Hof-Berichterstattung: Ein kleines bisschen Lou Castel

Nein: Lou Castel war als Schauspieler bisher nicht auf meiner filmischen Landkarte verzeichnet. Nun ist ihm in Hof eine kleine Retrospektive gewidmet. Gleich am ersten Tag, vor dem Eröffnungsfilm, als er zu einem kleinen Gruß die Bühne betrat, erzählte er, er könne nicht soviel lächeln: er habe seine Zähne in Paris vergessen, die müssten ihm erst noch nachgeschickt werden. Das allein macht ihn schon interessant.

Gestern also gleich zwei Castel-Filme, zwei frühe aus den 60ern: "I pugni in tasca" ("Die Fäuste in der Tasche", Italien 1965) und "Quien Sabe" ("Töte Amigo!", Italien 1966 - der hier wegen weniger Schnitten in der englischen Fassung "A Bullet for the General" lief). Später, so erklärte Castel, nach 1968, habe er sich verändert, in politischere, experimentellere Richtung - diese Entwicklung von Person und Schauspieler werde ich hier in Hof nicht mehr weiterverfolgen können, ich habe andere Filmverpflichtungen... aber schon diese beiden Filme zeigen seinen ganz eigenen Stil, expressionistisch und gleichzeitig internalisiert.

In "I pugni in tasca" spielt er den epileptischen Alessandro in einer völlig kaputten Familie, die Mutter blind, der jüngere Bruder leicht schwachsinnig, die Schwester das Liebesobjekt von Alessandro, nur Augusto, der älteste, ist halbwegs normal; naja: außer dass er die anderen gewähren lässt... Wenn die anderen klein bleiben, kann er sich als Boss aufspielen.
Alessandro jedenfalls hat irgendwann die Idee, dass alles besser wäre, wenn die anderen nicht da wären, und er führt sein privates Euthanasieprogramm durch.
Der Film von Marco Bellocchio ist sprunghaft, auch nicht ganz stringent, insgesamt auch recht anstrengend in seinem etwas forciert wirkendem Avantgardismus von Zeitsprüngen und surrealen Anordnungen. Mitunter ist das auch witzig - die stummen Abendessen voller vielsagender Blicke zum Beispiel -, doch vor allem ist der Film ein Paraderitt für Lou Castel - der hier sein Debüt abgibt. Changierend zwischen Normalität und komplettem Wahnsinn, angereichert mit Sozialscheu, inzestuösem Begehren und Unmoral und dabei doch immer wieder die Nettigkeit in Person: Alessandro taxiert den Wert von Menschen nach dem geldwerten Vorteil - und das auf eine fast kindlich naive Weise.

Das Geld: das ist der Fetisch in "Quien sabe", einem Italowestern von Damiano Damiani, in dem Lou Castel El Niño spielt, einen eleganten, jungen, freundlich scheinenden Mann mit einem Ziel. Den nur eines interessiert: Geld. Deshalb schleicht er sich mit Tricks in die Bande von El Chuncho ein, einer Rebellengruppe in der mexikanischen Revolution, die für General Elias bei den Regierungstruppen Gewehre klaut und vor allem hinter einem Maschinengewehr her ist. Dabei wird alles massakriert, was Uniform anhat, und die Gewehre gegen gute Goldpesos an Elias weitergereicht. Wieweit also ist es her mit El Chunchos Revolutionsgesinnung, wenn er brutalem Sadismus nachgeht und zugleich nach Geld giert? Gleichzeitig aber hilft die El Chuncho-Gruppe den Armen, wo es geht - und das ist meistens ebenfalls hasserfüllte Gewalt gegen die Reichen... Und: El Chunchos Bruder wird von Klaus Kinski gespielt, eine kleine Rolle zwar nur, aber wichtig: er ist ein Priester, der alle Untaten als gottgewollt ansieht, weil sie sie nur aus übergroßer Liebe begehen? "Ist er verrückt?", fragt El Niño einmal, und vielleicht hat er recht.
Er selbst ist nicht verrückt. Nur: er ist Amerikaner, und das bedeutet: Geldgier ohne jede Moral - wo El Chuncho wenigstens noch auf einer Seite steht, kümmert sich El Niño um niemanden als sich selbst. Und er weiß andere zu manipulieren...

"Quien sabe" ist ein Top-Italowestern, mit allem, was dazu nötig ist. Und es ist ein Kriegsfilm. Und in der Tat ein Revolutionsfilm: der nämlich wirklich die Verhältnisse kritisiert, auf der Genre-Schiene, und offenbar nicht einfach nur Reflexe populistisch-exploitativ aufbereitet. Die Macht, die Korrumpierbarkeit, die Frage nach Moral und Geld und nach der verlorengegangenen Menschlichkeit, und das Fazit des Films, die letzten Worte vor El Chunchos (vermutlichem) Tod zu einem Bettler, dem er ein paar seiner Goldmünzen gegeben hat: "Don't buy bread with that money! Buy dynamite!"

Harald Mühlbeyer