BERLINALE 2011 – Entschlackendes Kino


Dass Kino die Seele ergötzt, den Geist bereichert und das Auge schult war klar. Nun ist aber auch gesichert: Filmschauen macht (oder hält) schlank. Der schlagende Beweis: Bevor der werte Rezensent und Verfasser dieser wohlig verspielten Zeilen letzte Woche in den Berlinale-Trubel hineintaumelte, wog er noch ein Kilo weniger. Da nun in der Zwischenzeit in Sachen Sport nichts ging, eher durch ungesunde Nahrung und auch nicht gerade taillenschonende Alkoholika der Wanstausweitung zugearbeitet wurde, belegt die heutige Gewichtsmessung nach der dann doch für Rücken und Kreislauf notwendigen Ertüchtigung (auch, ja auch gerade zu Filmfestivalzeiten - da mag der Co-Redakteur Mühlbeyer noch so höhnen und lästern tut das gut und Not): Ein Kinomarathon verbrennt Kalorien! Im Sitzen und durch die Augen. Schön, vielleicht nur auf der Berlinale, wer weiß. Aber weit wichtiger ist die Frage: Wie geht das denn, physikalisch und so?

Na klar, rufen nach kurzer Denkpause alle und klatschen sich mit flacher Hand an die Stirn: Die Spiegelneuronen sind’s! Dank diesen vollziehen wir unbewusst und im Kleinen, aber effizienten Maße die Muskeln nach, was wir sehen. Weshalb Ihr Screenshot-Korrespondent in der Hauptstadt gestern quasi mitgetanzt hat mit Pina Bausches Ensemble in der Vorstellung von Wenders 3D-Wunderwerk. Oder sich heute ins Schlachtengetümmel gestürzt hat, mit Ralph Fiennes und Gerald Buttler.

Womit feinst ziselierte ein Übergang gezaubert ist zu: CORIOLANUS.



Die Shakespeare-Adaption ist Fiennes Regiedebüt, für das er vor und hinter der Kamera eindrucksvolle Namen versammelt hat. Fiennes selbst spielt die Hauptrolle des römischen Staatssoldaten Caius Martius – nach seinem Sieg über die entsprechende Stadt "Coriolanus" geheißen –, der für Krieg und Ehre lebt, zugleich sein Volk verachtet. Gerald Butler gibt den gleich ehrwürdigen Gegenspieler Aufidius vom feindlichen Volk der Volsker (ja, ich kann doch auch nix für diese Asterix-Namen!). Vanessa Redgrave spielt (wie stets und unheimlich dreidimensional, auch ohne Shutter-Brille) Coriolanus Mutter. Weiterhin geben ein Stelldichein: James Nesbitt, Brian Cox, Jessica Chastain, Ashraf Barhom, Lubna Azabal (die letzten Beiden: PARADISE NOW, THE KINDGOM)... Das Drehbuch stammt von GLADIATOR-, ANY GIVEN SUNDAY- und AVIATOR-Autor John Logan, die Kamera verantwortete HURT LOCKER- und GREEN ZONE-DP Barry Ackroyd. Und gerade dass ist genial - nein, nicht, dass wir so fancy Filmfachkürzel wie „DP“ (Director of Photography) hier lässig einstreuen, sondern: Dass Ackroyd und Fiennes das Drama der englischen Bühnengroßmeisters nicht im vierten Jahrhundert vor Christi in Rom ansiedeln, sondern in der Jetzt-Zeit, mit allem Drum und Dran und gefilmt wie ein modernes Polit- und Kriegsdrama. Moderne Anzüge tragen die Senatoren; die rebellischen Plebejer, die Brot fordern, sind Analogie zu Untergrund- oder Antiglobalisierungsgruppen; Zusammenfassungen erfolgen auf einem Nachrichtenkanal und das politische entscheidungsreiche Streitgespräch, mit dem sich der Coriolanus unwohl, widerwillig und hilflos aus der Meinungsmorast ziehen will, in einer Talkshow. Auf der anderen Seite ist Krise, Krieg und Kampf in Kulisse, Stil und Ausstattung eine Mischung aus Balkan-, Irak- und Nordirlandkonflikt (gedreht wurde in Serbien). Und gerade wenn der Titelantiheld breitbeinig in Olivgrün auf einem Stuhl hockt, gemahnt Fiennes erschreckend an einen Balkan-Warlord, zu jeder Grausamkeit bereit. So erfährt das elisabethanische Theater mehr grausame Realität, als sie vielleicht tragen wollte - warum sonst schon damals der Sprung in die ferne Vergangenheit, das zeitlich-fiktionalisierende des Gegenstands?



Aber warum geht es? Tatsächlich ist Coriolanus ein eher unbekannteres Herrschafts- und Königsstück Shakespeares. Während einer Hungersnot führt der stolze, unbeugsame Caius Martius nach innen im Namen des Senats ein strenges Regiment, stoppt einen Sturm des Volkes auf die „Kornkammer“ – und verdient sich praktisch im Alleingang seine Sporen gegen die Volkser mit ihrem Anführer Aufidius, Caius Bruder im Geiste. Nach dem Zurückschlagen des Feindesheeres soll Caius Coriolanus in die Politik, befeuert von seiner Mutter, der Ehre und Ruhm ihres Sohnes mehr gilt als sein Leben. Doch Politik und ihre alltäglichen Ränke und Verstellungen sind Coriolanus' Sache nicht; seine Abscheu vor dem römischen wankelmütigen Volk will und kann er nicht verbergen – eine Anti-Politiker schlechthin, Wunsch- und Kopfgeburt für die heutige Zeit. Missgünstige Senatoren, die ihre Pfründe bedroht sehen, Intrigieren gegen ihn stacheln das Volk auf – bis schließlich Coriolanus, dem man (zurecht?) Tyrannen-Aspirationen zuspricht, verbannt wird. Verstoßen wandert er durch die Lande – und schließt sich schließlich seinem ehemaligen Erzfeind an, um gemeinsam gegen Rom zu ziehen…

Eine besondere Energie prägt die Verfilmung CORIOLANUS mit seiner Verquickung aus Alt und Neu, Ästhetik und Stoff, und vielleicht sollt man viel mehr von Shakespeare ins Gewand von modernen Genre- und sonstigen Darstellungsstandards packen, um zu zeigen, wie packend und zeitlos der Stoff ist - wie oft es aber auch eines bestimmten Updates braucht, um die Schwere tragbar und allgemeingültigen Fragen, die die Dramen des vielleicht berühmtesten Bühnendichters der Menschheit nach Willy Millowitsch auszeichnen, frisch und erkennbar zu halten. Fiennes selbst gab in der erschreckend uninspirierten Pressekonferenz im Hyatt an, dass ihn Baz Luhrmanns ROMEO + JULIET ihn in Sachen Aktualisierung angeregt habe.

Modern die Waffen, gefleckt die Uniformen. Ackroyd zeigt, wie man vernünftig und zielgenau mit einer Handkamera umgeht, wobei die traditionellen Dialoge Shakespeares immerzu beibehalten werden und so ungemein packend dem alten Tragödienstoff eine neue, auch ganz taktile, affektive, rohe körperliche Erscheinungsform verpasst wird, mit der man von Englischlehrer im Unterricht sich auch und gerade als Bub gerne malträtieren lässt. Die große „Straßenschlacht“ gemahnt in ihrer Physikalität an BLACK HAWK DOWN, wuchtige Schüsse und Explosionen, Blut und Homo- und Schreckerotik, vor allem im dumpf, düster und brütend Zweikampf der beiden unbedingten Heroen. Doch zwei Problemen machen dem Film zu schaffen und lassen ihn zum Ende hin auslaufen, ausdünnen: Die Scharmützel am (relativen) Anfang bleibt einziger Gewalthöhepunkt, der Rest Ehren-, Figuren- und Politologiedrama ohne äquivalentes kinetisches und körperliches Potential. Mag man Shakespeare auch Ehre tun: Der Zuschauer von heute fühlt sich final um eine martialische Schlachtenplatte, die Rache an und in Rom, betrogen - da weiß Irrwisch Lars von Trier, allen Ethos hinwerfend, sein Finale in DOGVILLE schlicht treffender, befriedigender, ja, in seinem Ingrimm fast "shakespear’scher" zu gestalten.



Der zweite Punkt ist die historische Zeitgemäßheit des Stückes. Sicherlich ist Coriolanus als Figur und didaktisches Prinzip ein Faszinosum sondergleichen (eines, das Fiennes nach eigenem Bekunden nach der Theateraufführung nicht mehr losließ). Doch zum einen ist er als solcher und – zusammen mit seiner „faschoiden“ Mutter – eher Gedankenkonstrukt als Charakter. Zum anderen durchweht den Film qua Vorlage eine gestrige Einstellung – gar: Logik – die just in diesen Tagen, da die Kinoadaption auf der Berlinale gezeigt wird, so ganz gegen die aktuelle Weltanschauung und das politische Zeitwissen gestrickt scheint: Angesichts der Proteste, Aufstände, Revolten und Umstürze vor allem in Tunesien und Ägypten gegen Auto- und Kleptokraten ist das Bild, das CORIOLANUS von „Plebs“ als williger, unzurechnungsfähiger Verfügungsmasse für windige Ränkeschmiede und undankbar gegenüber ihren Kriegshelden (die es in die Politik verschlägt; und was sie als Unwillige dort zu suchen haben, kommt in CORIOLANUS eben nicht zur Sprache) zeichnet, ebenso eine Schattenmalerei wie Shakespeares unfaires, diffamierendes Stück Der Kaufmann von Venedig. Sicher, Militär und politische Macht sind gerade im Nahen Osten (wieder) ein Thema, aber eben mit mehr Realismus, mit besseren und zugleich weniger falschen Vorstellungen was Demokratie ist und sein kann.

Die hehren Worte, selbstgerechten und -gefälligen Phrasen und überkommenen Werte in Sachen Vaterland, Stolz, Ehre und Heldentum sind schlicht und gottlob so „out“, dass das erzählerische Update von CORIOLANUS den ganzen ideologischen, verblendenden Plunder umso mehr dysfunktionaler erscheinen lässt. So funktioniert der Film gerade in seinem neuen Gewand immer nur als kritische Analyse oder aber Drama, selten aber zusammen, und wenn der tote Coriolanus zuletzt auf eine LKW-Ladefläche geworfen wird, ist das – gewollt oder nicht – beredtes Sinnbild für sich: auf den Müllberg der Geschichte mit ihm; runter mit den Pfunden des durchgereichten fadenscheinigen Pathos. In diesem Sinne ist Fiennes handwerklich und darstellerisch beeindruckendes Kino-Stück gerade in seinem (weltanschaulichen) Scheitern lehrreicher und aufklärerischer, als es viele Gutmenschenfilme mit ihrem wohlfeilen So-müsste-es-sein gerne sein möchten.

Bernd Zywietz