24 x Wahrheit in der Sekunde? – Das 27. Mannheimer Filmsymposium

12. bis 14. Oktober 2012, Cinema Quadrat, Mannheim

 

Gegen Ende des Symposiums, am Sonntag, liefen Vorträge und Diskussionen etwas aus dem Ruder. Ivo Ritzer, Filmwissenschaftler aus Mainz, referierte über den Kriegsfilm, über Schockwirkungen, über die Affekte, die die Leinwandbilder auf das Publikum im Zuschauerraum ausüben, und wie dadurch der Körper des Rezipienten das Geschehen im Film beglaubigt. Und Gerhard Bliersbach, film- wie psychoanalytisch gebildet, betrachtete die Imagines, die sich der Film von Hitler macht. In der anschließenden Diskussion ging es um Fragen der Genrekonventionen des Kriegsfilms und um „richtige“ und „falsche“ Holocaustbilder – und Vorträge wie Debatte waren ein ganzes Stück weg vom eigentlichen Thema dieses Wochenendes. Das Filmemachen zwischen Dokumentation und Fiktion sollte verhandelt werden, die Frage nach 24x Wahrheit in der Sekunde wurde gestellt, wie immer beim Mannheimer Symposium in fruchtbarem Miteinander von Praxis und Theorie, im Wechsel von Werkstattberichten Filmschaffender und Referaten von Filmwissenschaftlern, unter reger Beteiligung des Symposium-Publikums.

Dass dieses – im Gegensatz zum letzten Jahr – nicht überwältigend groß war, ist wohl dem Thema geschuldet: Fakt und Fiktion, Spiel- und Dokumentarfilm und all die Schattierungen und Implikationen des Wahrheitsbegriffs – das ist vielleicht nicht griffig genug, um mehr als 40 Interessierte anzulocken. Und gerade weil das Thema so ein großes Fass anzapfte, gingen vielleicht die letzten Vorträge weg von der Frage fiktionalisierender Dokus und dokumentarischer Spielfilme, und es eröffnete sich ein ganz neuer Schwerpunkt: Die Frage, wie Spielfilm mit Zeitgeschichte umgeht.

Das ist eigentlich etwas Wunderbares: Wie in einem Symposium sich das Thema wandelt, wie es mäandernd hinfließt, und wie dann neue, unvorhergesehene Aspekte auftauchen. Aus dem fruchtbaren Miteinander von Referenten und Publikum, von Vorträgen, Filmbeispielen und Berichten aus der Praxis entsteht so ein gewinnbringendes, gemeinsames Nachdenken über Film und über Wirklichkeit. Zumal ein abschließend-endgültiges Fazit natürlich von vornherein nicht vorgesehen sein kann (sonst könnte man die Filmwissenschaft einpacken); und ein strengerer Ablauf würde allzustark in eine Lenkung der Diskurse münden, die nicht zielführend sein kann.

Die dokumentarische Haltung und die Fiktion, die Darstellung von Tatsachen und das Filmen von Wirklichkeit standen im Mittelpunkt. Beispielsweise „Die Schlacht um Algier“ (1965, Gillo Pontecorvo): Die Anfänge der algerischen Unabhängigkeit durch terroristische Akte gegen Franzosen in Algier ab Mitte der 1950er, in einer Inszenierungsweise, die durch „dokumentaristische“ Strategien wie Handkamera, natürliches Licht, Laiendarsteller unmittelbare Echtheit behauptet – Mittel also, die heute inflationär gebraucht werden, vor fast 50 Jahren aber, als der Gegenstand des Films noch aktuelles Nachrichtengeschehen war, auf den Zuschauer direkt und buchstäblich fesselnd gewirkt haben. „Parteiische Neutralität“ attestiert Midding dem Film, der zwar von der algerischen Revolutionspartei produziert wurde, also direktes Propagandamittel war, der aber andererseits algerische Gräueltaten nicht ausschließt, und die Franzosen durchaus differenziert darstellt. Und der sowohl von terroristischen Untergrundakteuren wie auch vom Post-9/11-Pentagon als Anschauungsmaterial und Lehrfilm benutzt wurde.
Wie Fiktion durch Manipulationen des Filmmaterials „authentisch“ wirkt, stellte Marcus Stiglegger vor: Von der nachträglichen künstlichen Alterung von (digital!) gedrehtem Material in Robert Rodriguez’ „Planet Terror“, die dem Film spielerisch den Look abgenudelten Zelluloids verleihen sollte, bis zu den typischen Ikonographien des Holocaust mit Farbentsättigung und Streicherklängen, mit Wolken und Schlamm: Das wirkt „echt“ und ist es natürlich ganz und gar nicht.

Auf der anderen Seite der Dokumentarfilm: Etwa das unkonventionelle Firmenporträt „Ora et labora – Das Unternehmen Pöppelmann“ von Anna Ditges, die einen mittelständischen Betrieb zeigt, der Blumentöpfe und Pustefix herstellt und durch und durch katholisch geprägt ist. Die Firmenleitung, die Mitarbeiter: Alle sind fromm, und langsam, unmerklich fast, tastet sich Ditges an ein großes Geheimnis heran, an ein Tabu, an Das-worüber-man-nicht-spricht, an den Tod des Firmengründers, der eigentlich eine große geistliche Krise hervorrufen würde, würde er nicht verdrängt. Wirkt das einstündige Werk zunächst so, als wüsste es nicht, was es erzählen wolle, erschließt sich im Nachhinein das Kreisen um diesen einen wunden Punkt. Im anschließenden Werkstattgespräch berichtete Ditges bedauernd, dass es tatsächlich zum Konflikt mit dem Familienunternehmen kam – und auch innerhalb der Familie des Unternehmens –, und dass deshalb der Film auch in seinem „Stammland“, im Firmensitz in Lohne, Niedersachsen, eigentlich nicht richtig veröffentlicht ist.
Das stellt die Frage nach der Integrität des Filmemachers – zeigt er das, was er will, oder das, was der Auftraggeber/Filmpartner von ihm erwartet? Und es stellt die Frage nach der Ethik des Filmemachers: Wieweit darf/kann/soll man einen Protagonisten bloßstellen?

Zu letzterem hatte Thomas Frickel einiges zu sagen: Er macht Dokumentarfilme, die Satiren sind, zuletzt etwa „Die Mondverschwörung“, in dem all die absurden Esoteriker und abstrusen Paranoiker vorgestellt werden, die von normalen Spinnern bis zu rechtsradikalen Wirrköpfen reichen. Er lässt dabei seinen (inszenierten) Reporter Dennis R. D. Mascarenas, einen Amerikaner, auf die Deutschen los, um zu sehen, wie die so ticken – ist das noch dokumentarisch? Macht er sich über seine Protagonisten lustig? Ist das nicht alles übertrieben? Frickel erklärte dazu ein Beispiel aus dem schulischen Physikunterricht: Wenn man in eine gesättigte Flüssigkeit einen Faden hängt, bilden sich an diesem Kristalle. Was unsichtbar war, kristallisiert sich an einem Fremdkörper heraus – so auch latente Tendenzen der Wirklichkeit, wenn ein Stück Fiktion sich hineindrängt.

Schade, dass keine Frickel-Produktion als Filmbeispiel das Symposium begleitete. Nach seinem Vortrag, garniert mit einigen Ausschnitten aus seinem Werk, ergab sich aber eine ganz eigene Wahrheit, im Zusammenspiel mit der anschließenden Doku über die Pöppelmann-Firma. Eine Wahrheit, die ein Film alleine gar nicht erreichen könnte, die sich aus dem Crossover, aus der Stimmungsmischung der geballten Film- und Diskursdichte auf einem Symposium ergibt, wenn die Stimmung und das Nachdenken über den einen Vortrag auf den nächsten Film überschwappt. Wie in „Ora et labora“ eine betuliche Dame ehrfuchtsvoll das Büro der kurz zuvor verstorbenen Chefin vorzeigt, den Schreibtischstuhl, das Fenster, durch das sie immer geblickt hat, die Heilmittelchen aus „Gottes Hausapotheke“ oder der Nagel an der Wand, an dem ihr Lieblingskruzifix hing - - - oder wie die Tochter der Firmengründer am Esstisch sitzt, unter einem Sinnspruch: „Gott schuf die Zeit, von Eile hat er nicht’s gesagt“ (sic!; denn Gott schuf die Schrift, von Orthographie hat er nichts gesagt) und dann die Zeit aufschlägt: Dann überfällt einen von der Leinwand her die Absurdität, die Frickel in seinen Filmen herauskitzelt, ein ganz Fremdes da oben auf der Leinwand, das doch ganz normal ist.



Harald Mühlbeyer