Hofer Filmtage: "Black Swan", "Poll"

Eine unschuldige Prinzessin ist in einem schwanenschönen Körper gefangen, doch Freiheit kann sie nur durch die reine Liebe erlangen. Diese Liebe verspricht ihr ein Prinz, doch es gibt eine Konkurrentin um seine Gunst: der böse Zwilling der Prinzessin narrt ihn, entlockt ihm ebenfalls ein Liebesgeständnis, und die Rivalität der Ebenbürtigen führt zur Katastrophe.

Darren Aronofsky hat Tschaikowskis "Schwanensee"-Ballett verfilmt, verlegt in das Milieu der "Schwanensee"-Produktion einer Ballettcompagnie: es ist der Film, der die Hofer Filmtage rechtfertigt, die bisher eher durchwachsen, wenig prickelnd waren. Die Erwartung war groß: nichts anderes als ein Meisterwerk musste dies sein. Und die Erwartungen wurden vollends erfüllt.
Natalie Portman als Ballerina ist erwählt, die Hauptrolle des Weißen und Schwarzen Schwanes in einer Neuinszenierung von "Schwanensee" zu spielen, sie ist Konkurrenzdruck ausgesetzt und dem Druck ihrer Mutter, des Ballettdirektors, ihrer selbst. Den Weißen Schwan tanzt sie perfekt; für den Schwarzen Schwan muss sie lernen, die Kontrolle zu verlieren, sich gehen zu lassen, zu verführen, sich selbst und alle anderen zu überraschen, technische Perfektion muss zu Genialität werden.

Aronofsky ist, das beweist sich hier, der beste zeitgenössische Regisseur, den man sich denken kann. Eine emotionalisierende, spannende, verstörende und packende Handlung wird in mehreren Ebenen erzählt, kleine Irritationsmomente wachsen sich zu phantastisch anmutendem Psychohorror aus, die Darsteller bringen Höchstleistungen, jedes Detail ist stimmig, alltäglich und zugleich hochsymbolisch, die handwerkliche Arbeit im Ballett wird fast dokumentarisch eingefangen und zugleich metaphysisch transzendiert, Wahrhaftigkeit und Glaubhaftigkeit gehen einher mit dem Auflösen von Realität, Körperlichkeit, psychischer und mentaler Leistung; und der Zuschauer antwortet unmittelbar emotional auf die Leinwand: das Schneiden von Fingernägeln wird zu Tortur.
Ich selbst wurde unheimlich gepackt, meinen Sitznachbarn ging es ebenso, das Zusammenzucken, das Mitgerissensein... das war etwas anderes wie am Vortag, wo in zwei verschiedenen Filmen zwei verschiedene Menschen neben mir nonchalant zu schnarchen anfingen.

Nein: eigentlich kann ich nicht über ein vollendetes Meisterwerk sprechen, hier in diesem lächerlichen, kleinen, völlig unangemessenen Blog. Man sollte vielleicht wieder herunterkommen ins Alltagsgeschäft von Hof, oder sagen wir: von Poll in Estland.

"Poll" ist der neue Film von Chris Kraus, mit dem weitgehend selben Team wie sein überwältigender Erfolg "Vier Minuten" gedreht, frei erzählt nach der wahren Geschichte einer Verwandten von ihm, der Lyrikerin Oda Schaefer. Die kommt als 14jährige im Jahr 1914 nach Estland, wo ihr Vater als Baron residiert und als geschasster Professor in seinem Privatlaboratorium anatomische Studien an den Leichen estischer Anarchisten betreibt, die von den Russen erschossen und an ihn verkauft wurden. Oda nun findet einen versteckten Anarchisten, pflegt ihn, lernt von ihm die Grundzüge literarischen Erzählens, will ihm bei der Flucht helfen und von ihm mitgenommen werden.

Mehr geschieht nicht. 133 Minuten lang. Viel zu lang. Der Film hat quasi keine Handlung, keine, die über zwei Stunden rechtfertigen würde; und an Spannung mangelt es eklatant. Nie ist Oda mit ihrem Geheimnis in Gefahr, entdeckt zu werden. Lange weiß man ohnehin gar nicht, worum es eigentlich geht; und als sich dann die leise Story herausschält, fragt man sich, ob das schon alles ist. Es ist.

Man hätte aus dem Material viel mehr machen können; hätte mehr Suspense - die über emotionale Entfremdungen hinausgeht - einbauen können, hätte aus den einquartierten russischen Soldaten mehr machen können als reine Staffage, hätte vielleicht gar ein scharfes, pointiertes Zeitbild des Estland in den Tagen vor dem Ersten Weltkrieg zeichnen können, wo Russen und Deutsche gemeinsam die Esten unterdrückten - die vielfältigen politischen, gegnerischen, revolutionären Spannungen aus dieser Konstellation entfalten sich nie. Wenn es einmal zum Baron heißt, nicht die Anarchisten, sondern Leute wie er seien der Grund für die kommende Revolution, bleibt das Behauptung, der Film ergeht sich in einem Familiendrama, Politik und Historie laufen nebenher. Man hätte von Kraus, der mit "Vier Minuten" großes Erzählkino geschaffen hat, erwarten können, dass er sein Drehbuch etwas öfter überarbeitet, etwas mehr kürzt. Immerhin sieht der Film gut aus; aber Ausstattung und Kamera tragen auch nicht über zwei Stunden.

Harald Mühlbeyer