MOP 2011: Tiger und Phantome



Zum 32. Filmfestival Max Ophüls Preis 2011

Blau und weiß prangt er, der Tiger, in Großaufnahme. Aber nicht in Bayern sind wir – Tiger, nicht Löwe! –, sondern in Saarbrücken, und die adrette Raubkatze schaut einen so lauernd-souverän vom offiziellen Plakat des 32. Filmfestival Max Ophüls Preis 2011 (17.-23. Januar) an. Kein ausgefallenes blaues Herz steht als Motiv im Zentrum dieses Jahr (oder, wenn man will, kann man eines in der Nase des Tigers erkennen), dafür also kraftstrotzende Energie, Wildheit. Roarrr…

So kommt auch das Festival daher, der MOP, beworben überall in Saarbrücken, groß im Format. Man ertappt sich dabei, zwischen all den ganzen Festival-Kinoplakaten, die an den Wänden im Cinestar kleben, immer wieder beim Tiger zu landen und zu denken: Cool, den Streifen will ich sehen!



Dass mit dem Streifen-Sehen war das jenseits der des Tigers jedenfalls nicht so einfach – zumindest zum Auftakt am Montag und Dienstag. Viele der Filme waren schon vorab ausgebucht, was den Berichterstatter vor einige Probleme stellte, musste doch ad hoc an der Kinokasse der ausgefeilte Stundenplan umgetüfftelt und neu disponiert werde. Dafür sind die Kinokartenausdrucke, die es dann gibt, RIESIG im Format; Penner können sich auf winterlichen Parkbänken damit zudecken. Jedenfalls fast. Kleine Penner.

Das mit den Karten erübrigte sich allerdings schnell. Z.B.: Eine Vorstellung für Mittwochabend sei ausgebucht, hieß es noch am Dienstag. Am Mittwoch früh noch mal nachgefragt, gab es plötzlich eine. Dafür war das Kino abends überbucht. Egal, Tiger sind für Eleganz und Kraft bekannt und nicht für den Termitenhausbau.

Zum Auftakt der Veranstaltung am Montag: Die obligatorischen einleitenden Worte, darunter auch der polternde saarländische Ministerpräsident Peter Müller. Schon hier trat man souverän breitschultrig auf. Lässig in der Präsenz. Muskulös. Die Hauptjury ist dieses Jahr besonders namenhaft besetzt. Sechs Leute, neben dem letztjährigen MOP-Gewinner Maximilian Erlenwein (SCHWERKRAFT), Daniel Levy, Kameramann Benedict Neuenfels gibt es darin gleich drei Schauspieler: Helo von Stetten, Gottfried John und – ohne hübsche junge Dame geht’s eben nicht: – Cosma Shiva Hagen. Wird also dieses Jahr die Darstellerkunst den Ausschlag für die Wahl zum besten Kurz-, Mittel und Langfilm-MOP geben? Schauen wir mal. Nicht unklug jedenfalls der Gedanke, den SR-Moderator Oliver Hottong während des feierlichen Auftakts der Jury mit auf den Weg gab: Nachdem Gottfried John auf die Frage nach seiner Erfahrung mit Rainer Werner Fassbinder eloquent nicht geantwortet hatte, gab Hottong zu bedenken, ob die Jury den jungen RWF, wäre er heutzutage unter den Newcomern in Saarbrücken, als den großen Autoren des deutschen Films erkennen würden.

Der Eröffnungsfilm war ein Dokumentarfilm, ein außergewöhnlicher und empfehlenswerter: BAD BOY KUMMER (CH 2010) von Miklós Gimes handelt von dem Hollywood-Starjournalisten Tom Kummer, der in der Schweiz und in Deutschland mit spektakulären Interviews von Sharon Stone und Sean Penn bis Mike Tyson für Aufregung sorgte. Noch nie hatten die Idole sich einem Reporter geöffnet, noch ein Schreiber ihre Tiefe aufgezeigt und ausgelotet. Das Problem: die privaten Seelenblicke und Innenschauen waren samt und sonders erfunden. Gimes war selbst als Redakteur von Kummer geschädigt, und sein Film ist eine kritische Auseinandersetzung mit dem erratischen Charakter dieses Halunken, den Gimes auch in eigener Sache nicht schont, der Gimes aber auch – wie dem Zuschauer – letztlich doch ein tragisch-faszinierendes Rätsel bleibt. In Los Angeles hat Gimes den Fälscher und Ex-„Tempo“-Autor besucht, der dort mit seiner Familie lebt und sein Geld als Paddle-Tennis-Coach verdient. In der Schweiz und in Deutschland begleitet er ihn, bringt ihn mit alten Weggefährten und Opfern seiner Fabulierkunst zusammen. Große Namen von diversen führenden Blättern bekommt man dabei zu sehen (nur nicht die ehemaligen Chefs des SZ-Magazins, verständlich).

Kummer changiert, schillernd, man bekommt ihn nicht zu packen, weil: er sich selbst offenbar nicht. Klar, er hat Scheiße gebaut, aber: Man musste doch wissen, dass das nicht hat echt sein können. Weder steht er zu seinen Münchhausen-Stücken, noch entschuldigt er sich für sie. Gimes rekonstruiert die Vergangenheit eines sensiblen, merkwürdig unsicheren Menschen, eines Künstlers und nun manischen Sportlers, der joggen geht, um sich nicht mit sich selbst auseinanderzusetzen zu müssen oder aber mit dem, was er auch sich selbst erdichtet hat. Ein Oberflächenphänomen, für das die Künstlichkeitsmetropole LA Heimat und Verdammnis in einem ist, Irrealopolis.



Im Film wie im Gespräch danach vertritt Gimes einen seltenen und respektablen sachlichen Journalisten-Ethos: Dass es keinen Unterschied mache, ob die Interviews mit den artifiziellen Figuren, die die Namen der großen Schauspieler und sonstigen Berühmtheiten tragen, erfunden seien – weil ja auch Stone & Co. nicht echt seien, weil die Interviews irgendwie „wahrhaftiger“ wären... Mit sowas kann man ihm nicht kommen, derlei postmodernes oder ‑strukturalistisches Gedankengut ist im fremd. Gimes zieht eine klare Linie zwischen subjektivem Journalismus, Gonzo-Schreibe und dem kompletten Erfinden von Begebenheiten. Kummer zum frechen Künstler hochzustilisieren, ist ihm ebenso falsch, wie den großen Jungen mit den hageren markanten Zügen als kalkulierten Betrüger abzustempeln.

So ist BAD BOY KUMMER ein selten faszinierendes Porträt, das doch keins ist oder nur eines, bei dem sich die Einzelteile, die durchaus zusammengehören, doch nicht zu einem Ganzen fügen. Jenseits von falschen Starinterviews, der Beziehung zwischen Kummer, den Redakteuren, den Stars und dem Publikum, blickt der sachliche Gimes wie durch Zufall auf ein verblüffend fundamentales Thema, über das sich Max Frisch einen Nobelpreis erschrieben hat: Wie man sich selbst die Welt und das eigene Ich darin zur Geschichte erzählt, bereitwillig etwas vorgaukelt und darüber nichts Lüge, aber alles eben auch nur Spiel bleiben muss. Anders gesagt: Was Kummer getrieben hat, kann man nicht sagen, schlicht weil dafür nicht die richtigen Worte und Kategorien zur Hand sind, die ihn und sein tun hinreichend beschreiben würde. BAD BOY KUMMER ist ein großartiger Dokumentarfilm, weil es zeigt, wie er selbst in seiner Suche und Analyse immer nur ein Bruchstück Wahrheit herausbekommt.

Ein anderer Film, ein anderer faszinierend-schillernder unauflösbarer Charakter – wobei man die Faszination nur relativiert, in Anführungszeichen oder hinter vorgehaltener Hand zugeben mag: ANDREAS BAADER – DAS LEBEN EINES STAATSFEINDES heißt der Film von Klaus Stern und erzählt – der Titel lässt’s erahnen – vom Chef der „Roten Armee Fraktion“ (RAF) oder der „Baader-Meinhof-Bande“. In sechzig Minuten versucht Stern Baader zu porträtieren, den Egomanen und Narzissten, der als Kind so ruhig und verträumt war, dem die harte Hand des Vaters fehlte, wie es in einem Schulzeugnis heißt, der in München und Berlin den Macher gibt, der auf Action aus ist, zum Radikalen wird, ein Outlaw wie im / aus / für das Kino. Stern bekommt Baaders ehemalige Lebensgefährtin vor die Kamera, die sich bislang geweigert hat, auch den Stammheim-Richter Prinzing, der Baader im Rückblick Respekt zollt, auf seine Art, gar nicht bös gemeint: das Zeug für einen ordentlichen Wehrmachtsoffizier hätte er gehabt, der Baader.



Freilich, bei allen Kinderfotos von Baader und Erinnerungen von Weg- und Lebensgefährten bleibt Sterns Verwunderung, dass es soviele Filme und Biografien zur RAF und ihrer Zeit gäbe, bislang aber keine – auch nicht als Buch – nur mit Baader allein insofern mit einem Achselzucken zu beantworten, als der „Gegenstand“ oder „Stoff“ von ANDREAS BAADER – DAS LEBEN EINES STAATSFEINDES nicht politisch und sozial so brisant ist, sondern dass Stern selbst letztlich nicht mehr und nichts anderes von und zu Baader erzählen kann, als es die vielen RAF-Spiel- und -Dokufilme schon getan haben. Die Muster der Erklärungs- oder zumindest Begründungssuche sind auch hier die immergleichen, greifen auf die typischen Schemata zurück. War es die Psychologie? War es die Aufbruchsstimmung der Zeit, die individuelle Thrill-Suche? Tatsächlich der (post-) faschistische deutsche Staat? Statt der Anti-Schah-Demo samt ihrer brutalen Sprengung durch die Polizei sind es hier eben die eher apolitischen Schwabinger Krawalle in München, bei denen Baader die Brutalität der Ordnungshüter abstieß.

So bleibt letztlich auch Stern also nichts anderes übrig, als die Black Box Baader staunend in den Händen zu drehen und von vielen Seiten zu betrachten. Was vielleicht ehrlicher ist und das einzige, was man halt mit diesem – schließlich nicht repräsentativen, fast ikonischen – Gesellen einer arg bewegten und blutigen Zeit machen kann.


Bernd Zywietz