für die gebotene gehobene Stilistik des Films und seines Typenpersonals. Der arrogante Reporter aus dem Osten, der sich zum Anführer aufschwingt und Emily anmacht (Uwe Bohm), der arme unsichere Familienvater (Rudolph), der schweigsame Packer (Marko Mandic), von dem wir schon bei der ersten Begegnung wissen, dass er und Emily, wenn auch recht spät und nur sehr kurz, zusammenkommen. Selbst Nina Hoss darf in ihrer Rolle deren biografisch einfallslosen wie folglich glaubwürdigen Hintergrund erzählen, aber auch sie bleibt seltsam figurinen-, bisweilen gar staffagenhaft (oder, nach anderer Lesart: symbolisch-abstrakt). Damit wie mit dem Misstrauen gegen die Indianer, dem Radbruch, der Verwundung bis hin zu nötigen Amputation, Irrsinn, Rache, das Abzählreim-Prinzip, nach die Gruppe vorauszusehend reduziert wird – mit all dem samt der ästhetischen Reduktion hätte man wunderbar Genre-Reflexion oder -Dekonstruktion betreiben können, eine Persiflage oder Hommage. Weil aber GOLD keine Erkenntnis oder zumindest kein überzeugendes Erkenntnisinteresse bietet oder spürbar macht, müht man sich als Zuschauer – vielleicht gar umsonst –, einen Sinn hinter dem dann Schleppenden, dem Leder-Zähen, dem Hölzernen zu finden. Die Reise mag hier für manchen im Publikum das Ziel des Films sein, für anderen nur der Nachvollzug des erschöpfenden Trecks in, manches Mal, gefühlter Echtzeit. 

Vielleicht ist das aber gerade gelungen sinnbildlich für das geheime Thema und den zugleich eindeutigen Titel: Verführerisches, gierweckendes, aber auch enttäuschende, verblendendes, gauklerisches GOLD.        

Ein sehenswerter, wiewohl oder gerade weil anstrengender und nicht garantiert lohnenswerter Film.
 
zyw

Berlinale 2013: Verbotete Liebesweisen


Schwule Priester und Polizisten, ein Pornojunkie und dicke Kinder aus Österreich

Eine ruhige Minute in einer Filmpause – auch wenn es hier im Grand Hyatt gegenüber dem Berlinale Palast, wo das Pressecenter der Internationalen Filmfestspiele untergebracht ist, vor lauter Berichterstattern aus allen Herren Ländern wimmelt und ein babylonischen Stimm- und Sprachgewirr konzentrationshemmende Kulisse ist.

"Verirrung" und "Verwirrung" hätten auch Themenbegriff des heutigen, zweiten Tages sein können – oder auch, vielleicht konkreter: "Verbotene Liebe". 

Den Auftakt machte heute morgen im Pressescreening W IMIĘ..., übersetzt IN THE NAME OF (POL 2013 - Wettbewerb) von Malgośka Szumowska, und während es draußen leicht, aber penetrant der Schnee fiel, herrschte auf der Leinwand Sommer auf dem polnischen Land. Dort, in einer Art Heim für Schwererziehbare sind Jungmänner untergebracht, und mit nackten Oberkörpern spielen sie Fußball, verausgaben sich beim Steinekloppen; überhaupt sprühen sie nur so von – nicht immer glücklicher – Virilität. Der katholische Priester Adam (Andrzej Chyra) ist hier zusammen mit einem Laien der Boss, ist Aufseher, Betreuer. Vor allem aber ein bodenständiger bärtiger Mann, der zupacken kann, eine natürliche Autorität genießt, bei den Jungs, bei den Landleuten. Dass ihn eine einsame Dame aus dem Dorf ihre Liebe gesteht, bringt ihn nicht aus der Fassung – er sei schon vergeben, so seine Antwort auf ihre Avancen.

Damit ist natürlich Gott gemeint, aber Adam hat auch ein anderes Geheimnis, das ihn nachts sich im Bett herumwälzen lässt und dem die Masturbation in der Badewanne nur kurze Erleichterung verschafft: Adam fühlt sich zu Männern hingezogen – vor allem zu einem Bauernburschen, einem Außenseiter aus der Nachbarschaft, der ähnlich empfindet. 

Er sei kein Pädophiler, sondern einfach nur schwul, erklärt er spät im Film seiner Schwester in Toronto per Skype, mit belegter Stimme, die Wodka-Flasche neben dem Notebook. Die versteht nicht oder will nicht verstehen, verdammt aber Adam auch nicht. Wie der gelungene Film selbst. Denn statt mit seinem Sujet ein schwertrübes Drama über Soutanen-Sex oder Prüderie und Schwulenfeindlichkeit im polnischen Hinterland zu inszenieren, geht Szumowska das Thema und die missliche Situation mit erstaunlich leichter Hand und gar entwaffnendem Fröhlichkeit an. Sicher, unter den Kindern wie den Jugendlichen geht es nicht gerade zimperlich zu (und „Jude“ fällt hier mehrfach als Schimpfwort). Aber weder erfahren wir, weshalb Adam tatsächlich von Warschau in die Provinz versetzt wurde, noch erscheint er als ein schwacher, zweifelnder Leidensmann, für den Mitleid beim Publikum eingeklagt würde. Genug Deutungsspielraum überlässt der Film uns, wenn der Kardinal die Sache in die Hand nehmen will, und Bauarbeiter in der Mittagspause sind auch recht entspannt über die Verdächtigungen um den nun ehemaligen Pater, der erneut die Gemeinde gewechselt hat: Sobald ein Priester den Schwarzrock ausziehe, sei er einer wie du und ich. 


In diesem Sinne rafft sich am Ende nicht nur Adams Geliebter auf, sondern gönnt der Film sich, uns und seiner Hauptfigur ein boshaft-witzig angedeutetes Happy End, eines, das die katholische Kirche für viele Gläubige wenig gut wegkommen lässt und das zugleich das Thema priesterlicher homosexueller „Veranlagung“ unaufgeregt wie politisch unkorrekt auf den Kopf, gegen die gängigen Klischees und verbreiteten Schreck- und Schimpfbilder stellt.

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Eine ganz andere Art von Sexualpräferenz ist bestimmend für das Leben von Jon, selbstbewusster, oberlässiger und köperkultivierter A-Klasse-Frauenflachlegeprofi aus New Jersey. Als ideales Macho-Schreckgespenst der aktuellen, allgegenwärtigen Brüderle-Seximus-Debatte scheinen sind für ihn die – von ihm und seinen Kumpeln benoteteten – Damen im Nachtclub nicht mehr als zu eroberndes vulgo zu fickendes Frischfleisch, aber seine wahre Befriedigung findet er nur im Second-Hand-Sex: in der Internet-Pornografie, der Jon noch zugetaner ist als dem Live-Geschlechtsverkehr. So stiehlt er sich entsprechend aus dem postkoitalen Bett hin zum Rechner. Das wiederkehrende Sound des Windows-Systemstarts wird über den Verlauf des Films zum grandios aufgeladenen Symbolklang. 

Joseph Gordon-Levitt (zuletzt vor allem mit THE DARK KNIGHT RISES und LOOPER im Kino) hat DON JON'S ADDICTION (Reihe "Panorama") geschrieben, als spritziges, wenngleich nicht ganz sentimentalitäten- und standarddramaturgie-freies Debüt ohne Studio im Rücken inszeniert und gleich noch die Hauptrolle mit bestechender Selbstironie übernommen. Als Unterschichten-Woody-Allen des Facebook- und YouPorn-Zeitalters kommentiert er sein Leben und seine Vorlieben, und insbesondere seine Erläuterungen, warum die expliziten Beischlaffilme per Datenleitung dem zwangsläufig enttäuschenden „real thing“ vorzuziehen sind, bieten Logik und nachvollziehbarer Argumente, wie der Film mit seiner Hauptfigur in ihrer Frechheit und Witzigkeit grundlegende und bedenkenswerte Einblicke in das moderne Beziehungs- als Warenverhältnis in Sachen Sex.

Denn natürlich handelt der Film nicht ausschließlich von Jons Onanie-Ritualen, die DON JON'S ADDICTION wie den Rest seines Alltags in kurzen, wiederholten Bildern verpackt: Er lernt seine Traumfrau (Scarlett Johansson) kennen, doch die hält ihn hin, drängt ihn zu gegenseitigen Familien- und Freundesbegegnungen, gar zur beruflichen Fortbildung. Und ringt ihm eine Porno-Abstinenz ab. Ein Versprechen, das Jon gerne gibt (schließlich tue er sowas nie, das sei für Loser, und das eine Mal war der Scherz eines Freundes...). Was jedoch weder lange, noch gut gehen kann.

Für DON JON'S ADDICTION hat Gordon-Levitt Star-Kollegen für Neben- und Kleinstrollen gewinnen können, neben einer etwas enervierenden Johansson Juliane Moore oder – großartig! - „Wer ist hier der Boß?“-Tony Danza als Jons italienischer Papa, der klar macht, woher der Sohnemann seine Lebenshaltung hat. Angesichts dieser Besetzung (Anne Hatheaway veräppelt sich und ihre Rom-Com-Rollen in einer kurzen Film-im-Film-Sequenz sogar selbst) und der schwungvollen Herangehensweise als Komödie (die Gordon-Levitt auf der Pressekonferenz als dahingehend bewusste Wahl ausgab) könnte man leicht übersehen, welches ernste, zeitgenössische und nicht nur medienkulturelle Problem hier verhandelt wird. Dass Jon und seine Kumpel in ihrem Sexismus, mit ihren frauenfeindlichen Sprüchen wenig realitätstauglich und -berechtigt sind, ist (auch auf der Leinwand, insbesondere der des moralischen Hollywoodkinos) längst kein Geheimnis mehr. Dass aber auch umgekehrt Barbara sich tatsächlich nicht wirklich für ihren Freund Jon interessiert, insofern sie ihn ihren Vorstellungen von Partnerschaft und Lebensplan zurechtmodelliert und ihn, als das nicht klappt, gänzlich und selbstverständlich als eine Art Fehlinvestition schnellst- und radikalstmöglich verabschiedet, sieht man im Kino so schon weniger häufig und problematisiert (weshalb sich DON JON'S ADDICTION diesem Aspekt  auch merklich vorsichtig und beiläufig widmet).

Vor diesem Hintergrund thematisiert der Film folglich nicht nur, sondern ist teilweise Ausdruck der Krise eines aktuellen modernen Möchtegern-Don-Juan. Einem, der sich lieber in hyperperfekten Sex-Virtualitäten verliert (und zu verlieren traut), als sich mit den Unwägbarkeiten, An- und Überforderungen der Wirklichkeit, ihren Unklar- und Unwägbarkeiten, Rollenpflichten und Leistungsanforderungen auseinanderzusetzen. In dieser Hinsicht erreicht in einigen Momenten das Reflexions- und Tarnungsniveau eines Judd Apatow.

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Ähnlich gefühls- und geschlechts(modell)verwirrt ist Marc (Hanno Koffler), der mit seinem Kollegen Kay (Max Riemelt als bleicher selbstzerstörerischer Verführer) eine homosexuelle Beziehung anfängt, derweil die Freundin (sehr gut: Katharina Schüttler) im engen Elternhaus von Marc schwanger ist. Pikant an der Liaison darüber hinaus: Marc und Kay sind beides Schutzpolizisten, und zwischen kernigen Kommentaren in der Gemeinschaftsdusche und Einsätzen in Körperpanzerung gegen Fußballrowdys ist derlei nicht nur trotz, sondern gerade wegen der weiblichen Kolleginnen (und ihren Hetero-Erwartungen) nicht sonderlich wohlgelitten. 

Sauber, auch ein wenig fernsehtauglich hat Stephan Lacant diese Geschichte mit dem Titel FREIER FALL (Reihe "Perspektiven Deutsches Kino") inszeniert und dabei ein Schicksal skizziert, das auch heute noch alles andere als alltäglich ist. Ungekünstelt sind die Dialoge, und das passt allein schon deshalb, weil wir Figuren zusehen, die gewöhnliche Normalität erleben, vortäuschen, wiederherstellen oder für sich selbst (er-)finden, zumindest erobern wollen. Auch Koffler ist eine gelungene Besetzung als Marc: Zum einen passt sein leicht dumpfes, wuchtiges Äußeres, seine Macher-Mimik und Arbeiter-Gestik – wie der Adam in W IMIĘ – wenig zum Stereotyp eines zärtlichen Schwulen, der sich diffizil mit seinem Inneren konfrontiert. Zum anderen ist es Kofflers Rollengeschichte als – natürlich bloß vordergründig - selbstverliebtes und gedankenflaches Macho-Großmaul mit dem Hang zum Affekt (zuletzt im bemerkenswerten TV-Film AUSLANDSEINSATZ), die hier einen gelungenen Hintergrund bildet. Freilich: als selbstsicherer Homosexueller war Koffler bereits auch schon zu sehen: 2004 in Marco Kreutzpaintners SOMMERSTURM ...

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Schließlich: Ulrich Seidl mit dem Abschluss seiner PARADIES-Trilogie, deren erster beiden Teile (PARADIES: LIEBE und PARADIES: GLAUBE) in Cannes und Venedig liefen. Nun also PARADIES: HOFFNUNG, in Berlin, und man kann hinsichtlich der überwiegend statischen, streng geometrisch ausgerichteten Bildern, in denen sich Menschen zum Affen machen oder zum Affen machen lassen, schon ein bißerl von einer Masche reden. Aber nachdem dieser Ansatz in LIEBE noch einen unguten Geschmack hatte, weil der Sextourismus älterer weißer Damen in Afrika an und für sich so schon etwas Groteske, Aberwitziges, mithin Traurig-Erbärmliches hatte, ohne dass es dazu noch die Seidlrismen gebraucht hätte, ist der außerirdische, so neutrale, distanzierte und darum so hundsgemeine Blick (den Seidl mit dem besseren Todd Solondz entfernt verwandt sein lässt) in HOFFNUNG ganz bei sich und am rechten Fleck. In einem Diät-Camp, das an ein Landschulheim aus den Spät-70ern mit Drillprogramm gemahnt, soll die 13-jährige Melanie (Melanie Lenz) zusammen mit anderen Adipositas-Jugendlichen überzählige Pfunde verlieren. Wobei sie sich in den Arzt vor Ort verliebt, der so prinzipiell der Aufmerksamkeit seiner liebesbedürftigen wie linkischen Verehrerin nicht abgeneigt scheint und sich gar zum einen oder anderen Doktorspiel hergibt.


Jeder mag sich selbst aussuchen, was er hier eher – wenn überhaupt was – angeprangert sieht: die Fettleibigkeit als Ausdruck einer generellen Modernitätstristesse oder das alberne müde, das aktionistische Streben gegen das Symptom, so wenn die pummeligen Jungen und Madel hintereinander weg durchs Bild beim Purzelbaum schlagen kugeln, marschieren oder „nordic walken“. Oder in Reihe an der Sprossenwand hängen wie arme Tröpfe. Egal, so schamlos und bitterböse darf man sich sonst wohl nirgends über dicke Kinder amüsieren, über intimen Erfahrungsaustausch in Sachen Sex von minderjährigen, pubertierenden Mädchen und sogar über eine (Beinah-?) Affäre eines Mitvierziger-Doktors in stets offenem Hemdkragen und feschen Jeans mit einer ebensolchen. Die Österreicher halt… Bei uns – und überhaupt, manch anderem außer Seidl –: ein Unding!

Aber weil das Lachen doch auch immer vom Publikum selbst gemacht ist und zumindest im Halse kratzt, so es dort nicht steckenbleibt, weil man Seidl vor allem jedoch eine Sympathie und seltene Offenheit gegenüber gerade seinen jüngeren Darstellern (bei denen einmal mehr die Grenze zwischen Rolle und Laiendarsteller-Person verwischt) zu attestieren ist: Deshalb ist PARADIES: HOFFNUNG unter der Firnis der Groteske ein bemerkenswert einfühlsames Stück. Eines, das nicht etwas – oder nur scheinbar – die zentralen jungen Figuren und ihre Akteure bloßstellt, sondern wenn jemanden, dann eigentlich den Zuschauer mit seinem geforderten Blick im Kinosessel selbst.


zyw

Stars auf der BERLINALE 2013

Morgen, am 7., beginnt die 63. Berliner Filmfestspiele, und um Ihnen eine wenig die Dimensionen dieses Weltereignisses zu verdeutlichen, hier die neben der prominenten Jury erwarteten Berühmtheiten und Stars laut ergänzter Berlinale Pressemitteilung:
Jane Fonda, Joseph Gordon-Levitt, Brigitte Lacombe, Isabella Rossellini, Maren Ade, Mario Adorf, Thomas Arslan, Emily Atef, Michael Ballhaus, Wolfgang Becker, Bibiana Beglau, Iris Berben, Senta Berger, Christian Berkel, Sebastian Blomberg, Hans-Christoph Blumenberg, Fred Breinersdorfer, Thomas Brussig, Christopher Buchholz, Inga Busch, Mareike Carrière, Didi Danquart, Pepe Danquart, Katja Eichinger, Nina Eichinger, Hannelore Elsner, Alexander Fehling, Veronica Ferres, Florian David Fitz, Inka Friedrich, Hans Fromm, Martina Gedeck, Hans W. Geißendörfer, Matthias Glasner, Frank Griebe, Valeska Grisebach, Michael Gwisdek, Fritzi Haberlandt, Hendrik Handloegten, Monika Hansen, Reinhard Hauff, Leander Haussmann, André M. Hennicke, Irm Hermann, Hannah Herzsprung, Sherry Hormann, Nina Hoss, Hermine Huntgeburth, Hannes Jaenicke, Vanessa Jopp, Daniel Kehlmann, Sibel Kekilli, Burghart Klaußner, Volker Koepp, Wolfgang Kohlhaase, David Kross, Steffi Kühnert, Günter Lamprecht, Alina Levshin, Dani Levy, Jan Josef Liefers, Peter Lohmeyer, Anna Loos-Liefers, Florian Lukas, Angelina Maccarone, Heike Makatsch, Pia Marais, Marie-Luise Marjan, Eva Mattes, Jeanine Meerapfel, Michael Mendl, Helke Misselwitz, Anna Maria Mühe, Harald Mühlbeyer, Ulrich Noethen, Christiane Paul, Franziska Petri, Nina Petri, Christian Petzold, Jürgen Prochnow, Katja Riemann, Max Riemelt, Oskar Roehler, Gernot Roll, Lars Rudolph, Udo Samel, Nesrin Samdereli, Yasemin Samdereli, Helma Sanders-Brahms, Katrin Sass, Andrea Sawatzki, Angela Schanelec, Tom Schilling, Hans-Christian Schmid, Maria Schrader, Rolf Schübel, Jessica Schwarz, Peter Sehr, Ulrich Seidl, Robert Stadlober, Ula Stöckl, Hannes Stöhr, Lena Stolze, Aylin Tezel, Anna Thalbach, Jördis Triebel, Elisabeth Trissenaar, Tom Tykwer, Nadja Uhl, Andres Veiel, Joseph Vilsmaier, Jürgen Vogel, Justus von Dohnányi, Vera von Lehndorff, Rosa von Praunheim, Mark Waschke, Hans Weingartner, Ina Weisse, Wim Wenders, Ronald Zehrfeld, Hanns Zischler, Bernd Zywietz.

Fragt sich nur, ob überhaupt soviel Platz ist auf dem roten Teppich.