Vom Leben in und mit Begriffen – Das ABC nach Gilles Deleuze






„Mich dagegen interessieren Begriffe. Mir scheint, dass Begriffe für sich selbst existieren und eine Art Eigenleben haben. Sie sind wie unsichtbare Geschöpfe. Aber das heißt auch, dass man sie erschaffen muss. Ich glaube, dass die Philosophie eine schöpferische Kunst ist, nicht weniger als Malerei oder Musik: sie erschafft Begriffe.“
(Gilles Deleuze)

Als sich im Winter 1988 im Erdgeschoss eines Gebäudes in der Rue de Bizerte im 17. Arrondissement von Paris eine junge Journalistin, ein Dokumentarfilmer und drei Techniker (Kamera, Ton, Licht) einfinden, um mehrere Stunden lang einem distinguierten, ergrauten Herrn in einem rosafarbenen Shetland-Pullover zu lauschen, zu versuchen, den Bewegungen seines Denkens mit allen Sinnen zu folgen und dies für die Nachwelt festzuhalten, sind sich alle bewusst, dass sie (TV-)Geschichte schreiben werden. Eine Geschichte, deren Ereignishaftigkeit aber eher in dem Was als in dem Wie begründet liegt.
Nachdem die Idee schon gute zwanzig Jahre im Raum schwebte, war es Claire Parnet (die Journalistin) und Pierre-André Boutang (der Regisseur) endlich gelungen, einen der originellsten Denker des 20. Jahrhunderts, den Philosophen Gilles Deleuze, dazu zu überreden, sich dem Blick der Kamera auszuliefern, das eigene, bewegte Abbild dem 16mm-Filmstreifen anzuvertrauen. Bedingung allerdings: dass die Aufnahmen erst nach seinem Tode den Blicken der (TV-)Öffentlichkeit preisgegeben werden.

Nachdem Deleuze sich jahrelang hartnäckig jedem Fernsehgespräch verweigert hatte, war klar, dass dieses späte, einem Wunder gleichende Einverständnis konzeptuell honoriert werden musste. Mit dem Vorsatz, „Deleuzianische Begriffe mit Biographemen von Deleuze zu kreuzen“, wie sie es Jahre später in einem (auszugsweise im Booklet abgedruckten) Gespräch formuliert, schuf Claire Parnet schließlich die strukturelle Grundlage für das siebeneinhalbstündige Dokument, das nun unter dem Titel „ABÉCÉDAIRE - Gilles Deleuze von A bis Z“ von absolut MEDIEN in Koproduktion mit Zweitausendeins auf drei DVDs veröffentlicht worden ist. Und dieses „Abécédaire“, diese bewegt-bewegende Fibel entpuppt sich tatsächlich als das: als Einstieg in das (Wieder-)Lesen von Deleuze, als audio-visuelles Lernbuch für Deleuze-Anfänger und Fortgeschrittene, das in erstaunlicher Klarheit die wesentlichen Begriffe, oder mit einem Deleuze’schen Neologismus: die Begriffspersonen des französischen Poststrukturalisten zu neuem Leben erweckt.

Von „A wie Animal“ über „B wie Boisson“ und „C wie Culture“ bis zu „Z wie Zigzag“ – jeder Begriff, mit dem Claire Parnet, ehemalige Studentin und später gute Freundin von Deleuze, ihren Mentor konfrontiert, gibt den Anstoß für eine Reise, die sich vielleicht am besten mit den Worten Arnaud Villanis beschreiben lässt, die dieser über ein – in Anspruch und Tragweite – wahrhaft ungeheures Unterfangen in Buchform formuliert hat, das Deleuze zusammen mit Félix Guattari 1980 veröffentlicht hat: „Von Tausend Plateaus sprechen, heißt auf […] ein Abecedarium nach Art einer Fibel, einen Almanach voller Anspielungen, Kniffe, neuer Gedanken und Wendungen hinweisen. Tausend Plateaus lesen, heißt sich in ein Labyrinth begeben und unbekannten Meridianen folgen.“ Auch das ABÉCÉDAIRE sehen/hören heißt: sich in ein Labyrinth, eine babylonische Bibliothek zu begeben, unbekannten Meridianen zu folgen, sich einem „Almanach voller Anspielungen, Kniffe, neuer Gedanken und Wendungen“ gegenüber zu stellen.

Und doch: niemals scheint Deleuze die Orientierung zu verlieren, sich ins Ungefähre oder gar Gefällige zu flüchten. Mit bewundernswerter Prägnanz reiht er, einem Ariadnefaden gleich, Gedanken um Gedanken aneinander, um souverän durch das selbstgeschaffene Labyrinth zu führen. Ein Labyrinth, das mit seinen vielfältigen Fluchtlinien, Ein- und Ausgängen, seinem Prinzip der Konnexion und der Heterogenität mehr und mehr selbst die Form eines Rhizoms aufzuweisen scheint –auch einer dieser zentralen Deleuze/Guattari-Begriffe: „Ein Rhizom hat weder Anfang noch Ende, es ist immer in der Mitte, zwischen den Dingen, ein Zwischenstück, Intermezzo“ (Tausend Plateaus).

Deleuze, der sich selbst einmal als Fels bezeichnet hat, der allenfalls innere Bewegungen vollziehe, lässt sich sogar von den materialbedingten Unterbrechungen (alle etwa 11 Minuten ist ein Rollenwechsel nötig, der durch das Klatschen Boutangs, das jeden neuen Take einleitet, abgeschlossen wird) niemals aus dem Konzept bringen – eine Art akademischer Gelassenheit, die er sich in den turbulenten Jahren als Dozent an der Université Paris 8 in Vincennes angeeignet haben mag. Der Kamera scheint ganz darauf aus zu sein, diesen inneren Bewegungen zu folgen, genauer: den Bewegungen, wie sie im Gesicht, den Gesten, den Händen mit den berühmten Deleuze-Nägeln ihr Echo finden, äußerliche, physische Bewegung werden. Zuweilen, wenn auch selten nimmt sie zu Beginn eines neuen Takes die Züge von Parnet in den Blick, die sich im Spiegel im Hintergrund abzeichnen, um sogleich zu Deleuze zurückzukehren, mal Distanz wahrend, mal zögerlich die Nähe suchend. Die Nähe dieses doch schon von Alter und Krankheit gezeichneten Mannes (wenige Jahre später wird er sich in dieser Wohnung das Leben nehmen), dessen Blick von einer Seite zur anderen wandert, kurz die Augen seines Gegenübers, niemals aber das Auge der Kamera fixiert.

Und tatsächlich: In diesem Zusammenwirken von theoretischen Reflexionen und kostbaren biographischen Notizen (denen er jedoch konsequent jeglichen Wert abspricht, wie allem Privaten, das nur ins Mittelmaß führe, in der Literatur wie in der Kunst allgemein) glaubt man endlich zu begreifen, was Deleuze damit meint, wenn er davon spricht, dass das Denken den Denker quasi aufsucht, sich ein Gefäß, eine Hülle sucht, um sich entfalten zu können. So wie es sich Ende der Sechziger Deleuze und Guattari gesucht und zu Freunden gemacht hat, damit diese kurze Zeit später mit ihrem „Anti-Ödipus“ dem Familialismus der Psychoanalyse, der das Unbewusste unter das ödipale Dogma, die Trias aus Vater, Mutter und Kind zwingt, den Kampf ansagen, um den Wünschen, dem Begehren ein freies Spiel zu ermöglichen. Oder wenn er das Konzept der absoluten Territorien, der Deterritorialisierungen und Reterritorialisierungen des Denkens aus der Ethologie herleitet. Oder was es mit dem Begriff des Werdens auf sich hat, der einem immer wieder, in allerlei Komposita begegnet: Tier-Werden, Kind-Werden, Sprache-Werden, etc. Was es heißt, diese Sprache bis an die Grenze zu führen, wo sie zu stottern beginnt. Oder…

Und ja: es ist auch verdammt unterhaltsam, diesem regen alten Mann, der mit übereinander geschlagenen Beinen in diesen gutbürgerlich anmutenden Räumlichkeiten sitzt, in denen er viele Jahre „auf der Lauer lag“ (Claire Parnet) und etwa wenige Jahre zuvor seine epochale, zweibändige Taxonomie des Films („Cinéma 1“ und „Cinéma 2“) verfasst hat, zuzusehen und zu hören, wie er mit leicht metallischer Stimme über die Bedeutung des letzten Glases für den Alkoholiker oder über das Wesen der Zecke philosophiert, wie er seiner Leidenschaft für Tennis, Kochsendungen und (man staune!) Benny Hill offenbart – oder sich über die Intellektuellen (zu denen er sich nicht zählt) mokiert, die immer und überall über alles reden und reden. Wie etwa Eco: „Was man auch fragt: Volltreffer! Als wenn man auf so ein Dingsda drückt…“

Zu den technischen Details: das Material kann seine Bestimmung für die Fernsehausstrahlung nicht verhehlen (tatsächlich ist es bereits buchstabenweise auf arte ausgestrahlt worden, nachdem Deleuze sich mit dem Gedanken anfreunden konnte, sich bereits zu Lebzeiten wie der Held eines Fortsetzungsromans im TV wöchentlich wiederkehren zu sehen), aber: who cares? Zusätzlich zu den sorgfältigen deutschen Untertiteln findet sich auf den DVDs eine ansprechende, von Hanns Zischler und Antonia von Schöning gesprochene Voice-over-Tonspur. Die von Valeska Bertoncini und Martin Weinmann besorgte erste deutsche Edition verfügt zudem über ein deleuzianisch-rhizomatisch angelegtes Booklet mit zahlreichen Querverweisen und Vernetzungen, die, mit der entsprechenden Ernsthaftigkeit verfolgt, womöglich ein ganzes Hochschulstudium ersetzen könnten.

von Christian Moises

„ABÉCÉDAIRE – Gilles Deleuze von A bis Z“
Ein Film von Pierre-André Boutang. Konzeption und Interview: Claire Parnet.
3 DVDs im Digipack, codefree, PAL, Farbe, 453 Min.
Französische OF, deutsche Untertitel (optional), deutsches Voice-over (optional).
64stg. Booklet.
Eine Koproduktion mit Zweitausendeins,
hrsg. von Valeska Bertoncini und Martin Weinmann.


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