DVD: „Gimme Shelter“ - Steinlawine

USA 1970. Regie: David und Albert Maysles, Charlotte Zwerin.



1969 waren die Rolling Stones auf ihrem Höhepunkt, das Live-Album „Get Yer Ya-Ya’s Out“ legt davon ebenso Zeugnis ab wie das grandiose aktuelle Album „Let It Bleed“; und während der US-Tounee im Spätherbst arbeiteten sie schon an Songs für den Klassiker „Sticky Fingers“. Sie waren auf der Höhe – obwohl es eigentlich ein schlechtes Jahr für sie war, sie hatten sich im Frühsommer von Gründervater Brian Jones getrennt, der wenige Wochen später in seinem Pool ertrunken ist; und das Jahr endete am 6. Dezember mit dem Free Concert auf dem Altamont Speedway, das als B-Seite von Woodstock symbolisch das Ende von Love, Peace and Happiness beschloss: mit dem Tod des 18jährigen Schwarzen Meredith Hunter, erstochen von einem Hell’s Angel.

Die US-Tour der Stones wurde begleitet von den Kameras der Brüder David und Albert Maysles, sie wollten einen Konzert- und Tourneefilm drehen, ähnlich wie ihren „The Beatles in the USA“-Film von 1964. Sie drehten Material bei den drei Madison-Square-Garden-Konzerten vom 27. und 28. November, begleiteten die Stones auf der Reise quer durch die USA nach Kalifornien, beobachteten die kurzfristigen, chaotischen Organisationsarbeiten für das geplante Gratiskonzert; und sie waren dann in Altamont dabei. In der Postproduktion kam Charlotten Zwerin dazu, die Co-Regisseurin – sie entwarf im Schnitt das dramaturgische Konzept des Films, das Konzept, das „Gimme Shelter“ zu einem ganz herausragenden Vertreter des Musikfilmgenres macht.

Denn „Gimme Shelter“ fährt auf ganz raffinierte Weise auf zwei Schienen, die in entgegengesetzte Richtungen laufen. Da ist einmal die Tournee-Schiene: Die Stones unterwegs, durchsetzt mit Konzertausschnitten, Hotelszenen, Sequenzen in Tonstudios mit „Wild Horses“ – das ist der Rolling-Stones-Truck in voller Fahrt voraus. Und da ist die Trauma-Schiene, das dicke Ende von Altamont, das den Film von seinem Ende her überschattet, das als Menetekel immer ins Filmbild mit eingeschrieben ist. Zwerin durchsetzt den Film mit Einsprengseln, wie die Stones-Mitglieder im Schneideraum Teile einer Vorab-Schnittfassung von „Gimme Shelter“ sehen – im Film wird der Film selbst gesichtet. Die Stones beobachten sich selbst in Live-Aktion, und was in Altamont passiert ist. Altamont, der große Schock, der für die Stones, für die Filmemacher, für die Zuschauer immer präsent ist, weil hier ganz offensichtlich etwas zu Ende ging. Den Stones (und den Filmzuschauern) wird auch eine Radiosendung vorgespielt, in der sich der Hell’s-Angels-Führer Sonny Barger zu Wort meldet – mit ihm und seiner Truppe war drei Jahre zuvor auch Hunter S. Thompson als embedded journalist gefahren und hat ein Reportagebuch über die Motorradrockerszene verfasst – und er wird zwei Jahre später einen weiteren, einen definitiven Abgesang auf Hippieträume und Flowerpower-Jahre verfassen mit „Fear and Loathing in Las Vegas“.

In Altamont waren die Hell’s Angels als Ordner eingestellt, was sich als fatal erweisen sollte. Denn sie machten selbst Stress, wollten Party, wie sie es verstehen – und das heißt Spaß mit Aggression, und das bedeutete das Aufschwingen von sehr, sehr schlechten Vibrationen zwischen vollkommen zugedröhntem Hippie- und Gegenkulturpublikum und den Angels, die mit ihren Billardstöcken nicht gerade für Ruhe sorgten. Provokation und Gegenprovokation – und zwischendurch schlugen sie auf der Bühne „Jefferson Airplane“-Gitarrist Martin Balin zusammen.
Sie prügelten das umnebelte Publikum von der Bühne weg, wenn es zu nahe kam – statt erstmal freundlich für Ordnung zu sorgen. Offensichtlich gab es nur eine vage Tätigkeitsbeschreibung, Sonny Barger erklärt im Radiointerview, sprich: im Film, man habe ihnen gesagt, sie sollten auf der Bühne sitzen, bisschen aufpassen, und bekämen dafür uneingeschränkt Bier... im übrigen wollten sie auch ihren Spaß!
Und im Audiokommentar der DVD beschreibt Stanley Goldstein, Ton-Verantwortlicher, Produktionsassistent, Organisationstalent und Mädchen für alles bei „Gimme Shelter“, dass der Stones-Tour-Manager die Londoner Hell’s Angels kannte, die beim Free Concert im Hyde Park im Juli des Jahres als Ordner fungierten – aber die kalifornischen Rocker sind eben ein ganz anderes Kaliber. Interkulturelles Missverständnis also, und zudem gab es ohnehin an der Westküste das unausgesprochene Gesetz, dass den Angels der Bühnenbereich bei ungefähr allen Rockkonzerten gehörte – wer sich in ihren Bereich begab, tat dies auf eigene Gefahr. Und nun, so Goldstein, sei dieser Bereich erweitert und legitimisiert worden, und die Angels machten davon natürlich Gebrauch.

Sind sie dafür zu verurteilen? Sind sie schuld? Oder war es nur eine Verkettung unglücklicher Umstände, die falsche Einschätzung der Situation von Seiten der Briten, die aufgeputschte Menge, die aggressiven Angels, denen eine Art Freibrief ausgestellt wurde? Ja, man sieht im Film, wie einer der Angels den jungen Schwarzen Meredith Hunter vor der Bühne, nach „Under My Thumb“, ersticht. Man sieht aber auch, in der Zeitlupe, dass Hunter eine Pistole in der Hand hatte. Wollte er sich gegen die Prügel-Rocker wehren? Wollte er jemanden killen? Oder war er nur stoned und hatte wie ungefähr jeder gute Amerikaner seine Waffe dabei? Auch nach dem Film bleibt stets eine Ambivalenz der wirklichen Ereignisse, der tatsächlichen Ursachen, der wahren Hintergründe – den Stones, die am Schneidetisch den Altamont-(Vor)Fall betrachten, wurde in Kritiken immer wieder auch Gefühlskälte, Kaltblütigkeit nachgesagt; was man nachvollziehen kann, obwohl ich ganz im Gegenteil aus ihren Mienen Betroffenheit und Aufgewühltheit zu erkennen glaube…

Schon am Anfang des Films, bei der eingespielten Radiosendung, ist die Bilanz zu hören: Vier Tote, vier Geburten in Altamont. Und so, wie sich dieses Nullsummenspiel die Balance hält, wie sich die Bewertungen der Ereignisse in verschiedene Richtungen ausbreiten, um sich letztendlich wieder im Gleichgewicht zu treffen, so hält auch der Film selbst immer die Waage zwischen der Erschütterung durch den Meredith-Hunter-Tod in Altamont, die der Film dokumentiert, die er reflektiert, die ihn auch offenkundig selbst betrifft und bedingt, und zwischen einer huldigenden Feier der Rolling Stones, ihrer grandiosen Live-Performance, die er in mehreren voll ausgespielten Songs zelebriert. In etwas anderer, wohl reinerer Abmischung als auf dem „Get Yer Ya-Ya’s Out“-Album, für das im Nachhinein im Studio noch ein paar Overdubs eingespielt wurden.

Das sind die Stones pur, das ist vor allem Mick Jagger pur, der da mit dem Publikum spielt, die Songs auf der Bühne auslebt, der sich wechselweise als Marktschreier, als Zeremonienmeister, als Negermama und aufgeplusterter Gockel geriert, der Mimik und Gestik zu seinen Auftritten so sehr verinnerlicht hat, dass diese Manierismen – die schon Meta-Manierismen sind – auch rauskommen, wenn im Hotelzimmer ein paar Takte von „Brown Sugar“ aus der Stereoanlage kommen: da schlägt er mit den Ellenbogen wie ein balzender Auerhahn, für seine Stones-Kollegen, für die Kamera, für sich selbst.
Grandios die Bewegungsstudien, die die Maysles-Brüder mit ihren vielen Kameras anstellen in perfekten Bildausschnitten, in Zooms und Schwenks, die genau auf den Punkt treffen; im übrigen auch perfekt geschnitten, die Konzertaufnahmen wie der gesamte Film. (Dessen letzte halbe Stunde, das Altamont-Segment, sollte jedem Filmstudenten als Musterbeispiel filmischer Montage zur eingehenden Analyse zwangsauferlegt werden.)

Zu einem Slow Blues, zu „Love In Vain“, schaltet der Film dann auch weg vom cinema-verité-Stil der direkten dokumentarischen Ansicht des Stones-Konzerts, da geht er weg von der naturalistischen Bewegungsbetrachtung und hinein in die Zeitlupe – eine unglaublich schöne, fast feierliche, verherrlichende Studie des Jagger als Mann voll Saft und Kraft. Das Gegenstück zu dieser Sequenz dann, ein weiterer Höhepunkt des Films: Tina Turner, als supporting act bei den Konzerten, singt „I’ve Been Loving You Too Long“, beziehungsweise nein: eigentlich gibt sie dem Mikrophon einen Blow Job.

Die DVD ist mit Bonusmaterial reich ausgestattet: Neben einem Audiokommentar mit Albert Maysles, Charlotte Zwerin und Stanley Goldstein gibt es Backstage-Szenen mit den Rolling Stones vom Madison Sqare Garden, eine Rockradio-Sendung über Altamont und ein Booklet mit hochinteressanten Essays zum Film, zu den Stones, zu Altamont.



von Harald Mühlbeyer



USA 1970. Regie: David und Albert Maysles, Charlotte Zwerin.
Mit: The Rolling Stones (Mick Jagger, Keith Richards, Mick Taylor, Charlie Watts, Bill Wyman).
Extras: Audiokommentar, Backstage-Szenen, Radiosendung, Trailer, Booklet.
Länge: 88 Minuten.
Anbieter: Warner.


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