In unserem Inneren eine Insel voll Monster - "Wo die wilden Kerle wohnen"

von Elisabeth Maurer

"Wo die wilden Kerle wohnen" / "Where The Wild Things Are"
Regie: Spike Jonze. Drehbuch: Spike Jonze, Dave Eggers. Kamera: Lance Acord
Musik: Karen O, Carter Burwell. Produzenten: Tom Hanks, Gary Goetzman, John Carls, Maurice Sendak, Vincent Landay.
Darsteller: Max Records, Catherine Keener, Mark Ruffalo.
Verleih: Warner Bros.
Laufzeit: 101 min
Start: 17.12.2009

Basierend auf dem 1963 erschienen Bilderbuch von Maurice Sendak erzählt Spike Jonze in seinem dritten Film nach „Being John Malkovich“ und „Adaptation“ von dem Jungen Max (Max Records), der die meiste Zeit alleine spielen muss, weil seine ältere Schwester sich lieber mit Freunden trifft und die alleinerziehende Mutter (Catherine Keener) zu sehr durch ihre Arbeit eingespannt ist. Der ungestüme Junge bricht oft in wildes Toben aus, wenn er zu wenig Aufmerksamkeit bekommt oder wegen irgendetwas zornig ist. Kurz darauf aber weint er, das bereuend, was er in Rage getan hat. In einem besonders heftigen Wutanfall, nachdem er seine Mutter mit ihrem neuen Freund gesehen hat, beißt er sie sogar und stürmt mitten in der Nacht in seinem Wolfskostüm aus dem Haus.

Als er sich in einem Gebüsch versteckt, liegt plötzlich ein Wald vor ihm und nach kurzer Zeit gelangt er zu dem Ufer eines Meeres. Mit einem kleinen Segelboot fährt Max hinaus und kommt bei stürmischer See an einer Insel an. An Land trifft er auf sehr große, pelzige Monster. Diese zunächst etwas angsteinflößenden Kreaturen erweisen sich als eine Gruppe von Freunden, die gerne wilden Unfug treiben, aber trotzdem friedlich zusammenleben wollen. Weil das oft nicht so gut klappt, ernennen sie Max zu ihrem König, denn er kann ihnen versichern, dass er besondere Fähigkeiten hat. Schnell freundet er sich mit den wilden Kerlen an, vor allem mit Carol und dessen liebster Freundin KW. Alle schätzen Max, denn er ist ebenso wild wie sie und hat viele Ideen zum Toben, wie zum Beispiel eine Dreckklumpenschlacht oder das Bauen eines großen Forts, in dem alle zusammen leben können. Doch bald entstehen Konflikte in der Gruppe und Max muss einsehen, dass er das Leben der Monster nicht so einfach zum Besseren wenden kann. Er lernt auch langsam, sich in andere einzufühlen, besonders in seine Mutter. Daher verlässt er die Insel und die wilden Kerle wieder und kehrt zu ihr nach Hause zurück.

Der Beginn des Films offenbart sofort sein Wesen: Max jagt in seinem Wolfskostüm durchs ganze Haus hinter seinem kleinen Hund her, bellt und tobt und schnappt schließlich das leicht eingeschüchterte Tier, um mit ihm zu raufen. Dabei verfolgt ihn dicht die Handkamera. Jonze bleibt immer ganz nah bei seinem Hauptcharakter, bewegt sich immer mit ihm und scheint versessen darauf zu sein, durch die Geräusche, durch den Verzicht auf eine dauernde Musikuntermalung, durch nicht auffällig bearbeitete Bilder, die Geschichte so realistisch wie möglich erscheinen zu lassen, damit sich der Zuschauer wirklich in das Kind einfühlen kann. Läuft Max mit Schneebällen bepackt über die Straße, weiß jeder wieder, wie es ist, in einem schon lang durchnässten Schneeanzug durch den Schnee zu stapfen, am Bordstein auszurutschen und gleich wieder aufzustehen um völlig gedankenlos mit Schneebällen um sich zu werfen und dabei den größten Spaß zu haben.

Auch die Monster wurden so gestaltet, dass immer klar ist, wie sich ihre Gegenwart anfühlt. So wurde entschieden, die Monster nicht ausschließlich im Computer entstehen zu lassen. Beim Dreh spielte der junge Max Records mit echten Schauspielern in riesigen, mühsam gefertigten Fellkostümen. So kann auch der Zuschauer ihre Größe und ihr weiches Fell fühlen. Die Kombination aus echten Kostümen und Computeranimation für die Feinheiten der Mimik der Monster erschafft wie bisher selten oder sogar nie im Kino gesehen Phantasiewesen, die gar nicht künstlich wirken.

Es dürfte selbst dem jüngsten Publikum klar sein, dass Max nicht wirklich auf eine Insel fährt, sondern es sich dabei um Phantasie oder Traum des Jungen handelt. Ohne, dass der Film es irgendwie erklärt, einfach durch seine realistische Exposition und die klaren Bezüge der Phantasieinsel zu Max wirklichem Leben wird dies offensichtlich. Denn die Konflikte innerhalb der Freundesgruppe spiegeln Probleme wieder, mit denen Max täglich zu kämpfen hat. Intelligent konstruiert stehen die einzelnen Monster für verschiedene Seiten seiner Persönlichkeit und gleichzeitig auch für die Menschen aus seiner Umgebung – ohne sich eindeutig festlegen zu lassen, ohne die Realität platt plakativ zu spiegeln.

Das weibliche Monster KW spiegelt in ihrem Wunsch nach Ausbruch aus der Gruppe und ihrer Suche nach neuen Freunden Max pubertierende Schwester. Andererseits stellt sie für ihn eindeutig auch eine Mutterfigur dar, die ihn zaghaft und liebevoll bei seiner Entwicklung als König der Gruppe anleitet. Sein bester Freund unter den Monstern, Carol, der wildeste unter allen, ist ein Exponent für Max aufbrausende Natur. Dadurch, dass er den anderen versucht, Carols Verhalten zu erklären, versteht er selbst seine eigene Persönlichkeit besser und lernt langsam, sich auch in andere hineinzuversetzen und seine Handlungen aus deren Perspektive zu sehen. Der Aufenthalt auf der Insel ist Max’ Aufbruch in ein erwachseneres Leben. Natürlich bleibt er weiter Kind, aber auf eine verantwortungsbewußtere und rücksichtsvollere Art. Dies zeigen die letzten Bilder des Films. Max’ Mutter ist froh, dass ihr Kind wieder zurück ist und macht ihm Abendessen. Noch am Tisch fallen der erschöpften Frau die Augen zu und Max wird nicht zornig, weil sie ihn nicht genügend beachtet. Ihr Sohn sieht sie einfach an und in seinen Augen steht Liebe und Verständnis.

Besonders an der Geschichte ist auch, dass Max sich zwar mit allen Monstern aussöhnt, bevor er sie auf der Insel zurücklässt, ihre Probleme aber auch nicht aus der Welt schaffen kann. Hier steht die Erkenntnis, dass es im Leben immer Konflikte geben wird, nie jeder mit allem zufrieden sein wird, ein jeder andere manchmal verletzen muss und zwangsläufig auch Verletzungen erleiden wird. Es ist eine der schwierigsten Herausforderungen des Erwachsenwerdens, zu akzeptieren, dass Kummer hingenommen werden muss, dass Veränderungen notwendig sind und auch vor der eigenen Familie nicht halt machen.

Somit verwandelt Jonze die außergewöhnliche Geschichte über einen wilden Jungen in einen Film über die Kindheit und die Probleme eines jeden Kindes auf dem Weg zum besseren Verständnis der eigenen Gefühle und der Menschen um es herum. Dies alles ohne den Eindruck einer Lehrstunde zu erwecken, was leider zu oft den Spaß an anderen (Kinder-)Filmen verdirbt. Die kindliche Psyche und ihre Verarbeitung des Lebens wird durch die Monsterinsel und durch die Charaktere der wilden Kerle verbildlicht, und dies geschieht keineswegs oberflächlich. Dass die Geschichte dennoch nicht kompliziert oder langweilig wird, liegt an der starken Identifikation mit Max und den Erinnerungen, die er bei den Zuschauern weckt. Zu erwähnen ist, dass die Stimmung des Films, die ausgelassene Fröhlichkeit Max und die Schönheit der Kindheit auch durch die Musik von Karen O und Carter Burwell unterstrichen wird. Besonders der Song „All is Love“, der die Szenen der durch den Wald tollenden Freunde untermalt, bleibt im Gedächtnis.

Für den erwachsenen Zuschauer erhält der Film zusätzlich Sympathie durch die Tatsache, dass er sich, obschon die Monster durchaus auch niedlich sind, weniger wie andere Kinderbuchverfilmungen der letzten Jahre eignet, um ihn zu einem großen Merchandisinggeschäft auszubauen. Zwar hat das Kinderbuch weltweit viele Fans, doch ist der Film in seinem Stil zu wenig kitschig, das große Projekt wirkt doch auch wie ein Independentfilm. Vielleicht zeichnet sich hier ein Problem ab, das der Film bei einem jungen Publikum haben könnte. Denn viele Kinder erleben ihre Kindheit heute anders als hier dargestellt. Weder flüchtet Max sich in Computerspiele oder Fernsehsendungen, wenn er zu Hause Schwierigkeiten hat, sein Leben spielt sich hauptsächlich draußen ab. Daher ist seine Phantasiewelt dann auch ein Wald, er wünscht sich Matsch und baut Hütten aus Holz. Es ist zu befürchten, daß einige junge Zuschauer dies nicht als zeitgemäß ansehen, weil es zu weit von ihrem realen Leben entfernt ist. Darunter könnte die eigentlich realistische Stimmung des Films leiden und es erschweren, dass sich die Zuschauer in Max einfühlen. Vielleicht funktioniert „Wo die wilden Kerle wohnen“ daher hauptsächlich eben für ein erwachsenes Publikum, das einen Blick zurück in ihre eigene Kindheit werfen möchte.